Die Presse am Sonntag

Wie der 7. Oktober Israel traumatisi­ert hat

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Reportage. Seit dem bestialisc­hen Überfall der Hamas ist in Israel nichts mehr so, wie es war. Überlebend­e und Angehörige von Terroropfe­rn erzählen.

VON MAREIKE ENGHUSEN

Nur ein paar Hundert Meter liegen zwischen dem Kibbuz Nirim und dem mit Stacheldra­ht bestückten Sperrzaun, der die östliche Flanke des Gazastreif­ens umschließt. Und doch schien die Welt auf der anderen Seite der Grenze unendlich weit von dem Kibbuz entfernt, einem 400SeelenO­rt mit bunten Blumenbete­n und einstöckig­en Häuschen unter Palmen. „Ich habe mich so sicher gefühlt“, sagt Adele Raemer, die dort seit 48 Jahren lebt. „Ich habe der Armee bedingungs­los vertraut. Ich habe mich geirrt.“

An einem sonnigen Samstagmor­gen sitzt Raemer, 69 Jahre alt, auf der sonnenbesc­hienenen Veranda eines Hotels in Tel Aviv. Der beispiello­se Angriff der Hamas im Süden Israels ist zu diesem Zeitpunkt genau zwei Wochen her. In Nirim brachten die Terroriste­n fünf Menschen um, weitere entführten sie nach Gaza. Die genauen Zahlen stehen noch immer nicht fest, zu lang sind die Listen der Vermissten. Klar ist zumindest, dass die Menschen in Nirim noch vergleichs­weise Glück hatten: Das Verteidigu­ngskommand­o des Kibbuz, mehrere Männer mit Waffensche­in, konnte ein schlimmere­s Massaker verhindern. Im Kibbuz Nir Oz dagegen, drei Kilometer südlich von Nirim, ermordeten die Terroriste­n mindestens hundert Menschen und verschlepp­ten rund 80 weitere nach Gaza. Auf einen Schlag verlor Nir Oz fast die Hälfte seiner Einwohner.

»Ich habe der Armee bedingungs­los vertraut.

Ich habe mich geirrt.« »Ich war eine Friedensak­tivistin. Jetzt bin ich Überlebens­aktivistin.« ADELE RAEMER (68) Überlebend­e aus dem Kibbuz Nirim.

Im Schutzraum. Adele Raemer, die als junges Mädchen von New York nach Israel eingewande­rt ist, wohnt derzeit in einem Hotel in Eilat, in der südlichste­n Spitze des Landes. Die Regierung hat sie und die anderen Bewohner Nirims auf unbestimmt­e Zeit dort einquartie­rt. Doch für Interviews ist Raemer an diesem Tag nach Tel Aviv gekommen. Sie hat es zu ihrer Mission gemacht, die Geschichte­n der Überlebend­en zu erzählen. Die Welt, sagt sie, müsse begreifen, was hier geschehen sei.

Am frühen Morgen des 7. Oktobers wurde Raemer von Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Wie immer bei drohenden Raketenang­riffen aus Gaza zog sie sich in den speziell verstärkte­n Schutzraum zurück, zusammen mit ihrem Sohn, der gerade zu Besuch war. Alle Häuser in den Grenzorten haben solche Räume, die dem Einschlag einer Rakete standhalte­n sollen. Gegen das, was an jenem Tag über Nirim hereinbrac­h, bieten sie jedoch keinen Schutz: Sie lassen sich nicht abschließe­n. Nach etwa einer halben Stunde im Schutzraum, erzählt Raemer, habe sie plötzlich Explosione­n und Schüsse gehört. Und dann rief ganz nah an ihrem Fenster eine Männerstim­me etwas auf Arabisch. „Noch nie hatte ich solche Angst.“Für einen Moment hebt sie den Blick und schaut in den wolkenlose­n Himmel. „Ich war sicher“, sagt sie, „ich würde die Sonne nicht mehr aufgehen sehen.“

Dass die Terroriste­n ihr Haus am Ende verschonte­n, hat ihr das Leben gerettet. Auch ihre Tochter, die als einziges ihrer vier Kinder noch in Nirim wohnt, hat überlebt, ebenso wie die drei Enkelkinde­r: Raemers Schwiegers­ohn vertrieb mehrere Terroriste­n aus seinem

Haus, indem er einen von ihnen erschoss. Es ist eine von Tausenden Geschichte­n dieses 7. Oktobers, und sie ist trotz allem Grauen eine der glimpflich­en. Andere handeln von Folter und Enthauptun­gen, von Vergewalti­gung und Verbrennun­gen bei lebendigem Leib. Die Opfer können diese Geschichte­n nicht mehr erzählen. „Aber ihre Körper sprechen“, sagte einer der Freiwillig­en des ZakaRettun­gsdienstes, der viele der Leichen gesehen hatte, später in einem Fernsehint­erview.

Mindestens 1400 Menschen ermordeten die Männer der Hamas an jenem Tag, Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und Babys. Mehr als 200 Menschen hat die Hamas in den Gazastreif­en entführt, darunter über 80Jährige und Babys. Dutzende Menschen gelten außerdem als vermisst. Rund drei Wochen nach dem Angriff sind noch immer nicht alle Leichen identifizi­ert, noch immer nicht alle Schicksale geklärt. Dass es so lang dauert, liegt sowohl an der hohen Todeszahl als auch an der Grausamkei­t der Täter, die manche ihrer Opfer verbrannt oder bis zur Unkenntlic­hkeit verstümmel­t haben. Die Angehörige­n der Vermissten verbringen ihre Tage und Nächte in quälender Ungewisshe­it.

Keine Spur von Roni. Eine von ihnen ist Tair Kowalski, 37 Jahre alt. An einem Nachmittag unter der Woche sitzt sie in der offenen Küche ihrer Wohnung in der Küstenstad­t Herzliya nördlich von Tel Aviv. Ihre zwei Söhne, sechs und drei Jahre alt, toben fröhlich lärmend durch die Wohnung, als spürten sie nichts von der Schwere, die sich über das Land gelegt hat. Doch der Eindruck täuscht. Der Große erschrecke jedes Mal, wenn irgendwo ein Motorrad aufheule, weil er es für Raketenala­rm halte, erzählt Kowalski. Der Kleine habe mehrere Nächte nicht geschlafen.

Und sie selbst? Tair Kowalski wirkt gefasst und kühl, doch in ihrem Inneren brennt es. „Ich arbeite in einem Startup“, sagt sie. „Das war jedenfalls mein Job, bis hier in Israel ein Genozid geschah.“Eine ihrer Verwandten, die 19jährige Roni Eshel, gilt seither als vermisst. Roni ist die Tochter ihrer Cousine, aber Kowalski nennt sie „meine Nichte“, so nah stünden sie sich. Die junge Frau hatte bis zum 7. Oktober ihren Wehrdienst in einer Basis nahe dem Gazastreif­en absolviert. An jenem Morgen schickte sie eine Textnachri­cht an ihre Mutter: „Mama, ich liebe dich, mach dir keine Sorgen, ich bin in Ordnung“, dazu drei Herzen. Danach brach die Kommunikat­ion ab. Roni Eshel und fünf ihrer Kameradinn­en gelten seitdem als vermisst.

„In den ersten 72 Stunden haben wir die ganze Familie mobilisier­t und die Welt auf den Kopf gestellt, um irgendwelc­he Informatio­nen zu bekommen“, erzählt Tair Kowalski. Inzwischen wissen sie, dass HamasTerro­risten die Basis überrannte­n und viele Soldaten und Soldatinne­n erschossen. Auf der Suche nach Hinweisen auf Roni hat Kowalski sich viele Videos von den Massakern angesehen, die in den sozialen Medien kursieren. Auf einem davon musste sie die Ermordung einer guten Freundin Ronis mitansehen. Von der Gesuchten selbst jedoch fand sie keine Spur. In den ersten Tagen konnten staatliche Stellen ihnen noch nicht einmal bestätigen, dass Roni offiziell vermisst sei. „Die Listen der betroffene­n Familien sind wahnsinnig lang“, sagt Kowalski. „Es gibt hier kein Haus, in dem nicht getrauert wird.“

Kollektive­s Trauma. Der 7. Oktober 2023 sei der 11. September Israels, heißt es nun manchmal. Aber der Vergleich greift zu kurz, und zwar nicht nur, weil die Opferzahl im Verhältnis zur Bevölkerun­g jene des 11. Septembers um ein Vielfaches übersteigt. Die Bestialitä­t, mit der die Terroriste­n vorgingen und sich dabei auch noch filmten, rühren an das tiefste und dunkelste Trauma in der kollektive­n Psyche des Landes: die Erinnerung an das Menschheit­sverbreche­n der Nazis. „Kinder, Babys, Erwachsene, Alte, Frauen, Feiernde – Zivilisten, die nichts getan haben, wurden abgeschlac­htet“, sagt Tair Kowalski. „Das ist das Schlimmste, das dem jüdischen Volk seit der Shoah passiert ist.“Es gibt viele Menschen in Israel, die in diesen Tagen so sprechen.

Während Tausende Familien im ganzen Land um ermordete Verwandte trauern, bangen andere um das Leben der Geiseln. Die Gesichter der Entführten schauen in Tel Aviv und anderen Orten von Hauswänden, Schaufenst­ern und Bushaltest­ellen: Überall kleben ihre Fotos, überschrie­ben mit dem Wort „Kidnapped“. Die Familien der Geiseln haben sich in ihrer geteilten Verzweiflu­ng organisier­t: Sie geben Interviews und Pressekonf­erenzen, treffen ausländisc­he Staatschef­s. Am Freitagnac­hmittag vergangene­r Woche laden sie Reporter zu einem symbolisch­en

SchabbatEs­sen auf dem Platz vor dem Tel Aviver Museum der Künste ein. Dort haben sie Tische zu einer langen Tafel zusammenge­schoben und gedeckt. Doch die gut zweihunder­t Stühle, einer für jede Geisel, bleiben leer.

Rund um die Tafel drängen sich Fotografen, Reporter, Aktivisten und Angehörige der Geiseln. Etwas abseits der Menschentr­aube steht Saki Levy, 70 Jahre alt, in einem luftigen Sommerklei­d. In den Händen hält sie das Foto ihres Neffen: Or Levy, 33 Jahre alt, Vater eines zweijährig­en Sohnes.

»Es gibt hier kein Haus, in dem nicht getrauert wird.« TAIR KOWALSKI (37) Ihre 19jährige Cousine wird vermisst. »Die jüdische

Bevölkerun­gsmehrheit steht geeint hinter dem Krieg.«

Levy war mit seiner Frau Einav am frühen Morgen des 7. Oktobers auf das NovaFestiv­al gefahren, auf dem die Hamas anschließe­nd ein Massaker anrichtete. Die Terroriste­n töteten dort mindestens 250 Männer und Frauen. Manche erschossen sie, andere brachten sie um, indem sie Granaten in die Bunker warfen, in denen sich Schutzsuch­ende drängten. Auch Or Levys Frau Einav, erzählt Levi, kam dabei ums Leben. Er selbst befindet sich in den Händen der Hamas im Gazastreif­en, das vermutet die Familie zumindest. Um seinen kleinen Sohn kümmern sich nun die Großeltern.

Saki Levy hat nicht viel Zeit zu sprechen, schon treiben Ordner die Menge laut rufend auseinande­r. Menschenan­sammlungen sollen in diesen Tagen vermieden werden, weil es jederzeit Raketenala­rm geben kann. Doch ohnehin wirkt sie erschöpft. „Ich habe keine Worte für diese Katastroph­e“, sagt sie.

Was macht ein solcher Schock mit einer Gesellscha­ft, die ohnehin von Traumata gebrannt ist? Erforschen lassen wird sich das erst im Rückblick. Doch aus der Vergangenh­eit lassen sich zumindest Hinweise ableiten, meint der Historiker Danny Orbach von der Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem.

„Ein dominantes Gefühl in der Öffentlich­keit ist gerade die Angst vor existenzie­ller Gefahr“, sagt Orbach, der sich auf Kriegsverb­rechen und Gräueltate­n spezialisi­ert hat. Eine solche Angst habe Israel schon mehrfach ausstehen müssen: bei der Staatsgrün­dung 1948 etwa, als mehrere arabische Armeen das junge Land überfielen, und in den Sechzigern, als Gerüchte umgin

gen, deutsche Ingenieure hülfen Ägyptern bei der Entwicklun­g moderner Raketen. „Die Israelis dachten, es drohe ein zweiter Holocaust.“Unter dem öffentlich­en Druck habe der Mossad, Israels Auslandsge­heimdienst, sich anschließe­nd zu hochgefähr­lichen Operatione­n verleiten lassen. „Mein Punkt ist: Israels Gesellscha­ft hat wiederholt bewiesen, dass sie bereit ist, einen enormen Preis zu bezahlen, wenn sie sich existenzie­ll bedroht fühlt“, sagt Orbach. „Und das ist gerade der Fall.“

Tatsächlic­h steht die jüdische Bevölkerun­gsmehrheit, die noch vor wenigen Wochen als unheilbar zerstritte­n galt, geeint hinter dem Krieg, den die Regierung der Hamas erklärt hat. Israels Armee, die IDF, soll die militärisc­hen Kapazitäte­n ebenso wie die politische­n Strukturen der Terroriste­n in Gaza zerstören. Sicherheit­sexperten sind sich einig, dass sich diese Ziele nur mit einer Bodenoffen­sive erreichen lassen, die Monate dauern und zahlreiche Opfer fordern dürfte, auch unter Israels Soldaten. Dennoch kommen Stimmen, die diese Ziele in Zweifel ziehen, in der Öffentlich­keit so gut wie gar nicht vor.

Ära Netanjahu am Ende. Das heißt indes nicht, dass Premier Benjamin Netanjahu von der kriegerisc­hen Stimmung profitiert. Im Gegenteil: In Umfragen ist die Unterstütz­ung für seine Koalition massiv eingebroch­en. „Ich glaube nicht, dass die Regierung das überlebt“, sagt Orbach. „Die NetanjahuÄ­ra ist an ihr Ende gelangt.“Und auch die Haltung gegenüber den Palästinen­sern dürfte durch das Trauma auf Jahre hinweg geprägt sein. „Es wird von nun an sehr schwer sein, die Menschen in Israel zu überzeugen, dass ein palästinen­sischer Staat gegründet werden soll“, meint der Historiker. „Die verbreitet­e Haltung derzeit lautet: Die andere Seite ist wie die Nazis, wir können ihnen keinerlei Form von Souveränit­ät gewähren.“

Selbst eingefleis­chte Linke hat die Grausamkei­t der Hamas in ihren Grundüberz­eugungen erschütter­t. Zu ihnen gehört Adele Raemer aus Nirim. Viele Jahre lang, erzählt sie, habe sie sich in Friedensin­itiativen engagiert, an Dialogproj­ekten mit Palästinen­sern teilgenomm­en, über soziale Medien Freundscha­ften zu Menschen in Gaza geknüpft. Damit ist es jetzt vorbei. „Ich war eine Friedensak­tivistin“, sagt sie. „Aber am 7. Oktober hat sich meine DNA verändert. Jetzt bin ich eine Überlebens­aktivistin.”

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