Leben, Tod und alles dazwischen
Vor elf Jahren brachte Marlene Rieck ihren Sohn tot zur Welt. Wellen der Trauer branden auch heute noch an. Das Kunstprojekt »Was bleibt« mit Fotograf Günter Valda visualisiert ihren Schmerz.
So viele Gefühle, die man nicht im Wörterbuch nachschlagen kann, nur in den eigenen schmerzlichen Erfahrungen. Marlene Rieck kann auch nur wenige benennen, die sie da urplötzlich überwältigten. Die Angst, die Trauer, die Scham, das Schuldgefühl. Und diese hilflose Ohnmacht, wenn alles zugleich einschlägt. Noch dazu so wuchtig und unerwartet. Schutzlos, nackt, ausgeliefert, verloren – so hat sie sich gefühlt. Das weiß Rieck noch gut. Schließlich hat sie diese Empfindungen erst kürzlich rekapituliert – für ein Fotoprojekt mit dem Fotografen Günter Valda. Verzweiflung und Liebe, die Ahnung vom Tod und die Hoffnung auf Leben – all das verknotete sich schmerzhaft in ihrem Kopf.
Die Trauer, die Gefühle von damals – sie dürfen bleiben, beschloss Marlene Riek.
Während in ihrem Bauch ihr Sohn Aaron so wild strampelte wie nie zuvor. Aber da lag Marlene Rieck schon in der Röhre des MRT. Eigentlich hatte die Grafikdesignerin gedacht, sie würde längst wieder vor dem Computer in ihrer Ateliergemeinschaft sitzen. Stattdessen schrie gerade ihr Instinkt stumm in ihrem Inneren nur „Schützen!“, als das MRT zu hämmern begann. Doch ihre Hände durfte sie nicht einmal schützend auf den Bauch legen. Die kühlsterile Medizintechnik suchte nach der schlimmen Gewissheit: Ihr Kind war schon ziemlich gewachsen. Nur sein Gehirn nicht. Stattdessen war dort dieser dunkle Fleck, das Wasser, das beim Organscreening schon zu erkennen war. „Hydrozephalus“sagt das Medizinlexikon nüchtern dazu. Eigentlich wollte Rieck ja diese Untersuchung auslassen. Zur Nackenfaltenmessung ging sie ja auch nicht. „Ich und mein Partner waren uns einig, dass sie für uns nichts geändert hätte“, erzählt sie.
Doch dieser dunkle Fleck änderte alles. Vorfreude kippte in Angst, Trauer und hundert andere Gefühle, die zu einem dumpfen Getöse im Kopf anschwollen. Marlene Rieck war im freien Fall – ins Bodenlose. Kaum hatte der Spezialist für pränatale Diagnostik seine Hand auf ihren Unterarm gelegt und gesagt : „Da ist ein Problem“, wehten Wortfetzen durch den Nebel in ihrem Kopf: „Abbruch“oder „zehn Tage Zeit“. Die Prognose war schlimm und ziemlich verschwommen: Schwerwiegende psychomotorische Störungen sagte sie voraus. Ob Aaron seine Eltern je wahrnehmen würde, höchst ungewiss. Die Ethikkommission des Krankenhauses hatte sich bereits ausgesprochen: für einen Spätabbruch in der 22. Schwangerschaftswoche. Der Druck, das Unmögliche tun zu müssen, zu entscheiden, würgte die Mutter.
Im Traum begegnet. Vor allem eine Hand führte sie und ihren Partner durch den Höllenritt von Hoffnungen und niederschmetternden Prognosen: Die klinische Psychologin Anita Weichberger hatte ihre ausgestreckt, am Perinatalzentrum des AKH Wien nimmt sie sich solch dramatischer Fälle an. „Am Montag ist ein Bett für Sie reserviert. Wenn Sie kommen, heißt das für uns Ja“, sagten die Ärzte. Dann begegnete Rieck ihr ungeborener Sohn Aaron im Traum. Und plötzlich wusste sie: Sie würde am Montag da sein. Aaron musste zur Welt kommen, damit er sterben kann. Als „Aushauchen“beschrieben das die Ärzte, die Lungen des Kindes wären noch zu schwach für den ersten Atemzug.
Doch Aaron kam schon tot zur Welt. Rieck weiß, wann er starb. Zwei Nächte, nachdem erstmals die Wehen medikamentös eingeleitet worden waren. Aaron schien sich lang zu sträuben gegen die Geburt, seine Mutter – unbewusst – auch. Am Donnerstagnachmittag kam der Bub schließlich zur Welt. Ganz still, ohne Schrei. 29 Zentimeter war er groß. Und dann war da wieder diese Flut : von Liebe und Trauer, von Tod und Leben zugleich. Rieck und ihr Partner, ihre Familie, ihre Freunde verabschiedeten Aaron liebevoll, setzen ihn bei auf dem Friedhof in Kirchberg am Wechsel. Dort lebt Rieck heute, mit ihrem Mann Stefan und drei Kindern. Doch in den Jahren danach hat sie noch eine wichtige Entscheidung getroffen: Die Trauer, die Gefühle von damals – sie dürfen bleiben, beschloss sie. Man muss sie nicht löschen, wegwischen, irgendwo verräumen, um weiterzuleben.
Neun Sujets. Zehn Jahre nach der Totgeburt, im September 2022, lag Rieck dann wieder nackt und ausgeliefert da. Auf dem Boden. In der Natur. Diesmal, weil es Rieck so wollte. Und den Boden hatte sie sich selbst ausgesucht. Gras, Stein, Wasser, Sand, Erde, Wald, Laub, Eis und noch einmal Gras. Neun Fotosujets sind entstanden, ein Projekt, das sie selbst, den Fotografen und die Beziehung zwischen den beiden an ihre Grenzen brachte. Auch weil die Gefühle, die sie visuell spürbar machen wollten, diese Phasen und Wellen der Trauer und des Schmerzes, gar so vehement wieder hochfluteten.
Bis diesen Sonntag sind die Fotos in der Ausstellung „Was bleibt“in der SemmelweisKlinik zu sehen. Später soll sie sich an anderer Stelle wiederholen, auch ein Booklet, das die Sujets zeigt und die Geschichte von Rieck erzählt, ist per Crowdfunding finanziert worden. „Die Trauer darf ihren Platz behalten“, sagt Marlene Rieck heute. Doch die Trauer kommt ganz unterschiedlich. Manchmal brandet sie kalt und wuchtig an. Dann wieder sanfter und wärmer. Um kurz danach wieder dumpf und grausam einzuschlagen. All diesen Nuancen wollte Rieck ein Bild geben. Sich selbst sah sie von Anfang an auch darin. Genauso nackt, wie sie sich fühlte. Ziemlich fix waren die Bilder, die Rieck einige Zeit mit sich herumtrug. Doch die konkreten Orte in der Natur suchte sie vergeblich. Gemeinsam mit Valda fand sie dafür die visuellen imaginären Pendants, auch durch einen sprichwörtlichen Perspektivenwechsel.
Die Ethikkommission des Spitals
hatte sich bereits für einen Spätabbruch ausgesprochen.
Valda ist ein alter Bekannter von Rieck, aus derselben Region. Jahrelang hatten sie sich nicht gesehen. „Und dann ist Marlene gleich mit der Tür ins Haus gefallen“, erzählt Valda. Ihre Geschichte und ihre Ideen schüttete sie freimütig gleich bei ihrem ersten Anruf aus. Valdas Herz und Ohren waren offen, genauso wie sie es in seinem Brotjob sind: Zwanzig Jahre arbeitete er als Krankenpfleger in der Notaufnahme des Wiener AKH. Einige Kinder hat er sterben gesehen, unzählige Schockmomente und Gefühlsfluten miterlebt. „Und die Kamera wurde für mich zur Lupe, um all das auch verarbeiten und verstehen zu können“, erzählt er. Für das Fotoprojekt „Was bleibt“hat er sie diesmal acht Meter über dem Boden angeschraubt auf dem Stativ. Das Objektiv schaut auf Marlene Rieck herunter. Sie kauert, sie liegt, sie hockt, sie schwimmt, mal in geschützter Haltung, mal offener. Und die Untergründe flüstern die Empfindung mit ins Auge: die Sanftheit des Grases, die Härte des Eises. Es ist die einfühlsame Visualisierung intimer Schmerzerfahrungen.