Was heißt schon scheitern? Die Revolutionen von 1848
Warum sollte uns heute der Aufstand von 1848 interessieren? Die Fragen, die damals aufgeworfen wurden, stehen heute noch auf dem Prüfstand, so der Historiker Christopher Clark in seinem monumentalen Werk über Europas »Frühling der Revolution«.
Leben: Das musste doch mehr bedeuten, als nur nicht zu sterben. Eine Welle von schreckenerregenden Berichten schwappte in den 1830er und 1840erJahren durch ganz Europa. Die Autoren hatten die Fabriken und die feuchten Kellerwohnungen der Ärmsten aufgesucht, hatten die Kinderarbeit und die Sterblichkeitsraten studiert, die extremen Unterschiede in der Lebensqualität zwischen wenigen Reichen und vielen Armen statistisch belegt. Ihre moralisierende Energie war groß, sie wollten ihr Wissen nicht mehr verbergen, die Verhältnisse so schildern, wie sie waren. Für wen? Die bessergestellten bürgerlichen Schichten, deren Stadtviertel oft unmittelbar an die Elendsquartiere angrenzten, blendeten diese neu entdeckte Welt, die „soziale Frage“, aus. Anders die Verfasser der Studien. Aus ihnen sprach moralische Panik.
Sie dachten nach: Was müssen wir verbessern, wie gegensteuern? Oder sie propagierten gleich den Aufstand, die Revolution. Die kam dann auch, und zwar so intensiv und zeitgleich in solcher Reichweite, dass sie zumindest in der europäischen Geschichte einzigartig war. „Keine andere davor und danach hatte eine vergleichbare transkontinentale Lawine ausgelöst“, schreibt Christopher Clark in „Frühling der Revolution“, seinem Buch über das Europa von 1848/49: „Es war die einzige wahrhaft europäische Revolution der Geschichte.“Erst im Rückblick wurde sie nationalisiert und in der Erinnerungskultur der europäischen Staaten vereinnahmt. Damals war sie ein Moment der gemeinsamen Erfahrung.
Pauperismus. Was war schuld an der Verelendung, die zu den Aufständen führte? Manche sahen die Armen, ihre Laster, ihren Müßiggang, als Urheber ihres eigenen Unglücks, andere die Arbeitsbedingungen in dem industriellen System, andere das starke Bevölkerungswachstum. Christopher Clark nimmt alle Argumente unter die Lupe, untersucht die Widersprüchlichkeiten. Die
Massenarmut verbreitete sich in Europa schon vor der Industrialisierung und auch in bevölkerungsarmen Regionen. Durch den modernen Ackerbau nahm der Vorrat an Lebensmitteln eigentlich zu. Wo lag dann das Problem? Gab es etwa Lieferkettenprobleme wie heute, die Wut und Zorn auslösten? Ja, es war die Verwundbarkeit des Systems: Kam es bei der Lebensmittelversorgung durch Witterung oder Schädlinge zu Ausfällen, konnte die größere Bevölkerungszahl nicht mehr ernährt werden. Und das geschah in den 1840erJahren. Die direkte Folge waren schwere Existenzkrisen, Hungersnot und Seuchen.
Der Kampf um jede erdenkliche Ressource führte vor 1848 in ganz Europa zu einem Panorama sozialer Konflikte. Sämtliche Formen des Glaubens, der Autorität, der sozialen Bindungen schienen erschüttert, keiner wusste, wohin die Reise ging. Bürger brannten Lagerhäuser nieder, schossen bei der Holzsuche im Wald auf Forstbeamte, stritten um Fischrechte, stellten sich den Behörden auf den Marktplätzen mit Heugabeln gegenüber, die Frauen mit Pflastersteinen in den Schürzen. Ein „Crescendo der Instabilität“, so Clark. Es gab zwar Denker, die die Lage analysierten, aber noch keine Parteien, keine Ideologien mit Programmen und Rezepten, seien sie konservativer, liberaler oder linker Provenienz.
vor 1848 in ganz Europa zu einem Panorama sozialer Konflikte.
Wie konnte das sein, dass auch hart arbeitende Menschen wie die schlesischen Weber hungern mussten? Das Problem der „Erwerbsarmut“– es ist bis heute eine der brennendsten Fragen in der Sozialpolitik. Damals sympathisierte das kulturelle Umfeld in Preußen mit dem Aufstand der Weber. Doch warum blieben die Täler Schlesiens passiv, als dann die Revolution ausbrach? Es gab „keinen direkten Zusammenhang zwischen Entbehrung und Revolution“, schreibt Clark. Armut macht die Menschen unfähig zu konzertierten Aktionen. Rohe Gewaltausbrüche rufen Angst hervor, sind aber noch nicht Politik. Dafür braucht es ein Netz von Ideen, unzählige Gedankenketten, liberale, radikale, feministische, und Charismatiker, die sie laut aussprechen.
Die Revolutionen, die 1848 ausbrachen, waren, so Clark, „nicht die Frucht lange ausgearbeiteter Pläne und Verschwörungen, sondern massiver sozialer Proteste, geschürt von einer Mischung aus politischer Opposition und einem gravierenden ökonomischen Ungleichgewicht“. Wie eine „Welle“hätten sie sich in Europa ausgebreitet, liest man oft, ausgehend von Palermo und Paris. War es also wie ein Dominoeffekt? Nein, sie lösten sich nicht gegenseitig aus, aber sie waren auch nicht unabhängig voneinander, sie waren verwandt, denn Europa besaß eine gemeinsame politische Kultur, seine Ordnung war verknüpft.
Der Kampf um Ressourcen führte
Explosionen. Ab März 1848, als auch in Wien die Revolution ausbrach, ist es unmöglich, eine lineare Abfolge von einem Schauplatz zum nächsten zu verfolgen. Es kam zu gleichzeitigen Explosionen. Der Historiker verzweifelt, so Clark kokett. Doch er verliert den Faden angesichts des Tempos der Ereignisse nicht, wenn er die Hals
überKopfZugeständnisse, das Zusammenbrechen von Regimen und das Entstehen von neuen Machtzentren schildert. Die alte Macht wich nämlich rasch zurück, gab zu verstehen: Wir haben verstanden. „Meine Herren, alles ist genehmigt“, hieß es auf dem Berliner Schlossplatz. Stoisch begrüßte in Wien Fürstin Melanie Metternich am 13. März ihren Mann: „Sind wir ganz tot?“„Ja, meine Liebe“, antwortete der, „wir sind tot.“
mit Programmen und Rezepten.
Nun gibt es keine Haupterzählung mehr, sondern unterschiedliche Persönlichkeiten und Parteien, die miteinander ringen, eine Interaktion zwischen verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kräften, dezentral, räumlich weit über Europa verstreut, von Frankreich über Italien. Deutschland, Polen bis Österreich, Ungarn, Rumänien, die Slowakei: Alle waren in Bewegung, alle suchten ihre Rolle. Schon im Mai merkte man die Spaltungstendenzen bei den Aufständischen, im Sommer ging die trügerische Einmütigkeit des Frühlings verloren. Die Revolution verlor ihre Unschuld, so ein hämischer Karl Marx. Im Herbst kam die Konterrevolution ins Rollen, die Tage der Abrechnung begannen, alles exemplarisch studierbar am Beispiel Wiens. Ende Sommer 1849 waren die Revolutionen weitgehend vorüber.
Das Buch ist ungeheuer spannend zu lesen, vom Anfang bis zum Ende, trotz seines Umfangs. Das 19. Jahrhundert war im geistigen Sinn immer schon die Heimat von Christopher Clark. In der Einleitung erzählt er, dass er sich lang nicht mit 1848 beschäftigte, weil er vom Stigma des Scheiterns der Revolution abgeschreckt wurde. Von einem Fehlschlag zu erzählen, erschien ihm weniger attraktiv. Andererseits wurde ihm zunehmend bewusst : Die Welt nach 1848 war eine ganz andere Welt als die davor. Zu viel war verändert worden. In vielen Ländern gab es einen zügigen und dauerhaften konstitutionellen Wandel. Ist es zutreffend, da von Scheitern zu sprechen? Und sind wirklich alle Kräfte gescheitert oder nur die radikalen, die die Demokratie wollten und dabei unterlagen?
Betrachtet man das Ergebnis von 1848 nicht nur aus dem Blickwinkel einer Gruppe, so merkt man nach Clark: „Revolutionen werden nicht nur von
Revolutionären gemacht, sondern sind die Begegnung zwischen alten und neuen Kräften.“Es gab die gemäßigten Liberalen, sie waren erfolgreich, setzten viele Ideen durch, Verfassungen, mehr Freiheiten. Wie auch das Beispiel Österreichs zeigt, arrangierten sie sich situationselastisch rasch mit den restaurativen Kräften. Sie gaben viel auf, um an die Macht zu kommen. Die Konservativen lernten aus dem Geschehen. Die, die stur an der alten Welt festhielten, weil sie immer noch die Armeen hinter sich hatten, gerieten auf die falsche Seite der Geschichte. Andere retteten sich hinüber, weil sie flexibel waren, weil sie merkten, dass die von der Revolution entfesselten Kräfte kanalisiert werden mussten. Auch die Linken mussten das lernen.
Die Fragen, die damals aufs Tapet gebracht wurden, stehen heute immer noch auf dem Prüfstand. Es ist das Verhältnis zwischen Kapitalismus und sozialer Ungleichheit, Fragen zu Armut und zum Recht auf Arbeit, die soziale Krise in den Städten, die Angst der Mittelschicht vor den Rändern, überhaupt der Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das Scheitern des Dialogs. Die Unruhe, der das Gespür für die Richtung fehlt, in die es gehen soll: Wir kennen das auch heute.
Es gab zwar Denker, aber noch keine Parteien, keine Ideologien