Eine Fahrt durch das zerrissene Polen
Durch zieht sich vor der Wahl heute eine tiefe Kluft. In den Städten weht die EUFahne, hinter den Speckgürteln aber beginnt das PiSLand, wobei sich unter den Bauern dort Verunsicherung ausbreitet.
An der A2, die Berlin mit Warschau verbindet, stehen die Lagerhäuser entlang der Autobahn, lang bevor man ins Zentrum von Poznań (Posen) kommt. Es sind Vorboten der polnischen Wirtschaftsmetropole mit ihrer gut halben Million Einwohnern, der fünftgrößten Stadt im Lande. Volkswagen, Beiersdorf (Nivea) und Bridgestone sind dort, zusammen mit fast 100.000 weiteren amtlich registrierten Firmen.
Wir aber bremsen 30 Kilometer vor Poznań ab, lassen die Lagerhallen und Leichtindustrie links liegen und fahren aufs flache Land. Skrynki, Tomiczki, Jeziorki und Piekary heißen hier die Dörfer, fast alles Verkleinerungsformen. Klingt niedlich, doch das Leben hier ist hart, darauf deuten die umgepflügten Getreidefelder hin, der noch nicht geerntete Mais, die Zuckerrübenfelder.
In Dobiezyn, das 1939 bis 1945 unter deutscher NaziBesatzung Doberfeld hieß, gehen die Kinder der umliegenden Dörfer in die Volksschule. Das Gebäude ist viel zu groß für die 1300 Einwohner des Bauerndorfes. Die Hauptstraße führt auf eine Kapelle mit roter JesusStatue zu. Daneben prangen zwei Wahlplakate, die einzigen weit und breit. Jadwiga Emilewicz, einst Regionalentwicklungsministerin, kandidiert auf der Liste der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Gütig schaut sie auf das Dorf.
46 Prozent der 1001 Stimmberechtigten waren bei den Wahlen von 2019 in Dobiezyn für PiS, davon 55 Bürger für Emilewicz, die bald darauf Probleme bekam, weil sie ihren Ehemann mit den Kindern im Dienstwegen herumkutschieren ließ. Abgeschlagen folgte die liberale Bürgerplattform (PO) mit 22 Prozent, die Bauernpartei PSL mit 18 Prozent und ganz hinten die Linken mit acht und die rechtsextreme „Konföderation“mit sechs Prozent der Stimmen. Dieses Resultat ist typisch für das Umland größerer Städte in Polen. Dort siegen die Liberalen und Linken, auf dem Land und in den Städtchen hingegen mehrheitlich PiS. Anfang dieses Jahres zählte Polen 979 Städte, davon 83 mit über 50.000 Einwohnern. Die meisten von ihnen werden von der Opposition regiert. Doch die fast 900 kleineren Städte sind mehrheitlich in der Hand von Jaroslaw Kaczynskis PiS. Demografisch gesehen lebt dort und in Tausenden von Dörfern das Gros der Polen.
„Es wird immer schlimmer.“In Dobiezyn ist gerade viel los, ein Reitstall hat ein JugendTournier ausgelobt. Mit Fremden über die anstehenden Wahlen sprechen will fast keiner. „Jeder wählt, was er für richtig hält“, lautet oft die Antwort. PiS habe 2019 so viele Stimmen bekommen, weil die PSL nicht mehr in der Regierung sei und sich nicht mehr um die Bauern kümmere, bekommt man zu hören. „Es wird immer schlimmer mit dieser Traditionspartei des polnischen Dorfes; jetzt ist sie ja gar mit dem Showmaster Holownia zusammen“, sagt ein Mann verächtlich. Szymon Holownias Zweiparteienkoalition „Dritter Weg“wirbt im Wahlkampf mit Ökologie, Lohnerhöhungen für Lehrer und besserem Zugang zu Abtreibung.
„Uns hat die Politik vergessen“, klagt Wojtek K., der auf einer Fläche von 16 Hektar Weizen anbaut. Seit der russischen Invasion in der Ukraine spielten die Ankaufs und Düngemittelpreise verrückt, berichtet der Landwirt, der seinen Hof wie gut eine Million Kleinproduzenten in Polen auf Getreideanbau ausgerichtet hat. „Da sind Spekulanten im Spiel, der Markt funktioniert überhaupt nicht mehr“, sagt er und berichtet von einer guten Verdoppelung der Getreidepreise zu Beginn des Kriegs vor 20 Monaten. „Das Dumme war nur, dass sich der Düngerpreis fast vervierfachte.“Inzwischen sei der Getreidepreis plötzlich fast auf das Vorkriegsniveau gesunken, der Düngemittelpreis aber viel weniger.
Da der Dünger vor allem aus einem staatlichen Werk in Oberschlesien kommt, ist der Landwirt auf die Regierung im fernen Warschau nicht besonders gut zu sprechen. Doch auch der Opposition traut er nicht über den Weg. Den radikalen Bauernführer Michal Kolodzejczak von der Protestpartei Agro Unia, die kürzlich ein Wahlbündnis mit Donald Tusks liberaler Bürgerplattform eingegangen ist, bezeichnet er als „großen Schreier und Verräter“.
Wojtek K. hat im Grunde andere Probleme als Wahlen. Bis Mitte Oktober muss das Getreide für das Produktionsjahr 2024 gesät werden, sonst werden die Böden zu kalt und die Ernte schlecht. „Das Grundproblem ist, dass wir wegen der Ukraine nicht wissen, was sich lohnt, ja nicht einmal, ob es sich lohnt.“Dass der von der PiSRegierung gegen den Willen Brüssels beschlossene Importstopp für ukrainisches Getreide den lokalen polnischen
Produzenten hilft, glaubt Wojtek K. nicht. „Polen hat gar nicht genug Mittel und Personal, um all die Tausenden Getreidelaster an der Grenze zu kontrollieren.“Findige polnische und ukrainische Getreidehändler hätten sich eine goldene Nase an den neuen Transportwegen über Land verdient; das würden sie bestimmt nicht plötzlich aufgeben. „Kaczynski schreit und schielt auf Stimmprozente, doch den Nachteil haben wir“, sagt ein Kollege von Wojtek K. am Rande des JungreiterTourniers.
Dass es in der Umgebung des kleinen Dorfes Dobiezyn gleich mehrere Reitställe gibt, zeigt auch die Verteilung des Wohlstandes auf immer weitere Gebiete Polens. Ging das Entwicklungsmodell der liberalen PO in deren Regierungsjahren 2007 bis 2015 davon aus, dass die Großstädte gefördert werden müssten, hat die KaczynskiRegierung ab 2015 konsequent auf eine Umverteilung von Geldern in die ländlichen Regionen und Kleinstädte gesetzt.
Ihren Anteil daran hat auch Kaczynskis ehemalige Regionalentwicklungsministerin Emilewicz, die auch in der nahen Industrie und Messestadt Poznan fleißig für sich wirbt. Dort hat Emilewicz große Werbeflächen auf den Triebwagen der knallgrünen, städtischen Trams gekauft. Doch Poznan ist ein hartes Pflaster für die 49jährige parteilose KaczynskiAnhängerin, die sich 2019/ 20 in ihrem Amt bereichert haben soll. Das jedenfalls behauptet die Opposition, die im Stadtpark Cytadela wenige Tage vor der Parlamentswahl eine „Allee der PiSMillionäre“eingeweiht hat.
Entlang beliebter FlanierPfade haben POAktivisten PappmascheeFiguren der größten Gewinner der achtjährigen KaczynskiHerrschaft aufgestellt: Versammelt sind Exponenten wie der umstrittene Pater Tadeusz Rydzyk von Radio Maryja oder der junge Chef des staatlichen Mineralölkonzerns Orlen, Daniel Obajtek. Rekordhalter der „Allee der PiSMillionäre“ist VizeLandwirtschaftsminister Janusz Kowalski mit 2,45 Mio. Zloty (rund 540.000 Euro).
»Wir wollen die Normalität zurück! Wir wollen zurück nach Europa«, sagt eine Unternehmerin. »Uns hat die Politik vergessen«, klagt ein Getreidebauer in einem kleinen Dorf.
Ein Gegenentwurf. „Wir wollen die Normalität zurück, wir wollen ein Ende der Vetternwirtschaft, ein Ende der überheblichen Kirche im rechtsfreien Raum, des rigorosen Abtreibungsverbots; wir wollen zurück nach Europa!“, sagt händeringend Katarzyna Bekasiak, eine Posener Unternehmerin und langjährige Kämpferin für Frauenrechte. Wie Bekasiak fühlt sich eine Mehrheit der Posener. Bei den Wahlen 2019 waren die Resultate in der Stadt Poznan genau umgekehrt wie im kaum 30 Kilometer entfernten Dorf Dobiezyn: Die liberale PO kam auf 46 Prozent der Stimmen, PiS dagegen –vor allem dank der parteilosen Emilewicz – auf 24 Prozent. Dritte wurde die Vereinigte Linke.
Schlendert man über den historischen Marktplatz und durch die umliegenden mittelalterlichen Gassen, so sieht man neben sehr vielen EUFlaggen auch immer wieder Regenbogenfahnen oder trifft gar auf die Feministin Jana Shostak (Neue Linke), die auf ihren Wahlveranstaltungen offen über ihre Abtreibung spricht.
„Am Sonntag gehen wir alle wählen, das ist unsere Bürgerpflicht, daran will ich noch erinnern, bevor das Konzert beginnt“, heißt es im AltstadtMusikclub Dragon am Rande eines Jazzfestivals. „Kennst du schon das neueste Wahlzuckerl? Das Benzin kostet jetzt bei Orlen nur noch 5,99 Zloty (1,30 Euro), so billig ist es nirgends in Europa! Da muss man doch zuschlagen, wenn sich der Spinner mit seinen Katzen vor Angst in die Hosen macht“, höhnt Musikliebhaber Maciej. Der Katzenliebhaber heißt Jarosław Kaczyński und ist (noch) Polens starker Mann.