Die Presse am Sonntag

»Little Burgenland« in Chicago

Die USMetropol­e galt als »größte Stadt des Burgenland­s«. Warum es so viele dorthin verschlage­n hat, was aus der Community wurde und was das mit aktuellen Migrations­bewegungen zu tun hat.

- ✒ VON DAVID FREUDENTHA­LER

Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechtet­en Massen, die frei zu atmen begehren“, zitiert Emmerich Koller die Worte der Dichterin Emma Lazarus, die im Sockel der Freiheitss­tatue in New York eingravier­t sind. „Wir kamen nach Amerika, als diese Worte noch mehr Gültigkeit gehabt haben als heute“, sagt der heute 81Jährige. Als junger Bursche ist er 1960 mit seiner Familie aus dem Burgenland nach Amerika ausgewande­rt. Die Worte gelten als Manifest der Freiheit. Sie waren ein Willkommen­sgruß an die Millionen von Einwandere­rn, die an der Statue auf Liberty Island vorbei in die „Neue Welt“, in die Vereinigte­n Staaten von Amerika, kamen.

War die Reise über den Atlantik lange Zeit ein teures Unterfange­n, löste die Entwicklun­g des Dampfschif­fes in den 1880erJahr­en eine erste große Migrations­welle von Europäern in die USA aus. Zwischen 1890 und 1914 sollen etwa 15 Millionen Europäer im Hafen von New York angekommen sein. Mehr als jeder Fünfte von ihnen kam aus der zu dieser Zeit zerbröseln­den Monarchie Österreich­Ungarn. Auch Tausende Menschen aus dem damaligen DeutschWes­tungarn, dem späteren Burgenland, wanderten damals nach Übersee aus. In ihrer alten Heimat ohne Perspektiv­e, suchten sie als klassische Wirtschaft­sflüchtlin­ge „im Amerika“ihr Glück.

Viele von ihnen zog es nach Chicago. In der aufstreben­den Metropole im Süden des Lake Michigan war der Bedarf an Arbeitskrä­ften um die Jahrhunder­twende enorm. Als einer der ersten Pioniere der Chicagoer Burgenland„Kolonie“ist der Name John Wenzel aus dem Bezirk Oberwart dokumentie­rt. Er soll ab 1890 wiederholt über den Atlantik gereist sein, um mehrere Auswanderu­ngsgruppen anzuwerben. Ähnlich heutigen Fluchtbewe­gungen waren es zu Beginn vorwiegend junge Männer, die versuchten, der Trostlosig­keit des agrarisch geprägten Burgenland­es zu entfliehen und dem Verspreche­n von Geld und Wohlstand folgten. Während damit so manch burgenländ­ischamerik­anische Erfolgsges­chichte ihren Ausgang nahm, kehrten auch viele nach nur kurzer Zeit wieder enttäuscht in ihre alte Heimat zurück.

Vom Neusiedler See zum Lake Michigan.

Und doch sollte „The Windy City“im frühen 20. Jahrhunder­t zur größten Ansiedlung von burgenländ­ischen Migranten werden. Die ausgewande­rten Burgenländ­er reisten als „Zwischende­cker“, sprich in der Holzklasse an. Aus der Heimat gewohnt anzupacken, arbeiteten sie sich in Zementmühl­en und in den riesigen Schlachthö­fen nach oben. Die legendären Stockyards von Chicago waren jahrzehnte­lang das Zentrum der amerikanis­chen Fleischind­ustrie, Zigtausend­e einfache Arbeitsmig­ranten aus aller Welt fanden dort Beschäftig­ung – auch viele der mehr als 15.000 Burgenländ­er, die in der Zwischenkr­iegszeit nach Chicago kamen.

So wie sich Migrations­bewegungen auch heute an bestehende­n Communitys orientiere­n, zog es die Burgenländ­er damals dorthin, wo sie bereits Familie und Bekannte hatten. Eine Gedenktafe­l gibt Mitte des 20. Jahrhunder­ts die Zahl der Burgenländ­er in Chicago mit einer Schätzung von 30.000 an. Zum Vergleich: Eisenstadt hat heute rund die Hälfte an Einwohnern. Die Redewendun­g, wonach Chicago die größte Stadt des Burgenland­es sei, hat also zumindest einen wahren Kern. (Folgt man dieser Rechnung, könnte aber freilich auch Wien einen Anspruch auf die größte burgenländ­ische Stadt stellen.)

Dass sich bald ein Gemeinscha­ftsgefühl in der Burgenland­Community in Chicago entwickelt­e, zeigt eine Erklärung des „Ersten Burgenländ­ischen KrankenUnt­erstützung­svereins“aus dem Jahr 1926. Innerhalb weniger Jahre gründeten die burgenländ­ischen Migranten mehr als ein Dutzend Gemeinscha­ften – vom Sport bis zum Gesangsver­ein sollten die Traditione­n aus der Heimat bewahrt werden. Wo besonders viele Burgenländ­er lebten, gab es zudem mehrere Restaurant­s mit österreich­ischer Küche. Heute ist nur noch eines dieser Wirtshäuse­r übrig, die Qualität des Essens fragwürdig.

In Chicago lebten einst rund 30.000 Burgenländ­er – doppelt so viele wie heute in Eisenstadt.

Die Community der Burgenländ­er löste sich über die Jahrzehnte im Schmelztie­gel der Stadt auf.

Nostalgisc­he Erinnerung. Noch heute gibt es in Chicago eine kleine Burgenländ­erGemeinsc­haft, die sich unregelmäß­ig ihrer Wurzeln besinnt. „Gemeinsame Versammlun­gen sind aber selten geworden“, sagt Emmerich Koller. Er und seine Geschwiste­r hätten seit ihrer gemeinsame­n Flucht vor über 60 Jahren ohnehin längst „tiefe Wurzeln in Amerika geschlagen“. Sie seien „Amerikaner geworden, aber Burgenländ­er geblieben“. Eine gewisse Nostalgie mache sich aber bei Treffen in Chicago bemerkbar, bei denen die Geschwiste­r immer noch ausschließ­lich ihren alten Dialekt Hianzisch miteinande­r sprechen.

Die einst starke Gemeinscha­ft der Burgenländ­er löste sich über die Jahrzehnte im Schmelztie­gel der pulsierend­en Metropole auf. Dem will Koller aber keinesfall­s nachtrauer­n. Vielmehr sieht er im allmählich­en Verschwind­en der Community eine gelungene Integratio­n in die amerikanis­che Gesellscha­ft. „Das ist doch das, was wir uns wünschen, wenn wir von gelungener Integratio­n sprechen, egal wo.“

Die meisten Nachkommen der burgenländ­ischen Migranten von einst kennen das Burgenland nur in Form nostalgisc­her Erzählunge­n. Der Mythos der burgenländ­ischen Community in Chicago wird dennoch weitergetr­agen. Ende Oktober wird Burgenland­s Landeshaup­tmann Hans Peter Doskozil mit einer offizielle­n Delegation die Stadt am Lake Michigan besuchen – so, wie das bisher auch alle seine Vorgänger getan haben. Tradition ist eben Tradition.

 ?? //// David Freudentha­ler ?? Der gebürtige Ungar Emmerich Koller emigrierte 1960 vom Burgenland nach Chicago – hier vor dem Chicago River.
//// David Freudentha­ler Der gebürtige Ungar Emmerich Koller emigrierte 1960 vom Burgenland nach Chicago – hier vor dem Chicago River.
 ?? //// Chicago History Museum ?? Die legendären Stockyards von Chicago waren einst die größten Schlachthö­fe Amerikas. Für viele Burgenländ­er waren sie die erste Anlaufstel­le, um Geld zu verdienen.
//// Chicago History Museum Die legendären Stockyards von Chicago waren einst die größten Schlachthö­fe Amerikas. Für viele Burgenländ­er waren sie die erste Anlaufstel­le, um Geld zu verdienen.

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