Ein Grund, Japanisch zu lernen
Der NetflixHit »One Piece« kommt nicht allein: Japanische AnimeSerien sind von der NerdEcke auf dem Weg in den Mainstream. Wer tief in ihre Welt eindringen will, bucht gar einen Sprachkurs.
Wenn das TeenagerMädchen Kiruko auf die meist völlig menschenleeren Straßen geht, tut sie das nie ohne ihre Waffe. Es ist eine kleine Pistole, mit der sie nur zwei bis drei Schüsse eines mysteriösen Strahls abgeben kann, bevor die Batterien des Geräts erschöpft sind. Und Aufladen ist für das Mädchen mit den brünetten Haaren und den buschigen Augenbrauen nicht so einfach, mitten in devastierten japanischen Großstädten. Denn die Serie spielt 15 Jahre nach einer nicht näher erklärten Apokalypse.
Wenn Kiruko in dieser kalten, feindlichen Welt ihre Pistole abfeuert, und das kommt nicht selten vor, tut sie das, um Körperfresser abzuwehren. Die wollen sich über die letzten verbliebenen Menschen hermachen. Einmal sind sie fatalerweise unsichtbar, einmal bunt schillernde Monster. Sie sind jedenfalls das große Böse in „Tengoku Daimakyou“(„Das verlorene Paradies“), einer der jüngsten HitSerien, die Disney für seinen StreamingDienst Disney+ produzieren hat lassen.
AnimeSerien wie „Tengoku Daimakyou“oder „Demon Slayer“(deren lang erwartete vierte Staffel nun auch in Europa zu sehen ist) sind in Japan seit Langem Mainstream. Sie gehören fix zur Alltagskultur dazu, niemand würde sie als Kinderkram abtun. Auch in Europa finden sie ein immer breiteres Publikum. Wobei dieses noch oft jung ist und schnell in die bunte Welt der Tausenden Zeichentrickserien hineinkippt. Nach sich zieht das einen Rattenschwanz an Merchandise: TShirts, Figuren in allen Qualitätsstufen, ja sogar Repliken von Katana, japanischen Schwertern, sind aus manchen europäischen Jugendzimmern nicht mehr wegzudenken. Und über die Jugendlichen stecken sich auch immer mehr Eltern mit dem höchst virulenten AnimeVirus an.
So kämpfen sich die niedlichen, bunten Figuren durch die oft keineswegs niedlichen Handlungen (Blut! Gliedmaßen! Eingeweide!) und somit in den europäischen Mainstream vor. AnimeConventions schießen nach Corona wie die Pilze aus dem Boden. Allein in Ostösterreich sind diesen Herbst etliche Großveranstaltungen von Schwechat (Yunicon) über Wien (Comic Con) bis Amstetten (Mosticon) geplant. Dort werden etwa die besten CosplayKostüme prämiert: AnimeFans verwandeln sich gern mit selbst genähten Kostümen in ihren Lieblingscharakter. Und so kommt es, dass Näh, Leder oder asiatische MakeupWorkshops plötzlich restlos ausbucht sind. Vor zehn Jahren hätte das auch niemand vermutet.
Japanisch mit Untertiteln. Auch SprachenApps verzeichnen einen Anstieg beim jungen Publikum. Japanisch zu lernen ist die Königsklasse der AnimeLiebe. Mittlerweile haben Animes ihre Premiere gleichzeitig in Japan und Europa. Für so etwas wie eine englische oder gar deutsche Synchronisation bleibt da vorerst keine Zeit. Mit ein bisschen Glück gibt es englische Untertitel. Wer weiter ins Thema einsteigen will, kann schon damit beginnen, sich in die Sprache zu vertiefen. Es gibt Sprachkurse und Malbücher für KanjiZeichen für den deutschsprachigen Markt – und ihr Verkaufsrang in den einschlägigen OnlineShops ist beachtlich.
Wer in Europa Animes konsumieren will, kommt an einem Streamingdienst nicht vorbei: Crunchyroll (im Besitz von Sony) hat zuletzt den AnimeStreamingDienst Wakanim übernommen, der im November eingestellt wird. Dass Monopole nie gut sind, kann man hier im Kleinen sehen: Kam man bisher mit fünf Euro fürs Monatsabo aus, sind es nun zehn. Dafür hat man bei Crunchyroll Hunderte AnimeSerien abrufbereit. Vieles im Original mit Untertiteln. Aber das stört wahre Fans nicht, denn mit der japanischen Sprache verlieren die Serien auch ein Stück weit ihre Seele. Und so fordert die japanische Tonspur auch die absolute Aufmerksamkeit der Zuseher ein: Wer eine japanische Serie sieht, muss die Untertitel lesen. Nebenbei am Handy scrollen geht sich da nicht mehr aus.
In Japan würde niemand die bunten Zeichentrickserien als Kinderkram abtun.
Meterlange Arme: In »One Piece« überträgt sich die AnimeÄsthetik auf echte Schauspieler.
Tatsächlich sind es häufig Mysteryund ScienceFictionGeschichten, die besonders attraktiv sind. Aber Animes gibt es in allen Genres: von Liebesromanze („Maidsama“) und HighschoolLeben („Kimi ni todoke“) bis zum viktorianischen Vampirdrama („The Case Study of Vanitas“), von epischen Kämpfen bei „Dragon Ball“und „Pokémon“bis zur Alchemie als Mittel gegen den Tod („Fullmetal Alchemist“).
Piraten made in Japan. Eine der erfolgreichsten AnimeSerien ist „One Piece“, die Netflix gerade als RealSerie ins Rennen geschickt hat. Sie war schon als Buch ein Hit: Keine andere MangaSerie hat sich international so häufig verkauft – kolportiert werden mehr als 500 Millionen Exemplare. Eine Gruppe von Piraten unter der Führung von Monkey D. Ruffy sucht darin den Schatz des Piratenkönigs Gol D. Roger. Der hat kurz vor seiner öffentlichen Exekution seltsame Andeutungen gemacht …
Wie so oft läuft es auf Kämpfe gegen mächtige Gegner hinaus. In der Realverfilmung versuchte man, mit Spezialeffekten AnimeFeeling zu verbreiten – etwa wenn sich Gliedmaßen plötzlich auf mehrere Meter ausdehnen können. Anime als Trendsetter für Hollywood? Warum nicht.