Die Vermessung des Lebens
Die zurückgelegten Schritte, die zugeführten Kalorien, den Schlafrhythmus – sämtliche Bereiche unseres Lebens erfassen wir in Zahlen, Prozenten, Statistiken. Ist das alles gesund, oder macht es uns verrückt?
Seit Renate und Andreas stolze Besitzer einer Smartwatch sind, hat sich die Frage „Wie hast du geschlafen?“, die in den 40 Jahren zuvor täglich gestellt wurde, erledigt. Nun fragt man nicht einander, sondern das Gerät am Handgelenk, lässt die Zahlen für sich sprechen, antwortet „datenbasiert“. Etwa so: „Im Schlaf lag meine Herzfrequenz bei 54 bis 70 Schlägen pro Minute. Pro Minute habe ich 15 bis 20 Atemzüge genommen.“Oder so: „Acht Stunden und 32 Minuten habe ich insgesamt im Bett verbracht, reine Schlafenszeit davon fünf Stunden und 58 Minuten. REMPhase: zwei Stunden sechs Minuten. Tiefschlaf: 44 Minuten.“Man jubelt miteinander über gute Werte, geht weniger guten gemeinsam auf den Grund. Und dann stellt man sich der Tageschallenge, in der man sich darin überbieten möchte, Kalorien zu verbrennen, körperlich aktiv zu sein, „und zwölf Stunden am Tag zu stehen“.
Längst ist es nicht nur mehr die Welt um uns, die sich vermessen und in Zahlen verfolgen lässt: Der Weg des verschickten Pakets, die Ankunft des bestellten Essens, die schnellste Route, die Stärke des Windes, um wie viele Minuten sich der Zug verspätet, wie hoch der Geräuschpegel, wie gut die Luftqualität um uns herum ist. Wir messen uns auch selbst. Unseren Körper, unsere Gesundheit, unser Energielevel. Wir tracken unseren Schlaf, zählen unsere Schritte, wir messen unseren Puls, unsere Atemfrequenz, kalkulieren die zugeführten Kalorien, lassen die Nährstoffe berechnen. Sogar unseren Zyklus analysieren wir über Apps und digitale Geräte, die fruchtbaren Tage, die Chancen auf eine Schwangerschaft. Was macht das mit uns? Verfallen wir zunehmend unseren Uhren und einem Kontrollwahn – oder optimieren wir uns, werden dadurch immer gesünder?
Der Trainer am Handgelenk. Für Brigitte Jenull vom Institut für Gesundheitspsychologie an der Universität Klagenfurt überwiegen die positiven Effekte, die das Selbsttracking auslösen kann. Gerade für Menschen, die gesünder leben und sich mehr mit ihren Körperfunktionen auseinandersetzen wollen, könne es eine gute Starthilfe sein, so die Verhaltenstherapeutin. „Es geht um ein aktiveres, gesünderes Leben und sicher auch um Selbstoptimierung, den schlanken, fitten Körper: dem Ideal näherzukommen.“Tracking helfe dabei, Motivation aufzubauen, Körperfunktionen und Gesundheitsaspekte zu kontrollieren.
Katharina Koch aus Wien hat ihre Fitnessreise mit einer Uhr begonnen. „Ich war nie der sportliche Mensch, es hat mir nie gefallen.“Aber irgendwann hat sie sich nicht mehr wohlgefühlt. „Letzten Winter wusste ich, jetzt muss etwas passieren. Ich bin zu dick und zu gemütlich geworden.“Sie hat sich einen Personaltrainer gesucht und sich eine Fitnessuhr besorgt, eine App aufs Handy geladen, mit der sie ihre Kalorien zählt, eine Waage gekauft, die mit Uhr und App verknüpft ist. Wobei sie ihre Kalorien „nicht ganz so penibel“aufzeichnet, bei zwei Kindern sei das nicht immer so einfach. „Wenn sie nicht aufessen und ich das halbe Kipferl noch esse, trage ich das jetzt nicht ein.“Aber dennoch habe sie dadurch eine gute Übersicht: „Da wird einem vor Augen geführt, was man den ganzen Tag so in sich reinschaufelt.“
Die Geräte, die Apps, sie geben Katharina Koch Halt und Orientierung, und sie motivieren sie. „Seitdem bewege ich mich mehr, achte darauf, dass ich mein Schrittziel erreiche, nehme die Treppe statt dem Lift.“Die Uhr begleite sie in ihrem Alltag, sporne sie an, zeige ihr Wochenrückblicke und Fortschritte an. „Es ist wie ein Wettkampf gegen mich selbst.“Den sie offenbar gewonnen hat: 15 Kilo hat sie seit Jahresbeginn abgenommen.
Auch Renate und Andreas fühlen sich durch ihre Geräte motiviert. Man trete seither Challenges auch mit anderen Familienangehörigen an: „Als sich meine Nichte dieses schöne Teil auch zulegte, begann das Austauschen von Körperdaten und das intensive Kommunizieren mithilfe der Uhr“, erzählt Renate. Man habe seither noch mehr Kontakt, vergleiche die eigenen Leistungen, die Werte, die die Uhr über Tag oder Nacht so von sich gibt. „In Richtung von Gamification wird hier der Spaß und Spielaspekt reingenommen“, erläutert Katharina Hüfner, Professorin für Sportpsychiatrie an der Medizinischen Universität Innsbruck, „man kann sich in Gruppen wie in Computerspielen zusammentun, über diverse Apps Ergebnisse vergleichen. Aber: „Man muss sich bewusst sein, dass das sehr individuell ist, vor allem die psychischen Auswirkungen sind bei Menschen total unterschiedlich.“Manchen tut das Selbsttracking nicht gut.
»Seit ich meine Uhr habe, bewege ich mich viel mehr. Es ist wie ein Wettkampf mit mir selbst.«
Zwanghaft. Ganz abgesehen von den Datenschutzbedenken, die Experten äußern, wenn wir hochintime Informationen mit den Herstellern teilen – bedenkenlos oder unwissentlich –, gibt es bei manchen Personen negative Aspekte, die das Selbsttracking auslösen kann, so die Sportpsychiaterin. „Jemand, der sich eh schon auf einem hohen Stresslevel bewegt, neben Beruf und drei Kindern am Abend von der Uhr noch gesagt bekommt, er sei zu wenige Schritte gegangen, der wird sich zusätzlich gestresst fühlen.“
Auch schon „beinahe zwangsähnliche Symptome“könne man entwickeln, so Hüfner. Solche beobachtet manchmal auch Katharina Koch an sich, gesteht sie sich ein. „Wenn ich die
Uhr vergessen oder nicht aufgela
den habe, und mir werden meine Schritte nicht gutgeschrieben, stresst mich das.“Oder: „Ich sehe am Ende des Tages, ich habe so viele Kalorien verbrannt, bin 15.000 Schritte gegangen, ich kann mir das Stück Kuchen noch gönnen. Eigentlich total dumm. Das kann auch leicht gefährlich werden, da muss man aufpassen, dass man da nicht voll reinrutscht.“
»Das alles kann motivieren, man kann dadurch aber auch zwangsartige Symptome entwickeln.«
Gerade gesundheitliche Daten gehören in die Hände von Experten, betont an dieser Stelle Psychologin Jenull. Die Wichtigkeit von tragbaren Geräten habe besonders in Zeiten von Covid19 zugenommen, da sie Vitalfunktionen monitoren können. „Wenn ich ständig meine Körperfunktionen beobachte, kann ich auch rasch Krankheitsängste entwickeln, durch Unregelmäßigkeiten irritiert und besorgt werden.“Vorsicht gilt daher auch bei Informationen zu Bluthochdruck oder zum Zyklus: Gesundheitliche Auffälligkeiten oder medizinisch anstehende Entscheidungen seien mithilfe von Experten zu bewerten.
Auf sich hören. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Freude an der eigentlichen Tätigkeit verloren geht. Geht es um einen schönen Spaziergang oder darum, die 10.000 Schritte zu schaffen? Wollen wir eine schöne Radtour genießen oder unseren Followern auf der FitnessApp imponieren? Am Ende ist es der eigene Körper, der uns wissen lässt, was er braucht. Habe ich gut geschlafen, fühle mich ausgeruht, zählt das mehr als Zahlen, die auf dem Display stehen. Habe ich noch Hunger, kann mir die Uhr kein Sattheitsgefühl vortäuschen. „Das sind am Ende nur ein paar Parameter, die in diesen Daten verarbeitet werden“, so Psychologin Jenull, „man läuft Gefahr, den digitalen Rückmeldungen mehr zu trauen als seinem eigenen Empfinden, hört auf die Uhr und nicht in sich hinein. So entfernt man sich auch ein Stück weit von sich selbst.“
Solang man darüber schmunzeln könne, wenn man am Abend seine Fitnessziele nicht erreicht habe, „und das nicht zu einem ernsten Problem wird“, sind die Uhren für Jenull dennoch „vertretbar“. Sobald es einen zwanghaften Charakter annehme, rät sie: „Verlassen Sie sich nicht ausschließlich auf diese Zahlen. Was sagt Ihnen Ihr Körper? Wir dürfen frei entscheiden und der Fitnessuhr auch einmal mutig entgegentreten und Nein sagen.“