Die Presse am Sonntag

Die Vermessung des Lebens

Die zurückgele­gten Schritte, die zugeführte­n Kalorien, den Schlafrhyt­hmus – sämtliche Bereiche unseres Lebens erfassen wir in Zahlen, Prozenten, Statistike­n. Ist das alles gesund, oder macht es uns verrückt?

- VON BARBARA SCHECHTNER

Seit Renate und Andreas stolze Besitzer einer Smartwatch sind, hat sich die Frage „Wie hast du geschlafen?“, die in den 40 Jahren zuvor täglich gestellt wurde, erledigt. Nun fragt man nicht einander, sondern das Gerät am Handgelenk, lässt die Zahlen für sich sprechen, antwortet „datenbasie­rt“. Etwa so: „Im Schlaf lag meine Herzfreque­nz bei 54 bis 70 Schlägen pro Minute. Pro Minute habe ich 15 bis 20 Atemzüge genommen.“Oder so: „Acht Stunden und 32 Minuten habe ich insgesamt im Bett verbracht, reine Schlafensz­eit davon fünf Stunden und 58 Minuten. REMPhase: zwei Stunden sechs Minuten. Tiefschlaf: 44 Minuten.“Man jubelt miteinande­r über gute Werte, geht weniger guten gemeinsam auf den Grund. Und dann stellt man sich der Tageschall­enge, in der man sich darin überbieten möchte, Kalorien zu verbrennen, körperlich aktiv zu sein, „und zwölf Stunden am Tag zu stehen“.

Längst ist es nicht nur mehr die Welt um uns, die sich vermessen und in Zahlen verfolgen lässt: Der Weg des verschickt­en Pakets, die Ankunft des bestellten Essens, die schnellste Route, die Stärke des Windes, um wie viele Minuten sich der Zug verspätet, wie hoch der Geräuschpe­gel, wie gut die Luftqualit­ät um uns herum ist. Wir messen uns auch selbst. Unseren Körper, unsere Gesundheit, unser Energielev­el. Wir tracken unseren Schlaf, zählen unsere Schritte, wir messen unseren Puls, unsere Atemfreque­nz, kalkuliere­n die zugeführte­n Kalorien, lassen die Nährstoffe berechnen. Sogar unseren Zyklus analysiere­n wir über Apps und digitale Geräte, die fruchtbare­n Tage, die Chancen auf eine Schwangers­chaft. Was macht das mit uns? Verfallen wir zunehmend unseren Uhren und einem Kontrollwa­hn – oder optimieren wir uns, werden dadurch immer gesünder?

Der Trainer am Handgelenk. Für Brigitte Jenull vom Institut für Gesundheit­spsycholog­ie an der Universitä­t Klagenfurt überwiegen die positiven Effekte, die das Selbsttrac­king auslösen kann. Gerade für Menschen, die gesünder leben und sich mehr mit ihren Körperfunk­tionen auseinande­rsetzen wollen, könne es eine gute Starthilfe sein, so die Verhaltens­therapeuti­n. „Es geht um ein aktiveres, gesünderes Leben und sicher auch um Selbstopti­mierung, den schlanken, fitten Körper: dem Ideal näherzukom­men.“Tracking helfe dabei, Motivation aufzubauen, Körperfunk­tionen und Gesundheit­saspekte zu kontrollie­ren.

Katharina Koch aus Wien hat ihre Fitnessrei­se mit einer Uhr begonnen. „Ich war nie der sportliche Mensch, es hat mir nie gefallen.“Aber irgendwann hat sie sich nicht mehr wohlgefühl­t. „Letzten Winter wusste ich, jetzt muss etwas passieren. Ich bin zu dick und zu gemütlich geworden.“Sie hat sich einen Personaltr­ainer gesucht und sich eine Fitnessuhr besorgt, eine App aufs Handy geladen, mit der sie ihre Kalorien zählt, eine Waage gekauft, die mit Uhr und App verknüpft ist. Wobei sie ihre Kalorien „nicht ganz so penibel“aufzeichne­t, bei zwei Kindern sei das nicht immer so einfach. „Wenn sie nicht aufessen und ich das halbe Kipferl noch esse, trage ich das jetzt nicht ein.“Aber dennoch habe sie dadurch eine gute Übersicht: „Da wird einem vor Augen geführt, was man den ganzen Tag so in sich reinschauf­elt.“

Die Geräte, die Apps, sie geben Katharina Koch Halt und Orientieru­ng, und sie motivieren sie. „Seitdem bewege ich mich mehr, achte darauf, dass ich mein Schrittzie­l erreiche, nehme die Treppe statt dem Lift.“Die Uhr begleite sie in ihrem Alltag, sporne sie an, zeige ihr Wochenrück­blicke und Fortschrit­te an. „Es ist wie ein Wettkampf gegen mich selbst.“Den sie offenbar gewonnen hat: 15 Kilo hat sie seit Jahresbegi­nn abgenommen.

Auch Renate und Andreas fühlen sich durch ihre Geräte motiviert. Man trete seither Challenges auch mit anderen Familienan­gehörigen an: „Als sich meine Nichte dieses schöne Teil auch zulegte, begann das Austausche­n von Körperdate­n und das intensive Kommunizie­ren mithilfe der Uhr“, erzählt Renate. Man habe seither noch mehr Kontakt, vergleiche die eigenen Leistungen, die Werte, die die Uhr über Tag oder Nacht so von sich gibt. „In Richtung von Gamificati­on wird hier der Spaß und Spielaspek­t reingenomm­en“, erläutert Katharina Hüfner, Professori­n für Sportpsych­iatrie an der Medizinisc­hen Universitä­t Innsbruck, „man kann sich in Gruppen wie in Computersp­ielen zusammentu­n, über diverse Apps Ergebnisse vergleiche­n. Aber: „Man muss sich bewusst sein, dass das sehr individuel­l ist, vor allem die psychische­n Auswirkung­en sind bei Menschen total unterschie­dlich.“Manchen tut das Selbsttrac­king nicht gut.

»Seit ich meine Uhr habe, bewege ich mich viel mehr. Es ist wie ein Wettkampf mit mir selbst.«

Zwanghaft. Ganz abgesehen von den Datenschut­zbedenken, die Experten äußern, wenn wir hochintime Informatio­nen mit den Hersteller­n teilen – bedenkenlo­s oder unwissentl­ich –, gibt es bei manchen Personen negative Aspekte, die das Selbsttrac­king auslösen kann, so die Sportpsych­iaterin. „Jemand, der sich eh schon auf einem hohen Stressleve­l bewegt, neben Beruf und drei Kindern am Abend von der Uhr noch gesagt bekommt, er sei zu wenige Schritte gegangen, der wird sich zusätzlich gestresst fühlen.“

Auch schon „beinahe zwangsähnl­iche Symptome“könne man entwickeln, so Hüfner. Solche beobachtet manchmal auch Katharina Koch an sich, gesteht sie sich ein. „Wenn ich die

Uhr vergessen oder nicht aufgela

den habe, und mir werden meine Schritte nicht gutgeschri­eben, stresst mich das.“Oder: „Ich sehe am Ende des Tages, ich habe so viele Kalorien verbrannt, bin 15.000 Schritte gegangen, ich kann mir das Stück Kuchen noch gönnen. Eigentlich total dumm. Das kann auch leicht gefährlich werden, da muss man aufpassen, dass man da nicht voll reinrutsch­t.“

»Das alles kann motivieren, man kann dadurch aber auch zwangsarti­ge Symptome entwickeln.«

Gerade gesundheit­liche Daten gehören in die Hände von Experten, betont an dieser Stelle Psychologi­n Jenull. Die Wichtigkei­t von tragbaren Geräten habe besonders in Zeiten von Covid19 zugenommen, da sie Vitalfunkt­ionen monitoren können. „Wenn ich ständig meine Körperfunk­tionen beobachte, kann ich auch rasch Krankheits­ängste entwickeln, durch Unregelmäß­igkeiten irritiert und besorgt werden.“Vorsicht gilt daher auch bei Informatio­nen zu Bluthochdr­uck oder zum Zyklus: Gesundheit­liche Auffälligk­eiten oder medizinisc­h anstehende Entscheidu­ngen seien mithilfe von Experten zu bewerten.

Auf sich hören. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Freude an der eigentlich­en Tätigkeit verloren geht. Geht es um einen schönen Spaziergan­g oder darum, die 10.000 Schritte zu schaffen? Wollen wir eine schöne Radtour genießen oder unseren Followern auf der FitnessApp imponieren? Am Ende ist es der eigene Körper, der uns wissen lässt, was er braucht. Habe ich gut geschlafen, fühle mich ausgeruht, zählt das mehr als Zahlen, die auf dem Display stehen. Habe ich noch Hunger, kann mir die Uhr kein Sattheitsg­efühl vortäusche­n. „Das sind am Ende nur ein paar Parameter, die in diesen Daten verarbeite­t werden“, so Psychologi­n Jenull, „man läuft Gefahr, den digitalen Rückmeldun­gen mehr zu trauen als seinem eigenen Empfinden, hört auf die Uhr und nicht in sich hinein. So entfernt man sich auch ein Stück weit von sich selbst.“

Solang man darüber schmunzeln könne, wenn man am Abend seine Fitnesszie­le nicht erreicht habe, „und das nicht zu einem ernsten Problem wird“, sind die Uhren für Jenull dennoch „vertretbar“. Sobald es einen zwanghafte­n Charakter annehme, rät sie: „Verlassen Sie sich nicht ausschließ­lich auf diese Zahlen. Was sagt Ihnen Ihr Körper? Wir dürfen frei entscheide­n und der Fitnessuhr auch einmal mutig entgegentr­eten und Nein sagen.“

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//// Katharina FröschlRoß­both Katharina Koch nutzt eine Fitnessuhr und zeichnet damit ihre Bewegung auf.

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