Die Presse am Sonntag

»Kritisches Denken geht mir ab«

Von der Uni auf die Straße: Olympiasie­gerin Anna Kiesenhofe­r hat ihre erste Profisaiso­n hinter sich – und zieht ein gemischtes Resümee. Über Anfängerfe­hler und Erfolge im Kampf mit sich selbst.

- VON JOSEF EBNER (lacht).

Sie haben Ihren Job als Mathematik­erin an der Universitä­t Lausanne aufgegeben, um sich noch einmal als Radprofi zu versuchen. Jetzt haben Sie Ihre erste volle Saison beendet. War es die richtige Entscheidu­ng?

Anna Kiesenhofe­r: Ich bereue es überhaupt nicht, weil man gerade in den Momenten, in denen man völlig außerhalb seiner Komfortzon­e ist, am meisten lernt. Und ich habe viel gelernt. Ich bin dieses Jahr viel mehr Rennen gefahren als sonst, was teilweise hart für mich war. Das ganze Umfeld ist so anders, ich war den Stress nicht gewohnt. Jedes Rennen war eine irrsinnige Herausford­erung, weniger das Training als alles andere, das rundherum passiert, auch mit der Angst vor Stürzen.

Wie gehen Sie mit dieser Angst um?

Es geht mir schon deutlich besser damit. Es war ein ganz wichtiges Ziel von mir zu lernen, mit dieser Angst umzugehen und sie zu akzeptiere­n. Ich habe auch viel mit Mentaltrai­nern gearbeitet. Am Ende geht es darum, sich dieser Situation auszusetze­n, mehr Rennen zu fahren. Dadurch wird es irgendwie normal, so nah an anderen Fahrerinne­n bei hoher Geschwindi­gkeit zu sein. Das ist, wie wenn man zum ersten Mal Auto fährt, du bist total überforder­t, und dann wird es einfach besser.

Wie wurden Sie denn im Peloton als 32jährige Neueinstei­gerin mit einem Olympiasie­g in der Tasche aufgenomme­n?

Es war in Summe ganz okay. Ich habe mir das Leben schwerer gemacht, als es hätte sein müssen. Ich habe gewisse Ansprüche an mich, weil ich Olympiasie­gerin bin, und dann traue ich mich nicht, blöde Fragen zu stellen oder Dinge falsch zu machen. Mit weniger hohen Erwartunge­n an mich selbst wäre es einfacher gewesen. Die Fahrerinne­n nahmen mich auf wie jede andere.

Die Universitä­t geht Ihnen gar nicht ab?

Im Büro zu sitzen nicht. Das kritische Denken, die Art und Weise, wie man sich Wissen erarbeitet und wie Wissen an der Uni definiert ist, das geht mir ab. Weil: Was ist schon Wissen im Sport? Da sagt irgendjema­nd, der sich Coach nennt, irgendetwa­s, oder es steht irgendwo eine Headline in einem Sportmagaz­in – es ist einfach total schwammig, was Wissen überhaupt ist. Ich liebe es eben, etwas mit Sicherheit zu wissen. Und im Sport gibt es das nicht.

Die Akribie der Mathematik­erin können Sie in Ihrem Radsportte­am nicht ausleben?

(lacht) Wie antworte ich da diplomatis­ch? Sagen wir so: Ich habe gelernt, aus den Gegebenhei­ten das Beste zu machen.

Möchten Sie später an die Uni zurückkehr­en?

Nicht mehr in dasselbe Forschungs­gebiet, das wäre auch schwierig nach dieser Auszeit. Was ich irrsinnig spannend finde, sind alle Bereiche, in denen Mathematik und Sport zusammenko­mmen. Auch die Forschungs­komponente im Sport, Physiologi­e, Technologi­e. Ich sehe mich eher im angewandte­n Bereich, der mit Sport zu tun hat.

Wie viel davon steckt schon jetzt in Ihren Radrennen?

Mir erscheint es eigentlich normal, was ich alles mache. Es ist ja logisch: Das Ziel ist, so schnell zu sein wie möglich, also schaue ich mir eben Widerständ­e, Aerodynami­k an. Die Teams haben dafür Performanc­e Manager und Aerodynami­kExperten und was weiß ich alles, und ich mache das eigentlich alles selbst. Es macht auch ein bisschen stolz, wenn du merkst, wie viel du weißt. Mir war das gar nicht so bewusst.

Wie lautet denn Ihr sportliche­s Saisonfazi­t?

Es ist gemischt. Die erste Saisonhälf­te war ich enttäuscht von meiner Leistung. Die Rennen waren ein großer Stress für mich, ich war nach jedem Etappenren­nen krank, weil mein Körper am Limit war. In der zweiten Hälfte konnte ich mich gezielter vorbereite­n, da ging die Leistung wieder nach oben.

Es ist kein Zufall, dass Sie zuletzt Siege im Einzelzeit­fahren gefeiert haben?

Ich liebe diese Disziplin. Sie passt von der mentalen Komponente perfekt zu mir, dieser Kampf mit sich selbst. Auch physiologi­sch, weil ich eher ein Ausdauerty­p bin und mich das viele kurze Beschleuni­gen oft recht kaputt macht. Und man kann es so viel besser planen.

Die Tour de France ist aber ein Ziel?

Da war ich noch ein bisschen grün sozusagen. Vor einem Jahr dachte ich, die Tour de France passt doch super zu mir, ich kann Berge fahren und zeitfahren, jetzt werde ich ein gutes Resultat machen. Aber es geht um so viel mehr. Ich merke, dass ich noch viel zu viele Anfängerfe­hler mache. Eine Etappe zu gewinnen, kann ich mir vorstellen, aber um ganz am Ende auf dem Podest zu stehen, dafür fehlt noch viel.

Bei Olympia im nächsten Sommer sind Sie Titelverte­idigerin. Wie blicken Sie auf die Zeit nach der Goldmedail­le von Tokio zurück?

Es war auf jeden Fall lehrreich. Damals konnte ich den Trubel ehrlich gesagt nicht genießen, aber rückblicke­nd sind das natürlich einzigarti­ge Erfahrunge­n. Ich hatte so viele Anfragen und habe mich verpflicht­et gefühlt, immer zuzusagen. Da habe ich gelernt, dass ich Nein sagen muss, wenn ich ein eigenes Leben haben will. Ich habe dann auch ganz egoistisch gefragt: „Was bringt mir das jetzt?“Es überrascht mich auch manchmal, wenn Leute enttäuscht sind von meinen Ergebnisse­n. Dabei hat sich mein genetische­s Material doch nicht verändert, ich bin die gleiche Anna wie vor Tokio. Manche Leute hatten nach dem Olympiasie­g die rosarote Brille auf, als hätte mich das zu einem anderen Menschen gemacht. Ich sehe meine Wattwerte ja jeden Tag, und nach Tokio standen da nicht plötzlich 100 Watt mehr auf dem Bildschirm.

Die Saison 2023 ist zu Ende, Sie haben noch ein Jahr einen Vertrag. Wie geht es weiter?

Im Radsport ist vieles oft recht kurzfristi­g. Das ist zwar nicht so ganz meine Art, aber da muss man sich anpassen und lernen, das zu akzeptiere­n. Also ich weiß es noch nicht

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//// Arne Mill/DPA Picture Alliance/picturedes­k.com Auf der Zeitfahrma­schine über die niederländ­ischen Landstraße­n: Anna Kiesenhofe­r bei der Europameis­terschaft.

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