Achtung, die Tapete ist zurück!
Lange Zeit wurden die wild gemusterten Wände kollektiv und freiwillig vergessen, heute kommt die Tapete als Gestaltungselement zurück. Allerdings in entradikalisierter Form.
Es ist wohl unfair, im Jahr 2023 auf die Ära zwischen den 50ern und 70ern zurückzublicken und sich über die planlos zusammentapezierten Wohnungen zu echauffieren. Unfair, aber gerechtfertigt. Da klebten wirre Muster nebeneinander an den Wänden, kein Zimmer wurde begnadigt, alle Farben wurden kreuz und quer vermengt. Irgendwann hat sich die Gesellschaft kollektiv von diesem Dauerstress für die Augen verabschiedet – und nie wieder darüber gesprochen. Vielleicht irritiert deswegen die langsame Rückkehr der Tapete. Die gute Nachricht: Die neue Wandverkleidung ist nicht mehr radikal.
Tapeziermeister Erhard Hutterer hat die vielen Phasen der Tapetenwelt miterlebt. Von den wild durchgemusterten Wohnungen bis hin zu der ruhigen Phase ab den 90ern, als nur mehr eine eingeschränkte Kundschaft übrig blieb: Hotels, Palais, der altbürgerliche Stil. „Früher“, sagt Hutterer, „hat die Tapete für Gleichmäßigkeit gesorgt, wenn die Wand aus Ziegel, Beton und Rigips bestand.“Und heute sei die Tapete ein edles Gestaltungselement. Oft beschränke sich die Verkleidung auf eine Wand im Zimmer, „die Tapete selbst ist das Kunstwerk“. Inspiration liefern unzählige Bilder in sozialen Medien, wo die neue Tapetenlust längst um sich greift.
So kann sich auch Hutterer seit rund zwei Jahren vor Nachfragen gar nicht mehr retten. In seinem Geschäft bietet er hochwertige Ware an, die Gestaltung einer Einzelwand beginnt bei rund 1000 Euro. Seine designorientierten Kunden würden gern mehr ausgeben für das Wohlgefühl zu Hause; in Hutterers Repertoire finden sich Tapeten aus Holz, aus gepresstem Heu aus einer Vorarlberger Manufaktur, aus Textilien, aus Beton, aus Metall, ja aus Blattgold (die teuerste Version). Und das Interessante: Die Tapeten fühlen sich nicht an wie Tapeten, sondern eben wie eine Wand. War früher Papier das Trägermaterial, ist es heute das flexiblere Vlies.
Nun darf der Tapete wegen der unkontrollierten Ausrutscher auch nicht Unrecht getan werden. Die Wandverkleidung hat eine lange und reiche Geschichte. „Bis Ende der 1920erJahre waren die Wände ein unglaubliches, kontrastreiches Farbenspiel“, sagt Astrid Wegener, Leiterin des Deutschen Tapetenmuseums in Kassel. Es war normal, dass auf diesen wilden Mustern auch noch Bilder hingen. Der Bruch kam nach dem Ersten Weltkrieg, als mit dem sozialen Wohnbau die Standards neu gesetzt wurden. Die Tapete in den Siedlungsbauten, so Wegener, „musste schön, aber günstig sein“. Monochrome Farben und zurückhaltende Muster setzten sich durch – die Bauhaustapete ist die bekannteste Vertreterin dieser Ära. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts verschwanden dann auch noch die Muster immer mehr. Und diese schlichte Wand bleibt bis heute unsere Referenz, wenn es um die Wohnungsgestaltung geht.
Doch in der Mitte des letzten Jahrhunderts kehrte die Tapete brutal und bunt zurück, sie wurde mit dem Einfluss von Pop Art immer kreativer. Die Aufbruchsstimmung der 68er ließ sich durchaus in den Designs ablesen, so Wegener. Doch mit den Ölkrisen und ihren Auswirkungen fand auch die Kreativität ein Ende. Viele Tapeten
Bis zur Ölkrise.
manufakturen schlitterten während dieser Zeit in die Insolvenz. Statt bunter Wände setzten die Kunden nun auf Naturmaterialen, Korktapeten, zurückhaltende Töne. Die monotone Raufasertapete ist ein Zeugnis dieser Zeit.
Die Rückbesinnung auf das Natürliche lässt sich auch heute beobachten. Den Kunden, sagt Tapeziermeister Hutterer, werde die nachhaltige Herstellung immer wichtiger. Das sind wasserlösliche Farben, biologische Rohstoffe – vor allem bei der Gestaltung der Kinderzimmer. Neben dem ästhetischen Aspekt gibt es übrigens einen weiteren Grund, warum Tapeten heute so gefragt sind: In den nackten Betonbauten, die heute die Baulandschaft dominieren, ist Schall ein großes Thema. Wandverkleidungen können Abhilfe schaffen.
Früher hat die Tapete für Gleichmäßigkeit gesorgt, heute ist sie ein Kunstwerk.
Günstige Alternative. Die Coronapandemie hat großen Anteil an diesem TapetenRevival. Seither grassiert die große DoityourselfWelle mit Blick auf das wohnliche Zuhause. Onlineportale wie KunstLoft registrieren ab der LockdownZeit eine gesteigerte Nachfrage. „Im Vergleich zu anderen Renovie
»Bis Ende der 1920erJahre waren die Wände ein unglaubliches, kontrastreiches Farbenspiel.«
rungsmaßnahmen ist das Tapezieren eine kostengünstige Alternative“, sagt Verónica Apolinário von KunstLoft dazu. Beliebt seien Naturmotive, florale Designs, aber auch Tapeten in Steinoder Betonoptik, geometrische Muster und großflächige Wandbilder. Selbstklebende Tapeten stehen ebenfalls hoch im Kurs, so Apolinário.
Wenn nun so viel vom Tapezieren die Rede ist, wer ergreift diesen Beruf heute noch? Wenige, sagt Hutterer, der selbst unterrichtet. Der Job sei in der Öffentlichkeit kaum präsent, allenfalls der Aspekt der Dekoration (Lehre als Tapezierer und Dekorateur) spreche vermehrt junge Frauen an. In seinem Betrieb sind die Lehrlinge alle weiblich. Dass die Arbeit der Tapezierer gefragt ist, das steht außer Zweifel. Da reicht ein Blick in Hutterers EMailPostfach.