»Kritisches Denken geht mir ab«
Von der Uni auf die Straße: Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer hat ihre erste Profisaison hinter sich – und zieht ein gemischtes Resümee. Über Anfängerfehler und Erfolge im Kampf mit sich selbst.
Sie haben Ihren Job als Mathematikerin an der Universität Lausanne aufgegeben, um sich noch einmal als Radprofi zu versuchen. Jetzt haben Sie Ihre erste volle Saison beendet. War es die richtige Entscheidung?
Anna Kiesenhofer: Ich bereue es überhaupt nicht, weil man gerade in den Momenten, in denen man völlig außerhalb seiner Komfortzone ist, am meisten lernt. Und ich habe viel gelernt. Ich bin dieses Jahr viel mehr Rennen gefahren als sonst, was teilweise hart für mich war. Das ganze Umfeld ist so anders, ich war den Stress nicht gewohnt. Jedes Rennen war eine irrsinnige Herausforderung, weniger das Training als alles andere, das rundherum passiert, auch mit der Angst vor Stürzen.
Wie gehen Sie mit dieser Angst um?
Es geht mir schon deutlich besser damit. Es war ein ganz wichtiges Ziel von mir zu lernen, mit dieser Angst umzugehen und sie zu akzeptieren. Ich habe auch viel mit Mentaltrainern gearbeitet. Am Ende geht es darum, sich dieser Situation auszusetzen, mehr Rennen zu fahren. Dadurch wird es irgendwie normal, so nah an anderen Fahrerinnen bei hoher Geschwindigkeit zu sein. Das ist, wie wenn man zum ersten Mal Auto fährt, du bist total überfordert, und dann wird es einfach besser.
Wie wurden Sie denn im Peloton als 32jährige Neueinsteigerin mit einem Olympiasieg in der Tasche aufgenommen?
Es war in Summe ganz okay. Ich habe mir das Leben schwerer gemacht, als es hätte sein müssen. Ich habe gewisse Ansprüche an mich, weil ich Olympiasiegerin bin, und dann traue ich mich nicht, blöde Fragen zu stellen oder Dinge falsch zu machen. Mit weniger hohen Erwartungen an mich selbst wäre es einfacher gewesen. Die Fahrerinnen nahmen mich auf wie jede andere.
Die Universität geht Ihnen gar nicht ab?
Im Büro zu sitzen nicht. Das kritische Denken, die Art und Weise, wie man sich Wissen erarbeitet und wie Wissen an der Uni definiert ist, das geht mir ab. Weil: Was ist schon Wissen im Sport? Da sagt irgendjemand, der sich Coach nennt, irgendetwas, oder es steht irgendwo eine Headline in einem Sportmagazin – es ist einfach total schwammig, was Wissen überhaupt ist. Ich liebe es eben, etwas mit Sicherheit zu wissen. Und im Sport gibt es das nicht.
Die Akribie der Mathematikerin können Sie in Ihrem Radsportteam nicht ausleben?
(lacht) Wie antworte ich da diplomatisch? Sagen wir so: Ich habe gelernt, aus den Gegebenheiten das Beste zu machen.
Möchten Sie später an die Uni zurückkehren?
Nicht mehr in dasselbe Forschungsgebiet, das wäre auch schwierig nach dieser Auszeit. Was ich irrsinnig spannend finde, sind alle Bereiche, in denen Mathematik und Sport zusammenkommen. Auch die Forschungskomponente im Sport, Physiologie, Technologie. Ich sehe mich eher im angewandten Bereich, der mit Sport zu tun hat.
Wie viel davon steckt schon jetzt in Ihren Radrennen?
Mir erscheint es eigentlich normal, was ich alles mache. Es ist ja logisch: Das Ziel ist, so schnell zu sein wie möglich, also schaue ich mir eben Widerstände, Aerodynamik an. Die Teams haben dafür Performance Manager und AerodynamikExperten und was weiß ich alles, und ich mache das eigentlich alles selbst. Es macht auch ein bisschen stolz, wenn du merkst, wie viel du weißt. Mir war das gar nicht so bewusst.
Wie lautet denn Ihr sportliches Saisonfazit?
Es ist gemischt. Die erste Saisonhälfte war ich enttäuscht von meiner Leistung. Die Rennen waren ein großer Stress für mich, ich war nach jedem Etappenrennen krank, weil mein Körper am Limit war. In der zweiten Hälfte konnte ich mich gezielter vorbereiten, da ging die Leistung wieder nach oben.
Es ist kein Zufall, dass Sie zuletzt Siege im Einzelzeitfahren gefeiert haben?
Ich liebe diese Disziplin. Sie passt von der mentalen Komponente perfekt zu mir, dieser Kampf mit sich selbst. Auch physiologisch, weil ich eher ein Ausdauertyp bin und mich das viele kurze Beschleunigen oft recht kaputt macht. Und man kann es so viel besser planen.
Die Tour de France ist aber ein Ziel?
Da war ich noch ein bisschen grün sozusagen. Vor einem Jahr dachte ich, die Tour de France passt doch super zu mir, ich kann Berge fahren und zeitfahren, jetzt werde ich ein gutes Resultat machen. Aber es geht um so viel mehr. Ich merke, dass ich noch viel zu viele Anfängerfehler mache. Eine Etappe zu gewinnen, kann ich mir vorstellen, aber um ganz am Ende auf dem Podest zu stehen, dafür fehlt noch viel.
Bei Olympia im nächsten Sommer sind Sie Titelverteidigerin. Wie blicken Sie auf die Zeit nach der Goldmedaille von Tokio zurück?
Es war auf jeden Fall lehrreich. Damals konnte ich den Trubel ehrlich gesagt nicht genießen, aber rückblickend sind das natürlich einzigartige Erfahrungen. Ich hatte so viele Anfragen und habe mich verpflichtet gefühlt, immer zuzusagen. Da habe ich gelernt, dass ich Nein sagen muss, wenn ich ein eigenes Leben haben will. Ich habe dann auch ganz egoistisch gefragt: „Was bringt mir das jetzt?“Es überrascht mich auch manchmal, wenn Leute enttäuscht sind von meinen Ergebnissen. Dabei hat sich mein genetisches Material doch nicht verändert, ich bin die gleiche Anna wie vor Tokio. Manche Leute hatten nach dem Olympiasieg die rosarote Brille auf, als hätte mich das zu einem anderen Menschen gemacht. Ich sehe meine Wattwerte ja jeden Tag, und nach Tokio standen da nicht plötzlich 100 Watt mehr auf dem Bildschirm.
Die Saison 2023 ist zu Ende, Sie haben noch ein Jahr einen Vertrag. Wie geht es weiter?
Im Radsport ist vieles oft recht kurzfristig. Das ist zwar nicht so ganz meine Art, aber da muss man sich anpassen und lernen, das zu akzeptieren. Also ich weiß es noch nicht