Heiße Luft und ein Hechtsprung
Nächstes Jahr wird Paris die Olympischen Sommerspiele ausrichten, die Mode für diese Saison wurde soeben präsentiert. Man fürchtete sich parallel vor Insekten und träumte vom Picknicken.
Eines gleich vorweg: Das begleitende Storytelling für Paris als ultimativen Luxusschauplatz und Austragungsort der Olympischen Sommerspiele hätte vielleicht besser ausfallen können, als sich das globale Modevolk zum Abschluss eines ohnehin recht anstrengenden „Fashion Month“für das Schauentreiben vor Ort einfand. „Punaise de lit“war das „mot du jour“, fatalerweise, denn von der Bettwanzenplage zu einer Nacht im Ritz ist es zumindest gedanklich ja ein doch recht weiter Sprung. Die unseligen Insekten waren also tatsächlich auch Gesprächsthema Nummer eins, wenn man gerade artig in den Rängen Platz genommen hatte und – das kann schon einmal fast eine Stunde dauern – auf den Beginn eines Defilees wartete.
Aber die Mode! Erster Höhepunkt der Fashion Week (man zeigte übrigens Kleidung für Frühling und Sommer 2024, dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt) war das Defilee von Dior. Maria Grazia Chiuri überlässt ohnehin gern viel vom Storytelling in ihren Präsentationen den Künstlerinnen, die sie für die Gestaltung der Showarchitektur einlädt: Diesmal war es Elena Bellantoni, die mit Stereotypen von Werbeslogans spielt und sie bricht, für eine engagierte GenZKlientel ins Gegenteil verkehrt. Chiuris Entwürfe waren im Vergleich dazu viel zurückhaltender. Die Designerin spielte mit dem Kontrast zum knalligen Hintergrund und machte klar, dass – besonders nach Abflauen der „Barbiecore“Euphorie, nicht immer alles zuckerlrosa ist.
Auf einen knalligen Hintergrund setzte auch Nicolas Ghesquière bei Louis Vuitton. Seine Kollektion, einerseits luftigleicht und bauschig, dann wieder die konstruierten AliceimWunderlandSilhouetten, die ihm so am Herzen liegen, wurde in einem entkernten Häuserblock an den ChampsÉlysées gezeigt. Der baustellenähnliche Showspace war zur Gänze mit orangefarbenem Plastik ausgeschlagen, das sollte an das Innere eines Heißluftballons erinnern. Die Temperaturen („canicule tardive“, also verspätete Hitzewelle, war gleich nach „punaise de lit“auf der Bestenliste der FashionWeekVokabeln) im nicht klimatisierten Inneren waren sehr gut geeignet, das Heißluftthema dieser Installation zu begleiten. Anschließend vernahm man, dass Louis Vuitton hier ein Hybrid aus Flagshipstore, Kulturzentrum und, ja, erstem markeneigenen Luxushotel zu eröffnen gedenkt.
Die entwendeten Kleider. Aufregung muss ja während Modewochen immer sein. Und damit war ausnahmsweise bei dieser Edition nicht nur das frenetische Jubeln gemeint, wenn ein Mitglied des KardashianClans, Paris Hilton oder koreanische Popstars ihren Limousinen entstiegen, sondern es ging um durchaus Handfestes. Der Lieferwagen, der die BalmainMusterkollektion vom Flughafen in die Stadt bringen solle, wurde „gecarjackt“: So nennt man das Entwenden eines Gefährts im Beisein des Fahrers; dem Vernehmen nach mehren sich solche Fälle gerade in Paris. Besonders böse Zungen, auch diese gibt es in dieser Branche, unterstellten Kreativdirektor Olivier Rousteing, dass es sich um einen PRStunt handeln könnte, die Marke so im Vorfeld Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Das wäre aber selbst für die Modewelt des Dramatisierens ein wenig zu viel. Die Laufstegpräsentation konnte am Ende trotzdem fast wie geplant stattfinden. Dank des unermüdlichen Einsatzes der berühmten „Petites mains“in den Ateliers konnten wohl 70 Prozent der Kollektion rekonstruiert werden.
Mit ähnlich großem, wenngleich nur punktuellem, Einsatz sicherte sich der InfluencerEvergreen Bryan Yambao („Bryanboy“) wohl einen ewigen Frontrowplatz bei Hermès. Während der von Sommerwiesen, Picknickfantasien und einem Zelebrieren von Freundschaftsbanden inspirierten Kollektionspräsentation in einem mondänen Gestrüpp (Allergiker im Publikum beruhigte man: Alle Pflanzen seien allergengetestet) entriss er mit einem Hechtsprung aus der ersten Reihe einer Aktivistin, die auf einem kleinen Transparent gegen die Verarbeitung von exotischem Leder protestierte, den Zettel, den sie hochhielt. Es gebe andere Orte, um solche Diskussionen auszutragen, kommentierte dies später ein hochrangiger Vertreter des Maisons.
Inhaltlich überraschend nahe an der Inspiration von HermèsDesignerin Nadège VanheeCybulski war jene der in Antwerpen lebenden Österreicherin Florentina Leitner angesiedelt. Sie hatte vorab den etwas verqueren SiebzigerjahreMysteryschinken „Picnic at Hanging Rock“gesehen, eine australische Produktion aus dem Jahr 1975, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt. Diese viktorianische, romantisierende Idee passt gut zu Leitners eigener Ästhetik, als Picknicksnack inkludierte sie diesmal Kirschenreferenzen aller Art in ihre Entwürfe.
Dass man in den Shownotes einer in Paris gezeigten Kollektion ein Dankeswort an das Wiener MAK vorfindet, passiert auch nicht alle Tage. Albert Kriemler aber, der kunstsinnige Kreativchef der Schweizer Marke Akris, hatte sich Entwürfe der WienerWerkstätteTextildesignerin Felice RixUeno genauer angeschaut und in seine Kollektion integriert. Um das Ganze abzurunden und die 100JahrFeierlichkeiten der Marke gebührlich zu beschließen, defilierten die Mannequins zu beflügelnder LiveMusik im papierenen Mohnblumenhain.
Ein Ausflug in den Süden. Berührend war der Hintergrund der MiuMiuKollektionspräsentation: Fabio Zambernardi, der seit 20 Jahren als Designer für die PradaGruppe tätig ist, zog mit seiner letzten Damenkollektion den Hut und verabschiedete sich von einem Publikum, das seine Arbeit kennt und schätzt. Die kommerziell sehr erfolgreiche Linie von Miu Miu setzte er auch mit dieser Schlussrunde fort: Mikrominis, sehr tief geschnitten, sind weiterhin im Angebot, außerdem einige Looks, die androgyn in Richtung der Unisexmode weisen – unterstützt von einem dahin gehenden Casting der Models.
Bei Chanel zeigte Virginie Viard das, worauf sie sich besonders gut versteht: Mode nämlich, die ästhetisch von ihren SüdfrankreichAssoziationen zehrt. Die Villa Noailles, ein architektonisches Schmuckstück in der Nähe von Hyères, existiert seit 1923, und dieses besondere Bauwerk mit seiner in der Landschaft des Midi verankerten Anmutung feierte Viard mit einer Kollektion, die auch für ein CroisièreModethema gut gepasst hätte – so groß war die Reiselust, die sie vermittelte.
Isabelle Huppert und die Schneiderei. Die persönlichste, auch berührendste Präsentation der Woche gab es bei Balenciaga zu sehen. Seit Ende letzten Jahres ist der zuvor geradezu astronomische Hype um das Maison nach einem Skandal etwas abgeflaut, der auch die auf Provokation getrimmte Herangehensweise von Kreativdirektor Demna Gvasalia etwas schaumbremste. Für die Inszenierung hatte diesmal Isabelle Huppert, die große Schauspielerin, einen französischen Anleitungstext zur Fertigung eines Damenkostüms eingelesen. Diese großartige Tonspur steigerte sich vom nüchternen zu einem überaus erregten Ton, gegen Ende hin unterlegt von Technomusik.
Das spiegelte die zunehmende Aufregung kurz vor Fertigstellung einer Kollektion wohl ganz gut wider (man denke an die verlorenen Modeprototypen bei Balmain!). Demna Gvasalia griff diese Entgeisterung mit Entwürfen auf, bei denen ein klassisch konstruiertes Kleid um Versatzstücke, Auswüchse von Kragenteilen und Ärmeln an unpassender Stelle etwa, ergänzt wurde. Der mittlerweile bestens bekannte Mix aus konstruierten Silhouetten, übertriebenen Schulterpartien und Streetwear für die junge Fangemeinde war auch diesmal vorhanden. Warum auch mit Bewährtem brechen, wenn man sich als Designer zugleich von seiner verletzlichsten Seite zeigt?
#PFW
Dunkle Mode vor Zuckerlrosa bei Dior, im orangefarbenen Heißluftballon bei Louis Vuitton.
Florentina Leitner und Hermès dachten an Picknick, Virginie Viard bei Chanel an den Midi.