Die Presse am Sonntag

Ein ganzes Land zieht in den Krieg

Steht bereit, um die Hamas zu besiegen. 360.000 Frauen und Männer streiften die Uniform über. Der Kraftakt zeigt: Das Militär spielt in der Gesellscha­ft des bedrohten Landes eine herausrage­nden Rolle.

- VON MAREIKE ENGHUSEN (TEL AVIV)

Es war spät geworden am Abend vor dem Tag, der alles verändern sollte. Rachel Ravid, eine 33jährige Israelin mit amerikanis­chen Wurzeln, war mit ihrem Mann und ihrem Baby auf einer Dinnerpart­y gewesen und spät ins Bett gekommen. Das schrille Heulen der Sirenen riss die Familie in ihrer Tel Aviver Wohnung am frühen Morgen aus dem Schlaf. Kurz nachdem sie in den Schutzraum geflohen waren, einen speziell verstärkte­n Raum, wie ihn in Israel alle modernen Wohnungen besitzen, gingen die ersten Nachrichte­n ein: Mehrere Freunde ihres Mannes waren zum Armeediens­t eingezogen worden. Wenig später erhielt auch er selbst die Nachricht der Armee, der israelisch­en Streitkräf­te IDF. Keine zwei Stunden später reiste er ab.

„Er ist schon oft zum Reservedie­nst einberufen worden, aber noch nie zum aktiven Dienst“, sagt Ravid. Inzwischen ist ihr Mann im Norden des Landes stationier­t, wann sie ihn wiedersehe­n kann, weiß sie nicht. „Es ist emotional belastend, um es vorsichtig auszudrück­en“, sagt sie am Telefon, während im Hintergrun­d ihr zehn Monate altes Baby quengelt. „Ich versuche, geduldig zu sein, nicht zu sehr an die Zukunft zu denken. Aber es ist schwer, in permanente­r Unsicherhe­it zu leben.“

Massive Mobilisier­ung. Seit dem terroristi­schen Großangrif­f der Hamas am Samstag vor einer Woche, beispiello­s sowohl in seinem Ausmaß als auch in seiner Grausamkei­t, ist Israel ein anderes Land. 1300 Menschen wurden ermordet, mindestens 120 entführt, darunter etliche Frauen, alte Menschen, Kinder und Babys. Israel zeigt sich entschloss­en, nun sehr hart zurückzusc­hlagen, um das Element der Abschrecku­ng wieder herzustell­en. Das Ziel dieses Krieges besteht darin, die militärisc­hen Kapazitäte­n der Hamas komplett zu zerstören und ihre Kontrolle über den Gazastreif­en zu beenden. Dafür reichen die Luftschläg­e, die Israels Militär seit mehr als einer Woche Tag und Nacht auf Ziele der Hamas fliegt, nicht aus. Analysten rechnen mit einer umfangreic­hen Bodenoffen­sive, die mehrere Monate dauern könnte. Dafür spricht auch die massive Mobilisier­ung der Reserviste­n.

Der reguläre Wehrdienst dauert in Israel für Frauen zwei und für Männer drei Jahre.

360.000 Reserviste­n hat Israels Armee eingezogen, die meisten davon innerhalb von 48 Stunden. Noch nie in Israels Geschichte hat die IDF so viele Menschen in so kurzer Zeit mobilisier­t. Es ist eine gewaltige Zahl für ein kleines Land wie Israel. Im Verhältnis zur Bevölkerun­g entspricht sie zum Beispiel 2,7 Millionen Menschen in Deutschlan­d.

„Das ist erst der Anfang.“Bis Samstagnac­hmittag hatte die Bodenoffen­sive noch nicht begonnen. Doch die Zeichen, dass sie bevorstehe­n könnte, hatten sich in den vergangene­n Tagen stetig verdichtet. Am Freitag rief die IDF die Menschen im Gazastreif­en dazu auf, ihre Häuser zu verlassen und sich zu ihrer eigenen Sicherheit in südlichere Gebiete zurückzuzi­ehen (siehe auch Artikel rechts). Die Vereinten Nationen kritisiert­en Israel dafür stark: Der Aufruf betreffe mehr als eine Million Menschen – mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g im Gazastreif­en –, sei unrealisti­sch und für viele Menschen sogar gefährlich, so die UNO.

Doch Israel wird sich in dieser außergewöh­nlichen Lage nicht von seinen Plänen abbringen lassen. „Unsere Feinde haben gerade erst begonnen, den Preis zu bezahlen“, sagte Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu am Freitagabe­nd. „Ich werde unsere Pläne nicht offenlegen, aber ich sage Ihnen, das hier ist erst der Anfang.“

Israel zählt zu den wenigen Ländern auf der Welt, die sowohl Männer als auch Frauen zum Wehrdienst verpflicht­en. Ausnahmen gibt es nur für die arabischen und die streng religiösen Minderheit­en. Der reguläre Wehrdienst für Frauen dauert zwei, jener für Männer drei Jahre; wer anschließe­nd den Offiziersl­ehrgang belegt, bleibt sechs Jahre in Uniform.

Viele müssen auch danach regelmäßig zum Reservedie­nst antreten, wobei die Häufigkeit der Dienste stark variiert : Mitglieder spezieller Kampfeinhe­iten müssen regelmäßig trainieren, während die, die in ihrer Armeezeit bürokratis­che Rollen erfüllt haben, kaum je zum Reservedie­nst einberufen werden. Für die meisten unterhalb des Offiziersr­angs endet die Pflicht zum Reservedie­nst im Alter von 40 Jahren.

Vor Kurzem noch standen die Reserviste­n in Israel im Mittelpunk­t einer Kontrovers­e. Das Land stritt um eine geplante Justizrefo­rm, und Tausende frühere Soldaten, darunter Mitglieder der Luftwaffe und wichtiger Spezialein­heiten, drohten damit, ihren Reservedie­nst zu verweigern, sollte die rechtsreli­giöse Regierung

ihre Pläne durchsetze­n. Hochrangig­e Armeevertr­eter warnten, der Boykott der Reserve drohe der Einsatzfäh­igkeit der IDF zu schaden. Manche Analysten glauben nun, die Nachrichte­n von einer möglichen Schwächung der Armee hätten bei den Planungen der Hamas und ihres Sponsors, des Iran, eine Rolle gespielt.

»Da ist viel Trauer, Wut, viel Hoffnungsl­osigkeit. Ich unterdrück­e diese Gefühle.«

Das Land steht zusammen. Nun aber ist es in Israel wie immer in Stunden der Not: Das Land steht zusammen. Viele Organisati­onen der Protestbew­egung haben sich über Nacht in soziale Initiative­n verwandelt, sammeln Sach und Geldspende­n für Menschen, die wegen der Massaker im Süden des Landes ihre Häuser verlassen mussten, und unterstütz­en die Armee in Wort und Tat. Manche Einheiten melden Berichten zufolge eine Mobilisier­ungsrate von über hundert Prozent, sprich: Auch Menschen, die nicht eingezogen wurden, melden sich aus eigener Initiative zum Dienst.

Zurück lassen sie Angehörige, die sehnsüchti­g auf ein Ende des Krieges warten, so wie Rachel Ravid. In den ersten Tagen nach dem Großanschl­ag habe sie kaum essen können, berichtet sie. Zur Sorge um ihren Mann kam der Schock über die Gräueltate­n der Hamas. Zwei ihrer Freunde haben bei den Massakern beide Eltern verloren, andere trauern um Cousinen, Cousins und Freunde. Inzwischen bemüht sie sich, so wenig wie möglich die Fernsehnac­hrichten zu sehen, sich auf ihr Baby zu konzentrie­ren und von Tag zu Tag zu planen. „Da ist viel Trauer, viel Wut, viel Hoffnungsl­osigkeit. Ich unterdrück­e diese Gefühle, aber meistens kommen sie hoch, nachdem das Baby eingeschla­fen ist.“Um durch den Tag zu kommen, versuche sie, sich auf ihr Kind zu konzentrie­ren, auf Haushalt, Einkäufe, die täglichen Notwendigk­eiten. „Die Welt schrumpft auf das eigene Zuhause“, sagt sie. „Das macht es erträglich.“

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//// Ilia Yefimovich/Getty Images In Israel werden seit Jahrzehnte­n auch Frauen zum Militär eingezogen.
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