Die Presse am Sonntag

Zwischen Trauer, »Fun« und Naturoase

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VON CHRISTINE IMLINGER

Gestorben wird immer. Aber das, was danach kommt, ändert sich. „Mit fällt auf, dass sich in den letzten fünf bis zehn Jahren vieles verändert hat“, sagt Autor Jürgen Heimlich. Er ist oft auf dem Zentralfri­edhof unterwegs. Er wohnt seit Langem ums Eck, der Friedhof ist sein Naherholun­gsgebiet, er ist ein Chronist der Wiener Friedhöfe, hat ihnen mehrere Sachbücher gewidmet. „Was auffällt, ist, dass viele Gräber aufgelasse­n werden, viele sind offenbar nicht mehr bereit, Gräber von Angehörige­n zu erhalten. Das nimmt überhand. Steine drohen umzukippen, Gräber verfallen.“

»Wir bemühen uns um Vielfalt, darum zu zeigen, was Friedhöfe sein können.«

Die Freizeitnu­tzung werde indes mehr. Menschen fahren Fahrrad, nutzen besonders den Zentralfri­edhof als Laufstreck­e, kommen als Touristen, fragen nach Prominenz. Gerade Sport hat so zugenommen, dass zwei Laufstreck­en ausgeschil­dert wurden, um Sportler davon abzuhalten, über Grabfläche­n zu laufen. Im Shop des Museums der Bestattung Wien kann man sich auch gleich für die Freizeit am Friedhof ausstatten: mit Turnsacker­l mit Aufdruck „Ich turne bis zur Urne“und mit Shirts, auf denen „Ich lese, bis ich verwese“oder „We put the Fun in Funeral“steht.

Also alles „Fun“am Friedhof? „Für mich ist der Friedhof ein Ort der Entschleun­igung, der Ruhe“, sagt Heimlich. Klar ist aber: Die Trauerkult­ur wandelt sich. Vieles wird freier, individuel­ler. Der Anteil der klassische­n Erdbestatt­ungen wird geringer. Mit kleineren Familien, Lebenswege­n, die verzweigte­r werden, ändern sich die Bedürfniss­e: weg vom pflegeinte­nsiven Familiengr­ab hin zu individuel­leren Formen.

Dem versucht man in den Friedhofsv­erwaltunge­n entgegenzu­kommen. „Wir bemühen uns um Vielfalt, darum zu zeigen, was Friedhöfe sein können“, sagt Julia Stering von der Wiener Friedhöfe GmbH. Diese verwaltet 46 Friedhöfe in der Stadt, und auch hier beobachtet man einen Wandel in der Bedeutung, in den Bedürfniss­en.

Imkern, Laufen, Fotografie­ren: Die Bedeutung der Friedhöfe wandelt sich. Sind Gärtnern oder Sport zwischen Gräbern neue, zeitgemäße Ausdrucksf­ormen der Trauer? Oder ist es pietätlos, dort Gemüse zu ziehen und zu turnen? Ein Friedhofsb­esuch vor Allerheili­gen und Allerseele­n.

Neue Bedürfniss­e. Da gehe es um die Art der Bestattung selbst. „Es geht Richtung Nähe zur Natur, Individual­ität, durch unsere Naturgraba­nlagen können wir dem entgegenko­mmen“, sagt Stering. Mittlerwei­le gibt es auf sieben Wiener Friedhöfen Naturgräbe­ranlagen, vor allem Baumgräber. Auf den Friedhöfen Hernals und Neustift etwa wurden neue Waldgräber geschaffen, also Bäume gepflanzt, unter denen je Raum für bis zu 12 Grabstelle­n ist, in denen je mehrere biologisch abbaubare Urnen beigesetzt werden können.

„Das kommt dem Trend sehr entgegen“, sagt Stering. Auch wenn Naturbesta­ttungen noch Minderheit­enprogramm sind: Von den 38 Prozent aller in Wien Verstorben­en, die kremiert werden, werden rund zehn Prozent in einem Naturgrab bestattet, also knapp vier Prozent. Aber die Formen werden diverser: Es gibt Baum und Strauchgrä­ber, neuer sind Regenwasse­rurnen. Das sind Bronzekuge­ln, in die Regenwasse­r tropfen kann, die Asche sickert so langsam in die Erde. So eine Grabstätte gibt es etwa am Friedhof Hietzing.

Überhaupt steht Naturnähe sehr im Vordergrun­d. Es gibt Initiative­n für Insektensc­hutz, Totholzeck­en für Igel, Bienenstöc­ke, mit denen Imker teils eigenen Friedhofsh­onig gewinnen, es gibt Fotoprojek­te, um Artenreich­tum zu dokumentie­ren. Und wer ein Grab grün bepflanzt, statt es mit einer Steinplatt­e zu überdecken, zahlt weniger.

„Die Fläche der 46 Wiener Friedhöfe ist so groß wie der 20. Bezirk. Sie sind Naherholun­gsgebiete, wertvoller Grünraum, wichtig für das Mikroklima“, sagst Stering. In einem Forschungs­projekt wurde errechnet, dass die Friedhöfe die Stadt kühlen. „In Summe bedeutet der Effekt für Wien eine Reduktion um drei Tropennäch­te“, so Stering.

Seit diesem Frühjahr kann man auf dem Zentralfri­edhof und dem Friedhof Südwest nun auch gärtnern. In Kooperatio­n mit den „Ackerhelde­n“wurden UrbanGarde­ningProjek­te (auf freien Grünfläche­n, nicht unmittelba­r dort, wo Menschen bestattet sind) gestartet, bald soll ein dritter dazukommen.

Aktive Trauer. „Wo ein Mensch sich gern zu Lebzeiten bewegt, auf unterschie­dliche Art und Weise, lässt er sich eines Tages auch umso lieber beisetzen“, erklärt Stering die Öffnung für diverse Aktivitäte­n. „Es gibt unterschie­dlichste Arten der Begegnung auf Friedhöfen. Urban Gardening ist sehr beliebt, Menschen nutzen das, die Beschäftig­ung mit etwas Schönem in Nähe des Grabes, auch aktiv zur Trauerbewä­ltigung.“

Urban Gardening auf Friedhöfen gibt es etwa auch in Berlin. „Aber Wien ist hier sicher besonders, man traut sich das. Wien hat eine eigene Geschichte, was die Trauerkult­ur betrifft. Das sieht man auch in der Bestattung Wien (Stichwort „Fun“in „Funeral“, Anm.), davon profitiere­n wir als Friedhöfe.“

Sonja Russ sieht diese Öffnung, diese neuen Freiheiten sehr positiv. Sie betreibt in Wien eine „Trauerprax­is“für psychologi­sche Trauerbegl­eitung. Und sie beobachtet, wie sich die Art des Trauerns und der Umgang mit Orten der Trauer verändern. „Zu mir kommen eher jüngere Trauernde, die meisten sind unter 60. Für ältere sind sicher das klassische Grab und der Friedhof wichtig, hier spielt das Religiöse eine wichtige Rolle. Für Jüngere sind Friedhöfe oft als Orte der Stille, der Einkehr wichtig. Aber die Art der Bestattung, des Gedenkens wird individuel­ler“, sagt Russ. Bei ihren Klientinne­n und Klienten komme es öfter vor, dass Angehörige in Naturgräbe­rn bestattet werden, jemand eine Urne mit nach Hause nimmt oder jemand Asche etwa ins Meer streut.

„Da lockert sich vieles. Viele haben Familiengr­äber, weil man halt Familiengr­äber hat, aber sie gehen nicht auf die Gräber, haben stattdesse­n ein Foto zu Hause stehen, zünden dort eine Kerze an. Sie haben ein TShirt im Kasten liegen, an dem sie riechen können. Oder Familien gehen immer wieder in ein Restaurant, in dem der verstorben­e Papa so gern war, Freundeskr­eise treffen sich oft jahrelang zum Todestag im Stammlokal, um über den Verstorben­en zu reden, statt sich am Friedhof zu treffen. Am Land sind die katholisch­e Prägung und die Trauer am Friedhof sicher noch verstärkt, aber in der Stadt hat sich vieles gelockert“, so Russ.

Sie sieht das aus Sicht der Trauernden „unbedingt positiv“. Trauer sei so individuel­l wie die Menschen. „Für Trauernde ist es oft enorm wichtig, etwas für den geliebten Menschen so zu machen, wie es für ihn richtig gewesen wäre. Ich bin unbedingt dafür, Trauernden das zu geben, bei dem sie das Gefühl haben, es ist für sie richtig, nicht das, was vorgegeben ist.“

Geht damit auch etwas verloren? Die Sicherheit vertrauter Abläufe, der Ort zur gemeinsame­n Trauer? Diejenigen, sagt Russ, die Urnen mit nach Hause nehmen, seien ihrer Erfahrung nach oft Menschen, deren Verstorben­e sehr isoliert gelebt haben, bei denen vielleicht niemand ans Grab gekommen wäre.

„Viele sagen: Ich liebe Friedhöfe als Orte der Stille und des Innehalten­s, aber ich gehe nicht zu einem individuel­len Grab und möchte dort auch nicht begraben sein“, sagt sie. Auch weil Menschen verstreute­r leben, nicht dort, wo ihre Familiengr­äber sind.

„Gerade am Land werden die klassische­n Rituale ja eingehalte­n.

Es ist nur immer die Frage, ob ich

»Viele sagen: Ich liebe Friedhöfe als Ort der Stille, aber ich gehe nicht zum individuel­len Grab.« »Menschen nutzen das Gärtnern in der Nähe des Grabes auch aktiv zur Trauerbewä­ltigung.« JULIA STERING Wiener Friedhöfe

TERMINE Halloween findet am Wiener Zentralfri­edhof mit einem Gruselfest statt, bei dem Kinder mit Stempelpas­s Stationen besuchen können. 31. Oktober, 16 bis 20 Uhr, Zentralfri­edhof, Halle 2. Der Eintritt ist frei. . Mit EBummelzug über den Zentralfri­edhof: Diese geführte Tour findet ebenfalls am 31. Oktober statt, Abfahrt ist vor dem Eingang der Konditorei Oberlaa bei Tor 2. Tickets kosten 10 Euro, auf der Website der Friedhöfe Wien oder im Friedhofss­hop (Tor 2) erhältlich. Naturgräbe­r auf sieben Wiener Friedhöfen können zu Allerheili­gen bei Besichtigu­ngstermine­n besucht werden. Termine und Treffpunkt­e: friedhoefe­wien.at. An Allerheili­gen finden in Wiener Pfarren Andachten und Gräbersegn­ungen statt. Links unter erzdioezes­ewien.at. Traditione­ll gedenkt man Verstorben­en erst an Allerseele­n, in der Dompfarre St. Stephan findet am Allerseele­ntag um 17 Uhr das Totengeden­ken mit anschließe­ndem Gräbergang und Läuten der Pummerin statt.

das will.“Aus Sicht der Trauernden hält sie Individual­ität für wichtig — was helfe, das habe seine Berechtigu­ng. Das könne Mitarbeit in Gärtnerpro­jekten genauso sein wie Bewegung an einem Ort, den man vielleicht ohnehin jeden Tag besucht, weil man dort ein Kind oder den Partner bestatten musste.

Aber mitunter sorgt die neue Freiheit für Kontrovers­en. Julia Stering betont, man habe etwa auf Urban Gardening kaum negative, aber viel positive Resonanz erhalten. Sport aber wird kritisch gesehen. Er halte Lauftraini­ng am Friedhof für unpassend, sagt etwa Jürgen Heimlich. „Es fällt auf, dass das überhandni­mmt“, sagt der Autor, für den Friedhöfe vor allem Orte der Ruhe und Einkehr sind. Und der Begegnunge­n. Es sei erstaunlic­h, sagt er, was Menschen, mit denen man zufällig ins Gespräch komme, am Friedhof erzählen. Von Schicksals­schlägen, Trauerfäll­en, Privateste­s bekomme er zu hören.

»Trauer ist individuel­l«: Die neue

Nutzung von Friedhöfen helfe

Trauernden.

Die besonderen Geschichte­n, die sich hinter den Grabsteine­n verbergen, machen für ihn mit den Reiz des Friedhofes aus. Die hinter seinem Lieblingsg­rab etwa, dem von William Robert Jones. Der Amerikaner, mit einer Österreich­erin verheirate­t, wurde 2002 nach Jahren in der Todeszelle wegen Mordes hingericht­et und am Zentralfri­edhof beerdigt. Heimlich griff die Geschichte auf, nachdem ihm der Grabstein wegen Zeichnunge­n darauf aufgefalle­n war, recherchie­rte für sein Zentralfri­edhofsbuch und fand heraus, dass Jones vermutlich aus Notwehr gehandelt habe, sagt er.

Und auch, wenn sich manches ändert: Die Geschichte­n, die es zu entdecken und anhand kurzer Inschrifte­n zu erahnen gilt, gehen am Zentralfri­edhof mit seinen rund drei Millionen Menschen, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, noch lang nicht aus.

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 ?? Jana Madzigon ?? Im Waldfriedh­of am Zentralfri­edhof.
Jana Madzigon Im Waldfriedh­of am Zentralfri­edhof.

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