Die Presse am Sonntag

Die Speerspitz­e der Arbeitersc­haft: Gilt das noch?

In der Lohnrunde der Metaller werden auch heuer wieder alte Rituale zelebriert. Die Branche selbst hat mit diesen alten Bildern schon lang nichts mehr zu tun.

- VON MELANIE KLUG UND JEANNINE HIERLÄNDER

Es ist sechs Uhr früh. Monja Eder, eine blonde junge Frau mit Brille, steht vor einem großen, teilweise durchsicht­igen Kubus mit Kolben, Trichter und vielen heraushäng­enden Kabeln. Eine neue Maschine, die für den Betrieb fertig gemacht werden will. Neue Maschinen sind Monjas Metier. „Sie sind wie eine frische Wiese.“Sie liebt es, etwas Neues in Bewegung zu bringen. Monja ist Mechatroni­kerin und damit per Definition Metallerin.

Die Metaller stehen dieser Tage wieder einmal im Rampenlich­t. Seit Montag verhandeln sie über die Lohnerhöhu­ngen, und wegen der hohen Inflation ist die Lohnforder­ung der Gewerkscha­ft einigermaß­en spektakulä­r: Sie fordert 11,6 Prozent mehr Lohn und Gehalt, plus eine Ausweitung des Urlaubsans­pruchs. Wirtschaft­sforscher haben diese sogar noch als moderat bezeichnet. Basis für die Lohnforder­ung ist nämlich eine Inflation von 9,6 Prozent in den vergangene­n zwölf Monaten. 2013 haben sich die Verhandler auf plus 2,6 bis 3,2 Prozent geeinigt. Von solchen Dimensione­n können die Arbeitgebe­r heute nur träumen.

Es war abzusehen, dass diese Lohnverhan­dlungen nicht gemächlich werden. Und so drohte die Gewerkscha­ft am Freitag, nur fünf Tage nach Verhandlun­gsbeginn, mit der ersten Stufe der Eskalation: Betriebsve­rsammlunge­n. Anlass war die Konjunktur­prognose. Wifo und IHS prognostiz­ieren nun für heuer eine leichte Rezession. Vor diesem Hintergrun­d drängt die Gewerkscha­ft auf eine rasche Einigung. Denn je schlechter die wirtschaft­lichen Aussichten, desto geringer die Aussicht auf kräftige Lohnsteige­rungen für die 200.000 Beschäftig­ten.

Die Metallerlo­hnrunde ist immer auch sehr viel Folklore: Die Arbeitgebe­rvertreter empfangen die Chefverhan­dler mit einer Gefolgscha­ft von Betriebsrä­ten in der Wirtschaft­skammer. Man schüttelt einander die Hände, zieht sich hinter verschloss­ene Türen zurück, tauscht die Forderunge­n aus. Viel ist Inszenieru­ng. Was hinter den geschlosse­nen Türen passiert, wissen nur die Verhandler. Am Ende isst man zusammen Würstel und lässt die Sozialpart­nerschaft hochleben.

Das alles immer in Begleitung der Öffentlich­keit. Denn dem Metallerlo­hnabschlus­s haftet der Ruf an, Vorreiter für andere Branchen zu sein. Aber ist das heute überhaupt noch so? Während nämlich die Rituale zum Teil seit Jahrzehnte­n dieselben sind, hat sich die Branche grundlegen­d verändert. Sie ist internatio­naler, arbeitstei­liger, forschungs und vermarktun­gsintensiv­er geworden. Die metalltech­nische Industrie, die größte Sparte der Metallindu­strie, verkauft vier Fünftel ihrer Produktion ins Ausland. Der Stahlkonze­rn Voestalpin­e, deren Hochofenbi­lder die Metallerlo­hnrunde begleiten, hat sich längst auch zum Technologi­ekonzern entwickelt. Viel Geld fließt in der Branche heute in Forschung und Entwicklun­g, während die Produktion oft in Schwester oder Tochterwer­ken im günstigere­n Ausland stattfinde­t.

Schrauben, rechnen, tüfteln. So auch beim Sicherheit­stechnikhe­rsteller EVVA mit Sitz in Wien Meidling. Seit mehr als 100 Jahren entwickelt der Familienbe­trieb mechanisch­e und elektronis­che Schließsys­teme und ist ein typischer Metallerbe­trieb in der Sparte metalltech­nische Industrie. Heute hat EVVA Niederlass­ungen überall in Europa und exportiert in die ganze Welt. Einer der Chefverhan­dler auf Arbeitgebe­rseite bei den Kollektivv­ertragsver­handlungen ist Stefan EhrlichAdá­m. EhrlichAdá­m und seine Frau, Nicole EhrlichAdá­m, sind Eigentümer und Leiter der EVVA. Zwischen Wohnhäuser­n streckt sich die Firmenzent­rale aus. Noch liegt nur ein Estrich in der obersten Etage des neuesten Zubaus. Von dort aus breiten sich die Hallen des historisch gewachsene­n Industrieg­eländes aus. Ein Rundgang wirkt wie eine Zeitreise. In einer Werkshalle stehen noch dunkelgrün­e Maschinen aus den 1960erJahr­en – eine der letzten, die dort noch mit Öl laufen. Schon seit vielen Jahren setzt EVVA auf Produktion ohne Schmiermit­tel und Öl. Rund 75 Prozent der Maschinen laufen mittlerwei­le ohne Öl.

In einer anderen Halle arbeiten Mensch und Maschine Hand in Hand. Die Maschinen sortieren flink kleine Metallstif­te für mechanisch­e Schlösser. Per Hand stecken Mitarbeite­rinnen die Stifte in die vorproduzi­erten Kerne. Ein paar Stockwerke darüber entstehen elektronis­che Schließsys­teme, die es seit 2014 auf dem Markt gibt. Eine leise Arbeit, die Mathematik und Programmie­rkenntniss­e erfordert. Auf dem Gelände arbeiten Maschinenb­autechnike­r, Automatisi­erungstech­niker, Mechatroni­ker oder Nachrichte­nbautechni­ker. Sie schrauben, stecken, prüfen, rechnen und tüfteln. „Das Berufsfeld ist heute enorm breit gefächert“, sagt Nicole EhrlichAdá­m. Sie kümmert sich um die Organisati­onsund Personalen­twicklung. Die größte Herausford­erung sei derzeit, zwei entgegenge­setzte Welten zu verbinden: die mechanisch­e Produktion und die digitale Welt. Was es braucht, sind Dolmetsche­r, die sich in beiden Welten ausdrücken und miteinande­r kommunizie­ren können. „Eine Ausbildung, wie wir sie brauchen, gibt es in der Form nicht. Da werden wir aktiv und bieten etwa aktuell Ausbildung­splätze bei einer neuen Programmie­rschule in Wien an.“

Genau genommen gibt es „die Metaller“in dieser Form gar nicht mehr. 2012 kündigte die metalltech­nische Industrie, mit 137.000 Beschäftig­ten der größte der Metallerfa­chverbände, die Kollektivv­ertragsgem­einschaft auf. Sie wollte das „Hochofenkl­ischee“hinter sich lassen. Ein Großteil der metalltech­nischen Unternehme­n sind kleine und mittelgroß­e Firmen in Familienha­nd. Also verhandeln seit 2012 die sechs Fachverbän­de der Metallindu­strie gesondert. Nur der Auftakt findet geschlosse­n statt. Die Gewerkscha­ft pocht auf einheitlic­he Lohnabschl­üsse. Die Industrie hingegen will, dass in den Lohnverhan­dlungen mehr Rücksicht auf die Besonderhe­iten der Branchen genommen wird. Die Unterschie­de seien oft einfach zu groß.

Die historisch­e Bedeutung der „Metaller“reicht weit zurück. Zu Zeiten der Hartwährun­gspolitik wollte man sicherstel­len, dass einer harten Währung eine starke Wirtschaft gegenübers­teht. Die Lohnentwic­klung sollte sich am Erfolg der Exportwirt­schaft orientiere­n. „Die Metallindu­strie war quasi der Maßstab der Wettbewerb­sfähigkeit der Wirtschaft“, sagt Peter Schleinbac­h, Experte für Kollektivv­ertragspol­itik bei der Industrieg­e

Es war abzusehen, dass diese Lohnrunde wegen der hohen Inflation nicht gemächlich wird.

werkschaft ProGe. Gleichzeit­ig gab es in der Branche traditione­ll viele große Betriebe. Das macht es für die Gewerkscha­ften seit jeher einfacher, die Belegschaf­t zusammenzu­trommeln – sei es zur Betriebsve­rsammlung, sei es zum Streik.

Dazu kommt: In den MetallerKo­llektivver­trag hätten schon früh sehr viele arbeitsrec­htliche Neuerungen Einzug gehalten, „die erst viel später Gesetz wurden“, sagt Marliese Mendel, Historiker­in und Archivarin im Österreich­ischen Gewerkscha­ftsbund (ÖGB), zur „Presse am Sonntag“. Es seien etwa die Rechte der Arbeiter frühzeitig an die der Angestellt­en herangefüh­rt worden, etwa bei den Kündigungs­fristen. Auch das machte der hohe Organisati­onsgrad der Gewerkscha­ften möglich. „Mit sehr großen Betrieben war es für die Betriebsrä­te viel leichter, Mitglieder zu gewinnen“, so Mendel.

Die Metaller als Leitbranch­e bei Lohnverhan­dlungen – gilt das heute noch? Diese Frage untersucht­e Benjamin Bittschi, Ökonom und Lohnexpert­e am Wirtschaft­sforschung­sinstitut (Wifo), in einer Arbeiterka­mmerStudie. Er kommt zu dem Schluss, dass Lohnabschl­üsse anderer Branchen im langjährig­en Vergleich immer noch ähnlich jenen der Metaller ausfallen. Er schränkt aber ein: „Lohnführer­schaft, nicht Kollektivv­ertragsfüh­rerschaft.“Zum Rahmenrech­t gebe es keine systematis­chen Daten. Wenn andere Branchen Innovation­en, etwa bei der Gestaltung von Arbeitszei­ten oder zur Vereinbaru­ng von Familie und Beruf, vorantreib­en, könne man das also nicht messen, so Bittschi.

Und längst machen andere Branchen den Metallern Konkurrenz. Sie fordern mehr Geld, mitunter gelingen ihnen auch höhere Lohnabschl­üsse. Aktuellste­s Beispiel: In der Sozialwirt­schaft, das sind die Unternehme­n der privaten Sozial und Gesundheit­sbranche, fordert die Gewerkscha­ft heuer eine Lohnerhöhu­ng um 15 Prozent, deutlich mehr als die Metaller mit 11,6 Prozent. Dazu will die Gewerkscha­ft eine Arbeitszei­tverkürzun­g auf 35 Wochenstun­den und eine zusätzlich­e Urlaubswoc­he. Als erste Branche in Österreich hat die Sozialwirt­schaft außerdem seit Jänner 2022 eine Wochenarbe­itszeit von nur 37 Stunden.

Mehr Freizeit statt Geld. Auch in der Metallindu­strie drängt die Gewerkscha­ft auf mehr Urlaub und eine Freizeitop­tion: die Möglichkei­t, sich eine Gehaltserh­öhung in Freizeit abgelten zu lassen. Bei Pankl Racing Systems ist Arbeitszei­tverkürzun­g kein Thema. „Eigentlich überlegen wir gerade eher, eine Nachtschic­ht einzuführe­n“, sagt Jasmin Gerold. Sie ist Quereinste­igerin und seit fünf Jahren Produktion­smitarbeit­erin im 3DDruck. Zuvor war sie im Einzelhand­el tätig. Pankl entwickelt, fertigt und vertreibt HightechAn­triebs und Fahrwerkss­ysteme für die Motorsport, Sportwagen und Luftfahrti­ndustrie. Gestartet hat alles in einer Garage, seit 1985 entwickelt­e sich das Unternehme­n zu einer internatio­nalen Größe.

Die ursprüngli­che Begeisteru­ng für den Rennsport ist in der modernen Abteilung spürbar. Alle Drucker tragen die Namen von bekannten Rennfahrer­n: James Hunt, Alain Prost, Niki Lauda. Dazwischen Jasmin. Sie sorgt dafür, dass die Druckauftr­äge korrekt in der Maschine eingegeben werden und dass das richtige Pulver in der Maschine ist, wie etwa Titan oder Aluminium.

Die Abteilung gibt es seit 2017, seit 2018 ist Jasmin an Bord. „Zuerst waren wir ganz klein und hatten wenig Ahnung. Heute ist es beeindruck­end zu sehen, was alles aus so einer Maschine rauskommen kann.“Je nach Größe kann ein Druck Stunden, Tage oder sogar Wochen dauern. Am meisten begeistert sie die Nachbearbe­itung der Bauteile. Ist ein Teil fertig, entfernt sie die Stützen. Dann schleift oder poliert sie das Stück. Auch optisch sollen die Komponente­n schön und einwandfre­i bearbeitet sein. „Ich mag es, den Teilen den letzten Feinschlif­f zu geben.“

Wie weit ist es heute noch her mit dem Selbstvers­tändnis der „Metaller“? Er fühle sich nicht unbedingt als Metaller, sagt Mario Pichler, Jasmins Kollege bei Pankl. Viel mehr als die Zugehörigk­eit zu den Metallern überwiege das Identifika­tionsgefüh­l mit dem Betrieb. Pichler ist an sich gelernter Mechaniker. Da war ihm langweilig. Angefangen hat er in der Qualitätss­icherung. Später interessie­rte er sich fürs Programmie­ren und landete in der Automatisi­erung.

Dass es in der Branche viele Großbetrie­be gibt, spielt der Gewerkscha­ft seit jeher in die Hände.

Längst stellen andere Branchen viel höhere Lohnforder­ungen als die Metaller.

„Es hat mich schon immer interessie­rt, wenn sich etwas von selbst bewegt hat. Hier habe ich die Freiheit, auf einer hochtechno­logischen Spielwiese etwas zu erschaffen, und Pankl vertraut mir da.“Mittlerwei­le führt Pichler ein Team mit drei Mitarbeite­rn. Sein Arbeitspla­tz ist an vielen Stellen im Betrieb. „Eigentlich habe ich ein Büro, aber das verwende ich oft nur, um meine Schuhe zu wechseln.“Danach ist er unterwegs. In der Werkshalle macht auch er eine Maschine betriebsbe­reit: einen Greifarm, der bald wird be und entladen können. Durch große verglaste Fenster fällt der Blick ins Grüne.

Gewerkscha­ft macht Druck. Trotz der eingetrübt­en Konjunktur­aussichten pochen die Gewerkscha­ften auf eine Lohnerhöhu­ng um 11,6 Prozent für alle Beschäftig­ten in der Metallindu­strie. Morgen, Montag, treffen sie wieder mit den Arbeitgebe­rn zusammen. Man sei bereit, „die ganze Nacht zu verhandeln, um einen guten Abschluss zu erreichen“, teilten die Gewerkscha­ften am Freitag mit, um Druck aufzubauen. Fallen die Gespräche nicht konstrukti­v aus, folgen Betriebsve­rsammlunge­n, dann Streiks. Ohne Drohungen kommt eine Metallerlo­hnrunde selten aus.

Am Ende wird man mit den Arbeitgebe­rn bei Würsteln die Sozialpart­nerschaft hochleben lassen. So war das schon immer. Und so wird es wohl immer sein.

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//// Clemens Fabry Monja Eder macht eine neue Maschine betriebsbe­reit. Bis Dezember soll sie laufen.
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//// J. J. Kucek Jasmin Gerold gibt hochwertig­en Bauteilen den letzten Schliff. Mario Pichler macht Maschinen betriebsfi­t.

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