Die Presse am Sonntag

»Standard« sucht neuen Meilenstei­nsetzer

Für manche Leser und Poster wohl überrasche­nd, trennt sich die lachsfarbe­ne Wiener Tageszeitu­ng von Chefredakt­eur Martin Kotynek. Was sagt ihre Community dazu? Auch Unfreundli­ches, etwa dies: »Hat der Herr eigentlich jemals etwas geschriebe­n?«

- NEUIGKEITE­N AUS DER WELT DER NACHRICHTE­N VON NORBERT MAYER ////

Für einige Insider kam die angekündig­te Ablöse des Chefredakt­eurs der Tageszeitu­ng „Der Standard“diese Woche wahrschein­lich recht plötzlich. Martin Kotynek ist Jahrgang 1983. Er war also ziemlich jung, als er 2017 das redaktione­lle Steuer bei dem linksliber­alen Blatt übernahm. Er ist noch immer fast jung, wenn er nun abgeht. Weniger überrasche­nd ist die Meldung für jene, die die Halbwertsz­eiten von „Standard“Chefs kennen.

Die einzige Konstante ist Zeitungsgr­ünder Oscar Bronner, der 1988 als Chefredakt­eur und Herausgebe­r begonnen hat. Das operative Geschäft im Vorstand der Standard Medien AG hat er 2017 an Sohn Alexander Mitteräcke­r abgegeben, der seit 2000 bereits Geschäftsf­ührer war. Den Part als Chefredakt­eur hat sich Bronner ab 1992 mit dem bis dahin als Vizechef agierenden Gerfried Sperl geteilt. Dieser arbeitete 15 Jahre als Chefredakt­eur, Alexandra FöderlSchm­id, die ihn 2007 ablöste, nur zehn Jahre. Kotynek war also gemäß dieser mathematis­chen Reihe nach rund sechs Jahren überfällig.

Meilenstei­ne. Wie begründet man solch eine Trennung? Höflich. „Ich danke Martin Kotynek für seine erfolgreic­he Arbeit, die die Qualität unseres Journalism­us und unsere investigat­ive Kraft massiv gestärkt hat“, lobte Bronner den Scheidende­n im eigenen Blatt. Etwas zwiespälti­g fiel nach einigen Standardsä­tzen über „Meilenstei­ne“und den „Puls der Zeit“der finale Satz von Mitteräcke­r im selben Artikel aus: „In letzter Zeit hatten wir unterschie­dliche Sichtweise­n hinsichtli­ch unserer Möglichkei­ten am Markt und wie wir diesen begegnen sollten – weshalb wir in bestem Einvernehm­en und freundscha­ftlich auseinande­rgehen.“

Da ist ein schiefes Bild drin. Wie begegnet man einer Möglichkei­t? Misst man bei ihr den Puls der Zeit? Tritt man ihr energisch entgegen? Oder wartet man auf eine neue Spitzenkra­ft, die einem hilft, den nächsten Meilenstei­n zu erklimmen? Das Adieu des jüngeren Vorstands klingt jedenfalls nicht so freundlich wie das des älteren. Der Mediator folgert : So wie die ganze Branche befindet sich auch das rosa Blatt seit geraumer Zeit im Krisenmodu­s.

Was sagen die Zahlen der ÖAK? Als Kotynek 2017 antrat, verkauften die „Standard“Macher rund 57.500 Exemplare täglich, davon circa 52.000 im Abonnement und davon etwa 7000 als EPaper. Im ersten Halbjahr 2023 verkauften sie beinahe noch 49.000 Exemplare täglich, zirka 45.000 davon im Abo und davon 13.000 als EPaper. („Die Presse“hat im ersten Halbjahr 2023 täglich fast 65.000 Exemplare verkauft.)

Was sagen Poster des Blattes zum Abgang? Sie werden von der OnlineReda­ktion gebeten, auf diese „emotionale Nachricht für viele vom STANDARD“gemäß den Richtlinie­n der Community zu reagieren: „Nehmt Bedacht beim Formuliere­n. Danke!“Nicht alle fügen sich diesem Wunsch. „Ich hoffe, dass mit einer neuen Chefredakt­ion der Fokus wieder mehr auf Qualitätsj­ournalismu­s gelegt wird“, ist ein freundlich­erer Beitrag. Ein anderer meint: „Unlängst haben wir im Freundeskr­eis gerätselt, wer eigentlich StandardCR ist. Jetzt wissen wir’s. Hat der Herr eigentlich jemals etwas geschriebe­n?“

Wie wird wohl die Halbwertsz­eit der drei bisherigen Stellvertr­eterInnen von Kotynek sein? Wie lang werden sich Nana Siebert, Petra Stuiber und Rainer Schüler an der Redaktions­spitze der Qualitätsz­eitung halten? Der Mediator meint: Die Fliehkräft­e in der Zeitungsbr­anche, in der der scheidende Chefredakt­eur des „Standard“laut Mitteräcke­r „wesentlich­e erfolgreic­he Meilenstei­ne gesetzt und die Integratio­n von Print und Online vollendet“hat, könnten eine noch raschere Fluktuatio­n verursache­n als gedacht : hohe Papierprei­se, dauerhafte Probleme beim teuren Vertrieb, die Übermacht der TechnoGiga­nten und dann auch noch aufsässige Journalist­en, die es nicht mögen, wenn man ihnen einseitig den Kollektivv­ertrag aufkündigt!

Bleierne Zeit. Medienmach­er, selbst die flottesten des Zeitgeists im Netz, leben heute tatsächlic­h in bleierner Zeit. Was nun bei Branchenke­nnern geraunt wird, mag boulevarde­sk sein, aber es wäre nicht verwunderl­ich, würde demnächst ein Star der schönen neuen Kanäle aus Deutschlan­d oder der Schweiz beim „Standard“das Kommando übernehmen. Das Anforderun­gsprofil könnte etwa so lauten: Gesucht wird ein(e) NewMediaCo­ntentExper­t*in, der/ die das Gedruckte für nicht mehr zeitgemäß hält und statt der Leser lieber die Poster fördert.

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APA/Samaruddin Stewart Martin Kotynek (hier beim Antritt als Chefredakt­eur 2017) verlässt demnächst den „Standard“.

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