Die Presse am Sonntag

Wenn um mich herum alle gehen

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Wir alle müssen einmal gehen. Im Alter rückt der Tod immer näher. Wie gehen ältere Menschen damit um, wenn Gleichaltr­ige und ihre Lieben rund um sie sterben? Wie verlieren sie nicht selbst die Lebensfreu­de?

VON BARBARA SCHECHTNER »Ich bin nicht immer stark. Man darf nur nicht zu viel nachdenken:

Was wird aus mir?«

Wenn Julian an seinen Großvater denkt, macht er sich Sorgen. Vor zwei Wochen ist ein guter Freund gestorben. „Opa fällt dann immer in ein Loch. Er ist kaum ansprechba­r, will nichts mehr machen.“Es ist nicht der erste Mensch, mit dem er durchs Leben gegangen ist und der dieses nun verlassen hat. Von vier Geschwiste­rn leben nur noch zwei. Der Freundeskr­eis wird immer kleiner. Für Geburtstag­sfeiern wird die Zahl der Menschen, die man dabeihaben möchte, immer kleiner. „Einer nach dem anderen verlasse ihn, sagt Opa dann immer.“Aber auch: „Bin ich der Nächste?“

Natürlich werde man im Alter immer wieder daran erinnert, „dass unsere Zeit hier unten begrenzt ist“, sagt ein ehemalige Priester einer Grazer Gemeinde, der anonym bleiben möchte. Der Verlust nahestehen­der Personen oder Gleichaltr­iger halte einem auch immer einen Spiegel vor und lasse an das eigene Ableben denken. „In meinem Alter, ich bin 84, da denkt man sehr viel nach. Man denkt an früher, was man erlebt und geleistet hat, welchen Weg man eingeschla­gen hat und wohin er noch führen wird.“In der Arbeit in seiner Pfarrgemei­nde sei er viel mit dem Tod in Berührung gekommen. Er ist zu Sterbenden gerufen worden, hat Begräbniss­e gehalten und mit Angehörige­n gesprochen. Jetzt ist er in Pension, die Arbeit hat er nicht ganz verlassen: „Ich möchte die Zeit, die mir noch bleibt, gut nutzen.“Er sei in der Seelsorge tätig und für Menschen da, „die niemanden haben, denen es nicht gut geht.“Viele von ihnen sind mittlerwei­le verstorben.

Wer mit dem Tod in der Arbeit zu tun habe, lerne, anders mit ihm umzugehen, erzählt Monika Reiserer, die über 20 Jahre ehrenamtli­ch in einem Hospizteam in Mödling gearbeitet hat. Natürlich stehe man dem Menschen, den man begleite, nahe, „auch wenn die Woche darauf wieder ein anderer in diesem Bett liegt“. Aber man nehme die Gedanken an den Tod nicht mit nach Hause. „Und dann ist vor einem Jahr eine sehr liebe Freundin total unerwartet verstorben. Das hat mich dann doch sehr getroffen“, sagt die 83Jährige.

Reiserer sei viel am Grab ihrer Freundin, bringe frische Blumen, spreche mit ihr. „Das gibt mir Trost.“Sie denke an die gemeinsame Zeit, die schönen Reisen, die Touren. „Wir waren sehr viel in den Bergen. Das ist mein Trostpflas­ter. Wenn ich in den Wald gehe, in der Natur bin, dann bin ich bei ihr.“Keiner könne die Lücke füllen, die ein enger Freund hinterlass­e, sagt Andrea ZügnerLenz, Trauerbegl­eiterin und Bestatteri­n aus Voitsberg. Sie spricht von einem „großen Lebenseins­chnitt“: Die gemeinsame­n Freizeitak­tivitäten fallen weg, ein Mensch, den man gut gekannt und mit dem man sich wohlgefühl­t hat, mit dem man offen reden konnte, ist nicht mehr da. In unserer Gesellscha­ft dürften wir nicht mehr trauern, sagt sie. Und plädiert: „Geben wir uns doch die Zeit, die wir brauchen. Die Jacke, der Hut, die dürfen da noch hängen, das Bild darf da noch stehen. Das alles darf sein.“

Was nicht hilft. Wir unterstütz­en Menschen, die gerade einen Verlust verarbeite­n, am besten, indem wir sie in ihrer Trauer annehmen, sagt auch Bestatteri­n und Autorin Sarah Benz („Sarggeschi­chten: Warum selbstbest­immtes Abschiedne­hmen so wichtig ist“). „Wir haben immer das Bedürfnis, alle müssen schnell wieder froh sein. Wir geben ihnen Ratschläge: ‚Geh doch mal raus, schau doch nicht so grämig.‘ Das hilft Menschen, die trauern, gar nicht. Die wollen nicht repariert werden, die dürfen einfach einmal so sein, wie sie sich fühlen.“Wir sollten ihnen zugestehen, dass sie traurig sind, dass sie vielleicht die Lebensfreu­de verlieren – „vielleicht temporär, vielleicht für immer“. Und wenn es so komme, „lade ich dich trotzdem ein und frage dich, wie es dir geht“.

„Viel weinen“, sagt Christine Heintel. Das habe ihr geholfen, mit den Verlusten in ihrem Leben umzugehen. „Alles rauslassen. Und irgendwann ist dann auch wieder mal Schluss. Er möchte bestimmt nicht, dass es mir so schlecht geht.“Wobei, überlegt die 76Jährige: „Es gibt auch den Verlust, von seinem

den Lebenswelt­en der jungen Leute. Sie war bis zum Schluss kontaktfre­udig, auf ihren Reisen hat sie sich nicht im Zimmer verkrochen, sondern in die Lobby gesetzt. So sei sie mit anderen ins Gespräch gekommen. „Mit Frauen. Meine Oma hatte eine Liebe in ihrem Leben, nachdem mein Großvater gestorben ist, hat sie nie wieder einen Mann in ihre Nähe gelassen. Sie hat gemeint, wieso sollte sie sich um einen alten Tatterer kümmern?“Sie war interessie­rt an Frauenfreu­ndschaften – und habe sich dafür gezielt Jüngere ausgesucht.

»Ich bin gläubig. Und ich glaube, meiner Mutter, meiner Freundin, es geht ihnen dort oben besser.«

„Sie wollte nicht über die Krankheite­n, über die Wehwehchen sprechen, die man in ihrem Alter eben so hat. Sie wollte etwas Positives in ihrem Leben.“Cousinen, die ihr am Telefon ihr Leid klagten, stoppte sie: „Du, die Krankenges­chichte, die brauchst du mir nicht erzählen, erzähl sie deinem Arzt.“Ihre neuen Freundinne­n waren Jahrzehnte jünger. Sie verbrachte­n nicht nur den Urlaub zusammen, sondern hatten das ganze Jahr über Kontakt. Sie telefonier­ten, schrieben Briefe, besuchten einander. „Immer wieder kamen Fotos von Enkelkinde­rn und meine Oma hat gelacht und gesagt: ‚Schau, noch ein Urenkerl“.

„Meine Großmutter ist in die Rolle der erfahrenen alten Dame gerutscht“, erzählt Sabine. Die Freundinne­n haben sich ihr geöffnet, „ihr von Problemen erzählt, die meine Oma schon lang hinter sich hatte, mit dem Partner, mit den Kindern, dem Job, Lebenskris­en aller Art.“Und sie hat zugehört, ohne zu verurteile­n, von ihren eigenen Erfahrunge­n erzählt, sie beraten. „Das hat ihr gefallen, darauf konnte sie aufbauen, sich motivieren, das hat ihr viel gegeben.“

„Das größte Glück für ältere Menschen, beziehungs­weise für uns alle, ist, eine Familie und ein schönes soziales Umfeld zu haben“, beobachtet Olivia de Villele, die als Sozialbegl­eiterin im Pflegewohn­heim von Christine Heintel arbeitet. „Für Menschen, die wenige Angehörige haben, ersetzen wir nicht die Familie. Aber wir können einen Beitrag leisten, um eine schwere oder auch die letzte Phase so angenehm, so schön, so respektvol­l und wohlfühlen­d wie möglich zu gestalten.“

Sich gebraucht fühlen, an etwas festhalten, an dem man sich erfreut. Sich nicht allein fühlen. Aber auch: loslassen dürfen, wenn sie bereit dazu sind. Denn nicht alle haben Angst vor dem Tod, sagt Olivia de Villele. „Einige warten darauf, für sie ist er eine Erlösung. Wieder andere glauben an das Leben danach, daran, dass sie wieder mit ihren Lieben vereint sind, die vorangegan­gen sind.“

Der Weg dorthin. Oft ist es auch nicht der Tod, der Angst macht, sondern der Weg dorthin. „Wir alle sterben, ich glaub nicht, dass es wehtut“, sagt Christine Heintel. „Aber das davor? Hast du Schmerzen? Geht es schnell?“Sie sei stark, sagt sie, „aber nicht immer. Man darf nur nicht zu viel nachdenken: Was wird aus mir?“Wenn Fragen wie diese sie plagen, „reise ich mit den Gedanken in eine andere Welt“. Indem sie an früher denke, an die Reisen mit Freunden, „die uns bis nach China und Myanmar gebracht haben“, oder sich Reiseberic­hte ansehe. „Über Mauritius oder so. Ich kann nicht die ganze Zeit grübeln. Das bringt ja nix.“

„Ich erlebe diese Jahre auch zum Teil mit Freude, mit Genugtuung“, erzählt der 84jährige Grazer Priester. Er sei zufrieden über den Weg, den er gegangen sei, und „dankbar für dieses Leben“. Wenn Menschen um ihn sterben, müsse er viel nachdenken, „aber das schreckt mich nicht ab. Diese Station gehört noch zu meinem Leben.“Oder anders ausgedrück­t: „Ich habe sehr viel Schönes und Gutes erlebt. Daher habe ich nicht Angst, dass ich auch schwierige Situatione­n durchtrage­n kann.“

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