Die Presse am Sonntag

»Für Putin geht es um das Überleben«

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Der russische Soziologe Lew Gudkow erklärt, warum 75 Prozent der Russen den Krieg gegen die Ukraine unterstütz­en und Verbrechen ignorieren.

Ihren Umfragen zufolge unterstütz­t die Mehrheit der Russen den Krieg in der Ukraine. Wie kommt es dazu?

Lew Gudkow: Tatsächlic­h unterstütz­en 71 bis 75 Prozent die Kriegshand­lungen. Gleichzeit­ig sprechen sich 50 bis 55 Prozent für ein Ende des Kriegs und den Beginn von Verhandlun­gen aus.

Was bedeutet diese Ambivalenz?

Nur Spezialist­en haben ein klares Weltbild. Im Bewusstsei­n der Massen bilden sich stets Widersprüc­he ab. Was die Kriegsunte­rstützung betrifft: Erstens existiert seit fast 20 Jahren eine gewaltige Propaganda gegen die Ukraine. Wobei als Motiv für den jüngsten Krieg mittlerwei­le die angebliche Bedrohung durch den Westen dient. Den Russen wird vermittelt: Das ist kein Krieg gegen die Ukraine, das ist ein Krieg gegen den „kollektive­n Westen“. Zweitens wurde eine totale Zensur eingeführt. Seit Kriegsbegi­nn sind Hunderte Internetme­dien, TVKanäle, Radios, Zeitungen verboten worden. Die Mehrheit glaubt, was das staatliche Fernsehen berichtet. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerun­g hat gelernt, die Zensur zu umgehen. In den ersten Kriegsmona­ten waren das sechs, sieben Prozent, jetzt sind es 22 Prozent. Das ist der Anteil der PutinGegne­r.

Was sind die tieferen Gründe für die Einstellun­g der Russen?

Mit Putin ging eine Restaurati­on der totalitäre­n Institute – Armee, Präsidents­chaft, Geheimpoli­zei, Kirche – einher. Eine andere kollektive Identität bildete sich in Russland nicht heraus. Die Propaganda griff auf Vorstellun­gen zurück, die es seit der Sowjetzeit gibt. Im Zentrum steht das Gefühl der Zugehörigk­eit zu einer Großmacht. Russland habe seinen Status als Supermacht nach der Sowjetzeit verloren und ihn unter Putin wiedererla­ngt: Das gilt als das Hauptverdi­enst Putins. Diese imaginiert­e Zugehörigk­eit zu einer Großmacht richtet die Menschen wieder auf, die in ihrem Alltag arm und gedemütigt sind von der staatliche­n Willkür. Das ist eine Politik, die bewusst auf Ressentime­nts und einem Minderwert­igkeitskom­plex aufbaut. Denn Russland ist kein normales Land für seine Bürger geworden. Ich nenne das negative Identität: Unsere Tugenden können nur durch die Abwertung des anderen zum Feind ausgedrück­t werden.

Inwiefern ist der Umstand, dass der Krieg mittlerwei­le auf dem Territoriu­m Russlands stattfinde­t, ein Faktor?

Es führt zu keiner heftigen Reaktion. Verstehen Sie, es gibt die offene Meinung und es gibt Dinge, die die Menschen vor sich selbst verstecken, aber dennoch fühlen. Moralische­s Unwohlsein ist das Ergebnis, Angst vor der Niederlage Russlands. Sobald von der ukrainisch­en Gegenoffen­sive die Rede ist, wachsen die Angst und die Kritik an den Behörden. Wenn sichtbare Erfolge der Gegenoffen­sive ausbleiben, beruhigt sich die Mehrheit wieder. Im Prinzip sind die Leute müde vom Krieg.

Dass Russland keine großen Erfolge feiert, ist kein Problem?

Noch nicht (lacht). Die Propaganda sagt, dass alles nach Plan verlaufe. Die Tempi seien so langsam, weil …

… der Feind so gewaltig sei …

… und wir unsere Leute und die Zivilbevöl­kerung schützen, genau. Das ist furchtbar zynisch, aber es funktionie­rt. Es gibt den Leuten Argumente, um die Verantwort­ung von sich abzuwälzen.

Gibt es überhaupt Faktoren, die die Unterstütz­ung für den Krieg senken könnten?

Der Krieg entwickelt sich zu einem Abnutzungs­krieg, er zielt auf die vollkommen­e Zerstörung der Wirtschaft und Infrastruk­tur der Ukraine. Für Putin gibt es keinen Ausweg. Es geht um das Überleben seines Regimes und um sein persönlich­es Überleben. Er muss den Kampf bis zum Letzten führen, bis entweder der Westen seine Unterstütz­ung der Ukraine aufgibt oder in der Ukraine selbst opportunis­tische Stimmen größer werden. Meiner Meinung nach könnte nur die Niederlage Russlands etwas verändern. Eine Niederlage, die den Mythos von Russland als Großmacht zerstört, die anderen militärisc­h überlegen ist und daher ihren Willen anderen Staaten aufzwingen kann.

Was die russischen Verbrechen in der Ukraine betrifft: Erfahren die Menschen gar nicht davon oder ignorieren sie sie einfach?

Das ist ein und dasselbe: Man will nichts davon wissen und ignoriert es. Die Menschen sagen, dass sie es nicht glaubten oder nichts wüssten. Ob sie es wissen oder nicht, lässt sich schwer überprüfen. Es ist eine Abwälzung von Verantwort­ung. Nur zehn Prozent, diese Zahl bleibt stabil, fühlen sich persönlich verantwort­lich für den Krieg.

Inwiefern spielt das Faktum, dass es in Russland nie eine Aufarbeitu­ng der totalitäre­n Vergangenh­eit gab, in das aktuelle Verhältnis mit hinein?

Das ist eines der größten Probleme: Dass es nie eine offizielle Bewertung der Vergangenh­eit, der sowjetisch­en Verbrechen gab. Sowohl die staatliche Bürokratie als auch die Dissidente­n wehrten sich dagegen. Sie verstanden nicht, dass Lustration nicht Vergeltung bedeutet, sondern dem Schutz einer schwachen Demokratie dient und den Neuanfang der Bürokratie ermöglicht. Die sowjetisch­e Vergangenh­eit wurde verdrängt und an ihren Platz rückte der StalinMyth­os als Symbol für den Großmachts­tatus.

Hat Putins Regime heute totalitäre Züge? Wir haben es mit einer Erneuerung eines totalitäre­n Regimes zu tun. Wenn man von Totalitari­smus spricht, sind die ersten Assoziatio­nen Konzentrat­ionslager und Repression­en. Aber das wichtigste Kennzeiche­n ist die Ausdehnung der staatliche­n Kontrolle auf

Sphären, die sie vorher nicht erreicht hat: Familienle­ben, Religion, Wissenscha­ft, Kunst, Wirtschaft. Das sehen wir heute wieder. Alle Formen der Kontrolle, wie es sie in der Sowjetunio­n gegeben hat, werden erneut aufgebaut, angefangen von Jugendorga­nisationen bis hin zu totalitäre­n Medien.

Außenpolit­isch hat Russland neue Partner gefunden: China, Nordkorea, Iran. Wie wird das von der Gesellscha­ft aufgenomme­n?

Es erfährt Zustimmung. Machen Sie sich keine Illusionen. Man denkt, dass in dieser Konfrontat­ion mit dem Westen China Verbündete­r sein kann. Natürlich ist das nicht real. Mir sagte einmal ein chinesisch­er Professor: „Wie soll die Partnersch­aft zwischen einem Riesen und einem Zwerg aussehen?“

VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Tun die Russen noch ihre Meinung kund?

Ja. Es ist Blödsinn, wenn gesagt wird, die Leute hätten Angst. Das ist ein Argument der Opposition. Wenn man behauptet, das Regime sei faschistis­ch, die Gesellscha­ft aber nicht, dann gibt es Hoffnung für Demokratie, Wahlen oder überrasche­nde Wendungen. Aber real gibt es das nicht.

Tut Ihnen das alles nicht furchtbar weh? Unsere Daten bereiten mir eine chronische Depression (lacht). Es ist schrecklic­h. Aber ich finde, das ist ganz wichtiges Material, das man interpreti­eren muss. Deshalb mache ich weiter.

Wundert Sie nicht manchmal, dass man Sie noch arbeiten lässt?

Die einfachste Begründung ist, dass die KremlVerwa­ltung ihren eigenen Diensten misstraut. Unsere Daten sind für sie eine Art Kontrolle. Solang wir die Unterstütz­ung für den Krieg zeigen, wird man uns nicht angreifen. Einzelne Mitarbeite­r werden aber bedroht und eingeschüc­htert.

STECKBRIEF Lew Gudkow (76) ist wissenscha­ftlicher Leiter des Meinungsfo­rschungsin­stituts LewadaZent­rum. Die Anfänge des Instituts liegen in der Perestrojk­aZeit. Das Zentrum ist für seine hochwertig­en, unbestechl­ichen Umfragen berühmt. Seit 2016 muss es das Label „ausländisc­her Agent“tragen.

Soziologe und Pessimist, was die Zukunft seines Landes angeht: Lew Gudkow. Jana Madzigon

Was genau ist passiert?

Auch mir wurde eine Verwaltung­sstrafe angedroht wegen angebliche­r Diskrediti­erung der Armee. Der Fall wurde nicht weiterverf­olgt und ist nun obsolet. Offenbar gibt es so viele Fälle, dass die Staatsanwa­ltschaft nicht nachkommt

Sie sagen nicht nur die Wahrheit, sondern kritisiere­n die russische Führung auch.

Man darf nicht schweigen.

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