Der steinige Weg aus der deutschen Fußballmisere
Auf Julian Nagelsmann warten die ersten Länderspiele als deutscher Teamchef. In nur acht Monaten bis zur HeimEM muss er den sportlichen Niedergang stoppen und ein DFBTeam formen, das die Fans wieder begeistert. Doch im deutschen Kick liegt noch viel meh
Seit dem WMTitel 2014 geht es mit der deutschen Nationalmannschaft steil bergab. Bei nun zwei WMEndrunden in Folge war in der Vorrunde Endstation, bei der jüngsten EM reichte es nur für das Achtelfinale. Erstmals in der DFBGeschichte wurde mit Hansi Flick ein deutscher Teamchef entlassen. Vor allem: Von den viel zitierten deutschen Tugenden auf dem Fußballplatz ist nichts mehr zu sehen, Leidenschaft, Kampf, Tore in den letzten Minuten – nur acht Monate vor der HeimEM werden diese Eigenschaften schmerzlich vermisst. Doch nicht nur das ANationalteam befindet sich im freien Fall, der gesamte deutsche Fußball scheint in einem Zustand der Selbstzerfleischung.
Wochen der Wahrheit. Julian Nagelsmann hat sich seit seiner Präsentation als neuer deutscher Teamchef vor zwei Wochen zurückgenommen. Der FlickNachfolger hatte abseits von Kameras und Scheinwerfern beobachtet, gesichtet und geplant, ehe er am Freitag seinen ersten DFBKader nominierte. Am Montag hebt der Flieger nach Boston ab, es warten Testspiele gegen die USA und gegen Mexiko. Im November dann die Heimpremiere gegen die Türkei und das Duell gegen Österreich im bereits ausverkauften ErnstHappelStadion (21. November). Am 2. Dezember werden in Hamburg die EMGruppen ausgelost, Deutschlands EMAuftakt steigt am 14. Juni in München.
Spätestens bis dahin muss der 36jährige Nagelsmann dem gänzlich verunsicherten DFBGebilde wieder eine Struktur verpasst haben. Die Defensive lechzt nach einer klaren Aufgabenverteilung, im Angriff herrscht Unklarheit darüber, wer denn die deutschen Tore schießen soll.
Taktikfreak Nagelsmann hat bereits eine Spielidee im Kopf. Aber er weiß, dass er mit dem Nationalteam nur wenig Trainingszeit haben wird. „Der Plan wird nicht so komplex und kompliziert wie im Verein sein“, sagte er. Einfachheit wie beim 2:1Sieg zuletzt gegen Frankreich unter Interimstrainer Rudi Völler, dem ersten Erfolg nach zuvor vier Niederlagen und einem Remis, sei ebenfalls ein wichtiger Punkt. „14 verschiedene Grundordnungen“werde es also nicht geben, erklärte Nagelsmann. Dafür „gesunde Aggressivität“in Richtung des gegnerischen Tors. Die deutsche Nationalelf soll die Fans wieder mitreißen. Allein aber kann Nagelsmann nicht alles retten, was im deutschen Fußball derzeit im Argen liegt. Auch bei den Frauen herrscht nach dem erstmaligen deutschen VorrundenAus bei der WM im Sommer in Australien und Neuseeland lähmende Ernüchterung. Die angezählte Bundestrainerin Martina VossTecklenburg kehrte krank von der Endrunde zurück, ihre Zukunft ist noch immer völlig offen.
Der sportliche Niedergang wirkt sich längst auch finanziell aus. Während der DFB im jüngsten Finanzbericht für 2021 ein Minus von 33,5 Mio. Euro verzeichnete, verspielten die Nationalteams bei den jüngsten Turnieren auch noch reihenweise Prämieneinnahmen, der Werbewert der deutschen Kicker dürfte ebenfalls gesunken sein.
Und im Nachwuchs? Die deutsche U21 enttäuschte im Sommer mit dem VorrundenAus bei der EM 2023. Der Befund von Hannes Wolf, dem neuen DFBDirektor für Nachwuchs, Training und Entwicklung: Der Talentpool ist zu gering, auf dem Weg nach oben müsse vieles besser gemacht werden, „damit die jungen Spieler nicht gegen die Wand rennen“, sagt der 42Jährige. Er will ab 2024 neue Spielformen im Kinder und Jugendfußball umsetzen, mehr Kleinformen wie drei gegen drei oder vier gegen vier, alle Spieler sollen öfter den Ball haben („Trainingsphilosophie Deutschland“). Das bringe weit mehr als etwa Tabellen, die Wolf bis zur U11 abschaffen möchte.
Der Niedergang der Nationalmannschaft wird mittlerweile sogar mit Häme betrachtet.
Keine Ausreden mehr. Ohne verbale Störfeuer ging das freilich nicht über die Bühne, allen voran DFBVizepräsident HansJoachim Watzke sah in den Reformen sogleich eine Verweichlichung der deutschen Gesellschaft. Immerhin: Erstmals diskutiert Deutschland öffentlich über Nachwuchsfußball.
Für die EM im eigenen Land kommt diese freilich um Jahre zu spät. Dort kann es wohl wirklich nur Julian Nagelsmann richten. EMTurnierdirektor Philipp Lahm hat nach den jüngsten Personalentscheidungen im DFB seine Erwartungen kundgetan. „Es gibt jetzt keine Ausreden mehr“, erklärte der ehemalige WeltmeisterKapitän.