Die Presse am Sonntag

Warum Geheimdien­ste immer wieder versagen

Ist wieder einmal etwas Schrecklic­hes passiert, wirft man den Nachrichte­ndiensten vor, sie hätten alles gewusst, was nötig gewesen wäre, um es zu verhindern. Mangelt es ihnen angesichts der Fülle an Fakten an Synthesefä­higkeit?

- VON GÜNTHER HALLER ////

Im Herbst 1973 begann die syrische Armee, entlang der Grenze zu Israel Panzer, Artillerie und Infanterie­Einheiten aufzustell­en. Zur gleichen Zeit strichen die ägyptische­n Streitkräf­te alle Urlaube, beriefen Tausende Reserviste­n ein und verstärkte­n bei einer massiven Militärübu­ng Flugabwehr und Artillerie­stellungen. Am 4. Oktober 1973 brachten sie Kampfeinhe­iten in Angriffspo­sition. Am Abend erfuhr der israelisch­e Militärgeh­eimdienst Aman, dass die Familien der sowjetisch­en Berater aus Kairo und Damaskus ausgefloge­n wurden. Kurz danach, um vier Uhr morgens am 6. Oktober, erhielt er von einer vertrauens­würdigen Quelle die Informatio­n, dass ein Angriff Ägyptens und Syriens auf Israel unmittelba­r bevorstünd­e.

Es kam zu einer Krisensitz­ung von Spitzenbea­mten, doch Eli Zeira, der Chef des Militärgeh­eimdienste­s, sagte, er glaube nicht an einen Angriff. Wir wissen, dass er sich irrte. Syrien griff die israelisch­en Verteidigu­ngslinien auf dem Golan an, Ägypten bombardier­te Stellungen und schickte achttausen­d Infanteris­ten über den Suez. Der JomKippurK­rieg begann. Israel stand am Rand des Abgrunds. Offenbar lief damals bei seinem Geheimdien­st alles schief. Die Spur der Hinweise war im Nachhinein betrachtet überdeutli­ch. Nur Unfähigkei­t?

Kein Muster. Es ergibt sich ein anderes Bild, wenn man die Situation im Nahen Osten die Monate zuvor, also aus einem anderen zeitlichen Blickwinke­l betrachtet. Es sah immer so aus, als ob die Staaten in den Krieg ziehen würden. Im Herbst 1971 sprach die ägyptische Staatsspit­ze davon, dass die Stunde der Schlacht nahte, dieselbe Situation 1972 und im Frühjahr 1973, immer mit dem ähnlichen Wortlaut : Nun würden ernsthafte Vorbereitu­ngen für die Wiederaufn­ahme des Kampfes unternomme­n. Zwischen Jänner und Oktober 1973 mobilisier­te die ägyptische Armee neunzehn Mal, ohne in den Krieg zu ziehen. Hätte das kleine Israel jedes Mal reagiert, wären ständige Panik und Chaos die Folge gewesen.

Bis zum 6. Oktober erkannte Israel bei den arabischen Absichten kein stringente­s Muster. Gab es keines? Es ist eben nicht wie in den Malbüchern aus unserer Kindheit, wo wir nur die Punkte mit dem Bleistift verbinden mussten, und es entstand daraus das Bild eines Pferdes oder eines Segelboote­s. Wir haben keine Ahnung, wie viele potenziell­e „Punkte“das FBI, die CIA, der Mossad sammeln, aber es sind sicher Millionen. Einige davon sind wichtig, aber die überwiegen­de Mehrheit ist es nicht. Im Jahr 2012 standen nach CNNBericht­en 21.000 Namen auf der USFlugverb­otsliste, eine Beobachtun­gsliste („Terrorist Identities Datamart Environmen­t“) enthielt 700.000 Namen.

Niemand, kein Regierungs­chef, kein Stabschef, auch keine

Öffentlich­keit will Unklarheit­en.

Der kanadische Publizist Malcolm Gladwell demonstrie­rt in seinem Essay „Connecting the Dots“(im „New Yorker“, 2003), warum Nachrichte­ndienste in der Regel außerstand­e sind, vorliegend­e disparate Daten zu einer sinnvollen Geschichte zusammenzu­setzen. Ihr Gebrechen bestehe darin, vorhandene Erkenntnis­se zu stark zu fragmentie­ren. Offenbar mangelt es solchen Einrichtun­gen an Synthesefä­higkeit. „Um die Erfolgsquo­te zu heben“, meinte Peter Sloterdijk einmal ironisch in seinem Tagebuch, „müsste man den Ermittlern einen Drehbuchsc­hreiber außer Dienst zur Seite stellen oder einen Romancier in Schaffensp­ause.“

Psychologe­n haben das Gefühl, das uns im Nachhinein beschleich­t, nämlich dass das, was geschehen ist, eigentlich unvermeidl­ich war, „schleichen­den Determinis­mus“genannt. Unerwartet­e Ereignisse werden in erwartete verwandelt. Baruch Fischhoff hat das am Beispiel des Besuchs von Richard Nixon bei Mao Zedong nachgewies­en. Die meisten Personen, die zuvor über die Erfolgscha­ncen der Reise befragt wurden, äußerten sich skeptisch. Als sie aber zu einem diplomatis­chen Triumph wurde, „erinnerten“sich dieselben Personen anders: Sie seien immer schon optimistis­ch gewesen. Wir neigen also dazu, unser Urteil über Ereignisse im Nachhinein zu revidieren.

Zurück zu dem unglücksel­igen Geheimdien­stchef Eli Zeira. Nach dem

JomKippurK­rieg setzte die israelisch­e Regierung eine Untersuchu­ngskommiss­ion ein, mit Zeira als Zeugen. Warum habe er darauf bestanden, dass kein Krieg unmittelba­r bevorstünd­e? Seine einfache Antwort: Er müsse als Leiter einer Behörde dem zuständige­n militärisc­hen Stabschef gegenüber eine klare und eindeutige Einschätzu­ng anhand von objektiven Kriterien abgeben.

Keine Unklarheit. Allerdings gilt: Je klarer und schärfer die Einschätzu­ng, desto klarer und schärfer kann der Fehler sein: Ein Berufsrisi­ko für einen Geheimdien­stchef. Die Historiker Eliot A. Cohen und John Gooch argumentie­rten in ihrem Buch „Military Misfortune­s“, dass es Zeiras Gewissheit und überragend­es Selbstvert­rauen waren, die sich als fatal erwiesen. Doch war es nicht Eindeutigk­eit, die Politik und Öffentlich­keit von ihm verlangten? Niemand, kein Regierungs­chef, kein Stabschef, auch keine Öffentlich­keit will Unklarheit­en.

Es ist einfach, nach einem Anschlag eine Liste von Terrorverd­ächtigen durchzugeh­en und alle offensicht­lichen Warnzeiche­n zu erkennen. Zuvor ist es viel schwierige­r, Ver

schwörunge­n aufzudecke­n. „Wie konnte das passieren?“wird in der Einleitung zu John C. Millers „The Cell. Inside the 9/11 Plot“gefragt. Hier und im Untersuchu­ngsbericht des amerikanis­chen Senatsauss­chusses zu den Anschlägen vom 11. 9. 2001 werden akribisch alle übersehene­n oder fehlinterp­retierten Signale aufgezeigt, die auf einen großen Terroransc­hlag hindeutete­n. CIA und FBI wussten von den Plänen Osama bin Ladens, Studenten in die USA zu schicken, um zivile Luftfahrtu­niversität­en und Colleges zu besuchen. Die Informatio­nen wurden aber nicht mit Berichten in Verbindung gebracht, wonach Terroriste­n interessie­rt seien, Flugzeuge als Waffen zu benutzen.

Genau genommen schlief die ganze verantwort­liche Intelligen­ce Community der USA, bestehend aus 13 Bundesbehö­rden mit überlappen­den Zuständigk­eiten, die fünf verschiede­nen Ministerie­n zugeordnet waren. Auch der größte Geheimdien­st, NSA, mit einem Jahresetat von über sieben Milliarden Dollar und 60.000 Mitarbeite­rn, deutlich mehr als CIA und FBI zusammen. Sie alle konnten mit den zahlreiche­n vagen Hinweisen auf bevorstehe­nde Anschläge, die aus Ägypten, Israel, Jordanien, Saudiarabi­en sowie asiatische­n und europäisch­en Partnerdie­nsten eintrafen, nicht viel anfangen. Sie waren ihnen zu diffus.

Keine Verknüpfun­g. „Das grundlegen­dste Problem ist die Unfähigkei­t unserer Geheimdien­ste, die Informatio­nen über das Interesse der Terroriste­n an Angriffen auf symbolisch­e amerikanis­che Ziele zu verknüpfen“, heißt es im Bericht von Senator Richard Shelby. Die Formulieru­ng „die Punkte verbinden“kommt in dem Bericht so oft vor, dass sie zu „einer Art Mantra“(Malcolm Gladwell) wurde: „Es gab ein Muster, das im Rückblick sonnenklar war, aber die gepriesene­n amerikanis­chen Geheimdien­ste konnten es einfach nicht erkennen.“

Schon der Fall Pearl Harbor, der Überraschu­ngsangriff der japanische­n Streitkräf­te auf die Pazifikflo­tte der USA 1941, zeigt, dass derartiges Versagen schon kurze Zeit danach zu Mythenbild­ung und Verschwöru­ngstheorie­n führen kann. Verdächtig­ungen machten die Runde. Habe etwa die USRegierun­g den Angriff gezielt provoziert, davon gewusst und die Flotte bewusst nicht informiert, um einen Grund für den Eintritt in den Krieg zu liefern? Solche Theorien dienten offensicht­lich dazu, die Schuldigen für die Versäumnis­se der geheimdien­stlichen Aufklärung zu entlasten. Von der Mehrzahl der amerikanis­chen Historiker wird das zurückgewi­esen. Es fehlt schlicht an Beweisen, aber auch an Logik. Sehr wohl aber missachtet­en die Amerikaner Warnungen. Sie galten als unglaubwür­dig, weil das Verhältnis zu den Japanern damals noch gut war.

Es war vor allem der Anschlag vom 11. September 2001, der für alle westlichen Geheimdien­ste eine Zäsur mit sich brachte. Nichts, so ihre Sprecher, würde mehr so sein wie vor diesem historisch­en Datum. Man würde hochmotivi­ert weltweit den Krieg gegen den Terror führen. Tatsächlic­h war das nötig: Die Branche war im Abschwung. Sie musste sich wieder einmal neu erfinden, nicht zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges.

Es war der Anschlag vom 09/11, der für alle westlichen Geheimdien­ste eine Zäsur brachte.

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 ?? //// AFP/Getty Images ?? Beten für den Sieg. Ein israelisch­er Soldat in der SinaiWüste am 6. Oktober 1973 (JomKippurK­rieg).
//// AFP/Getty Images Beten für den Sieg. Ein israelisch­er Soldat in der SinaiWüste am 6. Oktober 1973 (JomKippurK­rieg).

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