Die Kinder der Neuen Welt
Im Kampf um die Unabhängigkeit von England war Deutsch eine der Sprachen der amerikanischen Revolution. Ohne diese Migranten, eigentlich Bürger zweiter Klasse, wäre der Kampf um die Freiheit nicht zu gewinnen gewesen, sie wurden Teil der amerikanischen Na
Den 4. Juli 1776 kennt so gut wie jeder: An diesem Tag verkündeten dreizehn amerikanische Kolonien nach monatelanger Rebellion ihre Unabhängigkeit vom englischen Mutterland. Weniger bekannt ist ein weiterer Markstein in der amerikanischen Geschichte: 1683 gründeten 13 Familien, deutsche Religionsflüchtlinge aus Krefeld, Quäker und Mennoniten, in Amerika die Stadt Germantown. Der Ort ist heute ein Stadtteil von Philadelphia, ein armer Bezirk mit vorwiegend schwarzer Bevölkerung, aber er ist vollgepackt mit Erinnerungen an die Vergangenheit.
Man schätzt, dass zur Zeit der Amerikanischen Revolution zehn Prozent der Bevölkerung deutsche Emigranten waren, das deckt sich ungefähr mit den Zahlen von heute: Laut American Community Survey bekannten sich zuletzt 42 Millionen in den USA zu einer deutschen Herkunft, das sind 12,7 %. Doch einmalig war das rasante Wachstum dieser Minderheit im 18. Jahrhundert. In Pennsylvania betrug sie angeblich ein Drittel der Bevölkerung, doch genau weiß das keiner.
Kolonien. Wie hoch war damals der Anteil der Deutschen, der größten nicht englischsprachigen Gruppe, an der Unabhängigkeitsbewegung, politisch, militärisch und ideell? Sind sie aus den Geschichtsbüchern Amerikas überhaupt wegzudenken? Sprach man nicht immer wieder davon, dass das Deutsche um Haaresbreite offizielle Landessprache geworden wäre? Der Historiker Golo Mann hielt das alles für einen Irrglauben, eine von deutschnationalen Kreisen verbreitete Legende: „Die alten Kolonien im Osten waren ganz englisch, und englisch war die Revolution der 1770er und 80erJahre. … Sich etwa Jeffersons ‚Unabhängigkeitserklärung‘ in deutscher Sprache vorzustellen – völlig unmöglich.“
Da ist Johannes Ehrmann, ein deutscher Journalist und Sachbuchautor, ganz anderer Meinung. In „Die Söhne der Freiheit“geht er der Geschichte der berühmten deutschen Einwandererfamilie Mühlenberg nach, die als „First German Family“Amerikas gilt, stellvertretend steht für die fast sieben Millionen Deutschen, die seither in die USA migriert sind, und bei der Gründung der Vereinigten Staaten eine kaum übersehbare Rolle spielte. Damit kehren wir wieder zurück nach Germantown in Pennsylvania, jene Kolonie, die zur Zuflucht von religiösen Minderheiten wurde, die hier ihre Ideen einer christlichen Gemeinschaft verwirklichen wollten. Der Ort versprach ihnen das, wonach sich die seit dem Westfälischen Frieden verbotenen religiösen Minderheiten so sehr sehnten: ein gottgefälliges Leben in Frieden zu führen.
Das schützte sie freilich nicht vor Ressentiments in der englischsprachigen Mehrheit, der Machtelite. Benjamin Franklin sah angesichts der Betriebsamkeit und des Kinderreichtums der Deutschen schwarz für die Zukunft von Pennsylvania: „Dies wird in wenigen Jahren eine deutsche Kolonie werden: Anstatt dass sie unsere Sprache lernen, müssen wir die ihrige lernen oder wie in einem fremden Lande leben.“
Die deutsche Einwandererfamilie
Mühlenberg gilt als »First German Family« Amerikas.
Am 4. Juli 1776 ging es hektisch zu in Philadelphia. Keine zehn Gehminuten entfernt vom Tagungsort der Delegierten der 13 Kolonien wurde in einer Druckerei ein hochbrisanter Text gesetzt und 200 Exemplare davon gedruckt. Seine Adressaten waren bedeutende Männer: General George Washington, der britische König George III. in London und der Kongress der neuen Vereinigten Staaten.
Zeitgleich machten sich zwei namentlich bekannte deutschsprachige Einwanderer an die Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung. Der Text stammte von Thomas Jefferson, und sie bemühten sich redlich, den Wortsinn gut zu erfassen und so wiederzugeben, dass ihre Landsleute den Sinn auch verstanden, dass nämlich „alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“. Doch wollten die frommen deutschen Kolonisten eigentlich etwas wissen von Unabhängigkeit? War das drohende Chaos nicht sehr gefährlich für ihren amerikanischen Traum? Drohte nicht ein veritabler Bürgerkrieg? Und auf welcher Seite stand Gott?
Wenige Tage nach dem 4. Juli packte der Pastor Heinrich Melchior Mühlenberg, Oberhaupt einer neunköpfigen Familie und der deutschen Lutheraner in Amerika, seine Siebensachen und floh vor der Revolution in Philadelphia aufs Land. Dieser Jefferson sprach zu wenig von der Bibel und zu viel von der Vernunft. Das gefiel ihm nicht, er war kein Mann der Umstürze, obwohl sein Sohn Peter an der Seite George Washingtons in den Kampf gezogen war.
Vor 34 Jahren, 1742, war Mühlenberg in der Neuen Welt angekommen. Der kleine deutsche Pfarrer ohne höheren Status hatte viel gekämpft um Anerkennung als Prediger und Seelsorger. Der Aufbau von Schule, Kirche und Gemeindeleben war hart. Ständig brach er auf zu einem Konfliktherd, bereiste teils weit entlegene Gemeinden, taufte, beerdigte, ordnete, führte, rastlos. Johannes Ehrmann demonstriert bei diesem Rückblick auf ein entbehrungsreiches Leben seine ganze Erzählkunst. Er wertet Mühlenbergs umfangreiche Korrespondenz und Tausende Seiten seines Tagebuchs aus, ein akribisch geführtes Journal zwischen Alltag und hoher Politik, die umfassend
ste deutschamerikanische Quelle des 18. Jahrhunderts.
Hartes Leben. Sie zeigt, wie aus dem versprengten Häuflein von Lutheranern, die sich in windschiefen Scheunen versammelten, ein gesellschaftlicher Faktor wurde, wie sie sich behaupten mussten gegen Terrorakte indigener Truppen, wie viele von ihnen verschleppt wurden, auch Kinder. „Man könnte ganze Bücher voll von dem Jammer und Elend schreiben, worein sich viele Menschen stürzten, die sich leichtsinnig auf eine so weite und gefährliche Reise begaben.“Hier meinte Mühlenberg auch sich selbst, die Verzweiflung eines heillos überforderten Familienvaters im Geflecht von Erziehungsnot, Geldsorgen und Kirchentumult. Die vielen Seiten, die er hinterließ, sind auch eine „Bestandsaufnahme der Auswanderung nach Amerika“, so Ehrmann, des harten Lebens an der Frontier.
Nur 7000 Deutsche ließen sich bis zur amerikanischen Revolution einbürgern. Da stellte sich natürlich die Frage nach ihrer Loyalität. Allzu eng versammelten sie sich hinter der gemeinsamen Herkunft. Doch sie wurden von der Welle der Ereignisse mitgerissen. Inzwischen waren Mühlenbergs Söhne,
Peter, Friedrich (Frederick) und Heinrich (Henry) erwachsen geworden, sie waren Pastoren, die es immer mehr in die Politik zog. Sie verließen die geistliche Parallelgesellschaft zum Verdruss ihres Vaters, der sie von dem immer lauter werdenden Getöse der beginnenden Revolution fernhalten wollte.
Wollten die frommen deutschen Kolonisten eigentlich etwas wissen von Unabhängigkeit?
Peter Mühlenberg kehrte der Kirchenkanzel den Rücken zu und führte ein Regiment für die Revolutionsarmee George Washingtons in den Krieg: „Mein Land ruft mich zu seiner Verteidigung.“Er sei nicht nur „Clergyman“, sondern ebenso ein Mitglied der Gesellschaft. Er war an einem halben Dutzend Schlachten beteiligt, rekrutierte und motivierte Truppen, deren Zustand europäische Offiziere regelmäßig entsetzte. Seine Statue steht heute in der Krypta des USKapitols.
Bruder Frederick wurde Speaker des Repräsentantenhauses. Man versprach sich von ihm einen Zugriff auf die „German vote“, auf die deutschen Stimmen, wenn es um die politische Ausrichtung und die Arbeit an einer Verfassung ging, auch wenn kaum ein Amerikaner imstande war, den Nachnamen Mühlenberg fehlerfrei zu buchstabieren. So tauchen in den Quellen die abenteuerlichsten Versionen auf. Doch kein deutscher Name klang im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts besser als der dieser Familie. Niemand konnte es sich leisten, die einst skeptisch beäugten Deutschen auszugrenzen.
Ehrmann vergisst auch nicht auf die Rolle der Frauen. Sie heirateten jung damals in Amerika, die der Mühlenbergs bekamen mit 18 ihr erstes Kind und es folgten viele nach: „Die Frauen überleben ihre Männer und haben die Dinge im Griff, ein wissendes Lächeln auf den Lippen, während die großen Herren vielleicht am Ende doch mehr Wind gemacht haben, als gut für sie war“, schreibt Ehrmann. Sie sorgten auch dafür, dass das Haus der Eltern bei Philadelphia Zentrum der Großfamilie blieb. Doch während der Vater mit den modernen Zeiten haderte, bestimmten seine Söhne sie mit und auch ihre Nachkommen. Sie prägten im nächsten Jahrhundert die Vereinigten Staaten in all ihren Facetten, obwohl die anderen sich noch immer schwertaten, diesen seltsamen Namen richtig auszusprechen.