»Little Burgenland« in Chicago
Die USMetropole galt als »größte Stadt des Burgenlands«. Warum es so viele dorthin verschlagen hat, was aus der Community wurde und was das mit aktuellen Migrationsbewegungen zu tun hat.
Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“, zitiert Emmerich Koller die Worte der Dichterin Emma Lazarus, die im Sockel der Freiheitsstatue in New York eingraviert sind. „Wir kamen nach Amerika, als diese Worte noch mehr Gültigkeit gehabt haben als heute“, sagt der heute 81Jährige. Als junger Bursche ist er 1960 mit seiner Familie aus dem Burgenland nach Amerika ausgewandert. Die Worte gelten als Manifest der Freiheit. Sie waren ein Willkommensgruß an die Millionen von Einwanderern, die an der Statue auf Liberty Island vorbei in die „Neue Welt“, in die Vereinigten Staaten von Amerika, kamen.
War die Reise über den Atlantik lange Zeit ein teures Unterfangen, löste die Entwicklung des Dampfschiffes in den 1880erJahren eine erste große Migrationswelle von Europäern in die USA aus. Zwischen 1890 und 1914 sollen etwa 15 Millionen Europäer im Hafen von New York angekommen sein. Mehr als jeder Fünfte von ihnen kam aus der zu dieser Zeit zerbröselnden Monarchie ÖsterreichUngarn. Auch Tausende Menschen aus dem damaligen DeutschWestungarn, dem späteren Burgenland, wanderten damals nach Übersee aus. In ihrer alten Heimat ohne Perspektive, suchten sie als klassische Wirtschaftsflüchtlinge „im Amerika“ihr Glück.
Viele von ihnen zog es nach Chicago. In der aufstrebenden Metropole im Süden des Lake Michigan war der Bedarf an Arbeitskräften um die Jahrhundertwende enorm. Als einer der ersten Pioniere der Chicagoer Burgenland„Kolonie“ist der Name John Wenzel aus dem Bezirk Oberwart dokumentiert. Er soll ab 1890 wiederholt über den Atlantik gereist sein, um mehrere Auswanderungsgruppen anzuwerben. Ähnlich heutigen Fluchtbewegungen waren es zu Beginn vorwiegend junge Männer, die versuchten, der Trostlosigkeit des agrarisch geprägten Burgenlandes zu entfliehen und dem Versprechen von Geld und Wohlstand folgten. Während damit so manch burgenländischamerikanische Erfolgsgeschichte ihren Ausgang nahm, kehrten auch viele nach nur kurzer Zeit wieder enttäuscht in ihre alte Heimat zurück.
Vom Neusiedler See zum Lake Michigan.
Und doch sollte „The Windy City“im frühen 20. Jahrhundert zur größten Ansiedlung von burgenländischen Migranten werden. Die ausgewanderten Burgenländer reisten als „Zwischendecker“, sprich in der Holzklasse an. Aus der Heimat gewohnt anzupacken, arbeiteten sie sich in Zementmühlen und in den riesigen Schlachthöfen nach oben. Die legendären Stockyards von Chicago waren jahrzehntelang das Zentrum der amerikanischen Fleischindustrie, Zigtausende einfache Arbeitsmigranten aus aller Welt fanden dort Beschäftigung – auch viele der mehr als 15.000 Burgenländer, die in der Zwischenkriegszeit nach Chicago kamen.
So wie sich Migrationsbewegungen auch heute an bestehenden Communitys orientieren, zog es die Burgenländer damals dorthin, wo sie bereits Familie und Bekannte hatten. Eine Gedenktafel gibt Mitte des 20. Jahrhunderts die Zahl der Burgenländer in Chicago mit einer Schätzung von 30.000 an. Zum Vergleich: Eisenstadt hat heute rund die Hälfte an Einwohnern. Die Redewendung, wonach Chicago die größte Stadt des Burgenlandes sei, hat also zumindest einen wahren Kern. (Folgt man dieser Rechnung, könnte aber freilich auch Wien einen Anspruch auf die größte burgenländische Stadt stellen.)
Dass sich bald ein Gemeinschaftsgefühl in der BurgenlandCommunity in Chicago entwickelte, zeigt eine Erklärung des „Ersten Burgenländischen KrankenUnterstützungsvereins“aus dem Jahr 1926. Innerhalb weniger Jahre gründeten die burgenländischen Migranten mehr als ein Dutzend Gemeinschaften – vom Sport bis zum Gesangsverein sollten die Traditionen aus der Heimat bewahrt werden. Wo besonders viele Burgenländer lebten, gab es zudem mehrere Restaurants mit österreichischer Küche. Heute ist nur noch eines dieser Wirtshäuser übrig, die Qualität des Essens fragwürdig.
In Chicago lebten einst rund 30.000 Burgenländer – doppelt so viele wie heute in Eisenstadt.
Die Community der Burgenländer löste sich über die Jahrzehnte im Schmelztiegel der Stadt auf.
Nostalgische Erinnerung. Noch heute gibt es in Chicago eine kleine BurgenländerGemeinschaft, die sich unregelmäßig ihrer Wurzeln besinnt. „Gemeinsame Versammlungen sind aber selten geworden“, sagt Emmerich Koller. Er und seine Geschwister hätten seit ihrer gemeinsamen Flucht vor über 60 Jahren ohnehin längst „tiefe Wurzeln in Amerika geschlagen“. Sie seien „Amerikaner geworden, aber Burgenländer geblieben“. Eine gewisse Nostalgie mache sich aber bei Treffen in Chicago bemerkbar, bei denen die Geschwister immer noch ausschließlich ihren alten Dialekt Hianzisch miteinander sprechen.
Die einst starke Gemeinschaft der Burgenländer löste sich über die Jahrzehnte im Schmelztiegel der pulsierenden Metropole auf. Dem will Koller aber keinesfalls nachtrauern. Vielmehr sieht er im allmählichen Verschwinden der Community eine gelungene Integration in die amerikanische Gesellschaft. „Das ist doch das, was wir uns wünschen, wenn wir von gelungener Integration sprechen, egal wo.“
Die meisten Nachkommen der burgenländischen Migranten von einst kennen das Burgenland nur in Form nostalgischer Erzählungen. Der Mythos der burgenländischen Community in Chicago wird dennoch weitergetragen. Ende Oktober wird Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil mit einer offiziellen Delegation die Stadt am Lake Michigan besuchen – so, wie das bisher auch alle seine Vorgänger getan haben. Tradition ist eben Tradition.