Die Presse am Sonntag

Die U-Bahn ist zum Tanzen da

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Videos, in denen junge Menschen in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln tanzen und sich dabei für TikTok filmen, gehen derzeit um die Welt. Was es mit dem jüngsten SocialMedi­aPhänomen auf sich hat.

VON NAZ KÜÇÜKTEKIN »Die Wiener sind ja oft etwas zurückhalt­end, aber auf einige irritierte Blicke war ich gefasst.«

Die Kamera geht an. Die Musik läuft. Und ein junges Mädchen beginnt in der Wiener UBahn zu tanzen. Das Ganze filmt sie im Weitwinkel­objektiv mit. Von den Fahrgästen wird sie dabei kaum wahrgenomm­en. Nur ganz am Ende des Videos blickt ein junger Mann für einen kurzen Moment auf – die meisten anderen sind mit ihren Handys beschäftig­t. Und selbst wenn: Der 19jährigen Polina wäre es ohnehin egal. Denn genau darum geht es.

„Tube Girl“, das ist ein Trend, an dem man derzeit nicht vorbeikomm­t – zumindest, wenn man auf TikTok unterwegs ist. Gestartet wurde er von der Britin Sabrina Bahsoon. Mitte August lud die 22jährige Jusstudent­in ein Video hoch, in dem sie in der Londoner UBahn zu einem Lied der Rapperin Nicki Minaj tanzt und sich dabei im Weitwinkel­modus filmt. Das Video – das erste von seither vielen – wurde bereits mehr als elf Millionen Mal geklickt. Auch Bahsoons andere Videos werden millionenf­ach aufgerufen – und jeden Tag erhält sie Tausende Follower mehr. So schaffte es die Britin, als „Londons Tube Girl” binnen weniger Wochen zu einer der gefragtest­en Influencer­innen zu werden. Eine Kampagne mit dem Kosmetikri­esen MAC hat sie genau so in der Tasche wie Auftritte auf internatio­nalen Fashion Weeks. Von der, laut eigenen Angaben, unglücklic­hen Jusstudent­in zum TikTokStar. In der Welt der Generation Z ist das gleichbede­utend mit: vom Tellerwäsc­her zum Millionär.

Doch was machen Bahsoons Videos und der TubeGirlTr­end überhaupt aus? Die User feiern die Britin für ihr selbstbewu­sstes Auftreten. „Glaubt mir, es ist allen egal“, sagt sie in einem ihrer Videos, um andere zu motivieren. Als die 19jährige Wienerin Polina die TubeGirlVi­deos das erste Mal sah, habe sie sich direkt angesproch­en gefühlt, erzählt sie. „Ich fand, es sah lustig aus, also wollte ich es auch machen.“Ein paar Tage später stieg sie bei der U3Station Stephanspl­atz in die UBahn ein – gestylt und mit Makeup – und drehte ebenfalls ein TubeGirlVi­deo. „Ich habe zwar mehrere Versuche gebraucht“, sagt die Wirtschaft­sstudentin über ihre ersten Videos, „aber eigentlich nur, weil mir meine Haare nicht gefallen haben.“

Eine Art Selbsttest. „Tube Girl hat uns gezeigt, dass es in Ordnung ist, wir selbst zu sein“, sagt auch Hezal Helin Sahin. Es gehe darum, nicht nach den Erwartunge­n anderer zu leben, sondern Selbstbewu­sstsein zu vermitteln. Frauen und Männer dazu zu motivieren, sich in der Öffentlich­keit zu filmen, so sie denn Spaß daran haben. Die 27jährige Wienerin Sahin ist Projektman­agerin und freiberufl­iche Videografi­n und verfolgt daher SocialMedi­aTrends sehr genau. Als sie Bahsoons Video das erste Mal gesehe habe, habe sie lachen müssen. „Jeder kennt diesen Moment: Man hört ein tolles Lied und möchte einfach nur lostanzen.“Für sie sei der Trend auch eine Art Selbsttest gewesen, um herauszufi­nden, wann und wo sie aus ihrer Komfortzon­e heraustret­en könne.

Die Neugier habe sie überwältig­t, sie habe wissen wollen, „wie es sich anfüht, den Trend in Wien auszuprobi­eren. Die Wiener sind ja oft etwas zurückhalt­end, aber auf einige irritierte Blicke war ich gefasst.“Dennoch brauchte Sahin mehrere Anläufe. Ihre ersten Videos findet man ebenfalls auf ihrem TikTokProf­il. Sie steht in der vollen UBahn und traut sich dann doch nicht. Der erste Versuch als Wiens Tube Girl sei gescheiter­t, ist darunter zu lesen. Später nimmt Sahin ein TubeGirlVi­deo auch gemeinsam mit ihrer Mutter auf.

Doch was wäre ein guter TikTokTren­d ohne etwas Sozialkrit­ik? Beobachter fragen sich anhand Sabrina Bahsoon und des ganzen TubeGirlTr­ends auch: Wer darf eigentlich öffentlich­en Raum für sich beanspruch­en und so

Aufmerksam­keit generieren? Und würde man es auch feiern, wenn sich andere, etwa obdachlose Menschen, in den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln derart verhalten würden wie die jungen Frauen? „Es zeigt mal wieder, es ist alles peinlich, bis es eine gutaussehe­nde Person macht“, kritisiert etwa die TikTokNutz­erin Grace – „da ist es dann auf einmal toll und die Person so selbstbewu­sst“.

Charisma. Was Bahsoon konkret vorgeworfe­n wird, wird auch als „Pretty Privilege“bezeichnet. Soll heißen, dass ihre Videos mitunter deshalb so erfolgreic­h sind, weil sie den gängigen Schönheits­idealen entspricht. Denn tatsächlic­h: Bahsoon ist schlank, hat ein symmetrisc­hes Gesicht und lange Haare, die sie in ihren Videos in Szene setzt. Dazu kommt ein Kleidungss­til, der die TikTokZiel­gruppe bestens anspricht: Hüfthosen, kurze Tops, dazu ein bisschen Schmuck und manchmal auch eine Sonnenbril­le im Stil der 2000erJahr­e. Die sogenannte „Y2K Fashion“ist bei Bahsoon eigenen Angaben zufolge oftmals Secondhand. Als Sinnbild der Gen Z spricht sich die 22Jährige in Interviews natürlich auch gegen Massenmode aus. Bewusstsei­n für solche Themen zu haben, gehört im Jahr 2023 – auch für die Influencer – dazu.

»Glaubt mir, es ist allen egal.« SABRINA BAHSOON Hat den Tanztrend gestartet.

Sabrina Bahsoon: Von der, laut eigenen Angaben, unglücklic­hen

Jusstudent­in zum TikTokStar.

Die beiden „Vienna Tube Girls“sehen die Kritik an den Tube Girls hingegen deutlich entspannte­r. „Ich glaube, es ist vielmehr eine Sache von Selbstsich­erheit und Auftreten“, findet Polina. Auch Sahin sieht es ähnlich: „Ich denke, dass bei Tube Girls das Charisma, die Energie und das Selbstbewu­sstsein eine viel wichtigere, wenn nicht sogar größere Rolle spielen als ihr Aussehen allein. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass wahre Selbstakze­ptanz und wahrer Selbstwert nicht nur auf dem Äußeren basiert.”

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