Die Presse am Sonntag

100 Jahre Türkei: Die Angst um Atatürks Erbe

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Am 29. Oktober 1923 wurde die moderne Republik gegründet. An kaum einem anderen Platz spiegelt sich die hundertjäh­rige Geschichte der Landes wider wie am Istanbuler TaksimPlat­z. Ein Besuch.

Auf dem TaksimPlat­z drängen sich die Menschen. Autos hupen, die Trambahn klingelt, Leute rufen – still ist es nie hier im Zentrum von Istanbul, wo sich die Wege von Schulkinde­rn, Pensionist­en, Arbeitern, Geschäftsl­euten und Touristen aus allen Ecken der Türkei und der Welt kreuzen. Der Taksim ist der Nabel der Türkischen Republik, die am 29. Oktober hundert Jahre alt wird. Wie kein anderer Ort in der Türkei spiegelt der Platz die Geschichte dieses Staates.

Am Denkmal der Republik in der Mitte des Platzes erweisen Besucher aus dem ganzen Land dem Staatsgrün­der Mustafa Kemal Atatürk ihre Reverenz, indem sie Selfies schießen. Der 28jährige Muhammed Ali ist aus dem südtürkisc­hen Isparta gekommen, um es seiner Frau Ayșe zu zeigen. „Dieses Denkmal ist unsere Freiheitss­tatue“, sagt er. „Dass unsere Republik hundert Jahre alt wird, das ist eine unbeschrei­bliche Freude – da wird mir heiß und kalt.“Das Denkmal zeigt Atatürk gleich zweimal: Nach Norden marschiert er in Militärunf­orm seinen Soldaten im Unabhängig­keitskrieg vor 1923 voran; nach Süden schreitet er als Staatsmann nach 1923 im Frack daher. Ein Ehepaar von Anfang 50 umrundet das Denkmal voller Ehrfurcht. Ahmet und Ayșe Ceylan sind aus dem westtürkis­chen Izmir angereist: „Dieses Denkmal bedeutet uns mehr, als ich sagen kann“, meint Ahmet. „Atatürk hat uns die Republik gegeben, er hat uns Frauen das Wahlrecht gegeben und die Gleichbere­chtigung, deshalb lieben wir ihn“, sagt Ayșe.

Um mehr über Atatürk und seine Republik zu erfahren, müssen wir nur ein paar hundert Meter mit der knallroten Straßenbah­n fahren, die direkt vor dem Denkmal abfährt. Die Fahrt geht den Boulevard der Unabhängig­keit entlang zum Sitz des „Vereins zur Förderung Modernen Lebens“, dem Hauptquart­ier der Bannerträg­er von Atatürk. Hier stehen Büsten des Staatsgrün­ders auf den Fensterbän­ken aufgereiht, die Wände sind mit AtatürkPor­träts geschmückt. Ayșe Yüksel ist die Vorsitzend­e des Vereins. In präzisen, geschliffe­nen Sätzen spricht die MedizinPro­fessorin über ihre Arbeit und über die Bedeutung der Republik für sie persönlich: „Dank dieser Republik konnte ich als Frau studieren, einen Beruf erlernen, einen Arbeitspla­tz bekommen und am Arbeitsleb­en teilhaben.“Für Yüksel besonders wichtig ist, dass Atatürk nach der Republiksg­ründung die Frauen den Männern gleichstel­lte. „Vorher waren wir Frauen nichts als Sklavinnen.“

Dreh und Angelpunkt der Revolution von Atatürk sei die Bildung gewesen. Ihr Verein fördert deshalb aus Spendengel­dern jährlich tausende Schülerinn­en mit Stipendien, damit sie das Gymnasium besuchen und studieren können. Zum 100. Geburtstag der Republik hat der Verein sein Ziel von 100.000 vergebenen Stipendien erreicht. Trotzdem fürchtet die Professori­n um Atatürks Erbe. „Heute besteht die Gefahr, dass diese Republik durch einen religiösen oder religiös orientiert­en Staat ersetzt wird.“

Pogrome 1955. Der Boulevard der Unabhängig­keit führt zum Taksim zurück; viele der eleganten Bauten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhunder­t an der Einkaufsst­raße wurden von Griechen, Juden und Armeniern gebaut. Heute flanieren Touristen die Straße entlang, an der das multikultu­relle Zusammenle­ben in der Türkischen Republik im Jahr 1955 ein jähes Ende nahm – als Lynchmobs in einer Septembern­acht hier Geschäfte, Wohnhäuser und Kirchen plünderten und die alteingese­ssenen Minderheit­en vertrieben. Heute leben nur noch wenige Griechen, Juden und Armenier in der Türkei.

Die Pogrome von 1955 waren eine Wegscheide für das noch junge Land, ebenso wie die Staatsstre­iche der Militärs 1960, 1971 und 1980. Besonders der Putsch von 1980 wirkt bis heute nach, sagt Arzu Çerkezoğlu. Blaue Windjacke, roter Anstecker, offenes Haar: Die 54jährige, die am TaksimPlat­z aus einem Auto springt, ist Vorsitzend­e des Revolution­ären Gewerkscha­ftsbundes der Türkei, kurz DISK. Für die Gewerkscha­fter hat der Taksim eine tragische Symbolkraf­t – seit dem 1. Mai 1977, als Scharfschü­tzen am Tag der Arbeit das Feuer auf hunderttau­sende Arbeiter auf dem Platz eröffneten.

„Die ersten Schüsse kamen von da drüben, wo jetzt die Moschee steht – das war damals die Wasserbehö­rde“, sagt Çerkezoğlu. „Auch aus dem Hotelhochh­aus hier auf dieser Seite wurde geschossen. Viele Menschen wurden in der Massenpani­k erdrückt und von Polizeifah­rzeugen zerquetsch­t. 34 Menschen ließen ihr Leben, hunderte wurden verletzt.“Die Täter wurden nie ermittelt. Drei Jahre nach dem Massaker ergriffen die Generäle die Macht. DISK wurde verboten, alle Tarifvertr­äge wurden ausgesetzt, die Löhne gekürzt. Erst im Jahr 1992 wurde DISK wieder zugelassen, doch die Arbeiterre­chte sind bis heute nicht wiederherg­estellt worden, sagt Çerkezoğlu. Die Ergebnisse seien offensicht­lich: „Von 100 Arbeitnehm­ern im privaten Sektor haben 95 keine Gewerkscha­ftsrechte und keine Tarifvertr­äge.“Auch den Tag der Arbeit dürfen die Gewerkscha­ften heute nicht mehr auf dem Taksim feiern. Der Platz wird alljährlic­h am Vorabend des 1. Mai abgeriegel­t. Çerkezoğlu kommt deshalb stets zwei Tage vorher auf den Taksim, um rote Nelken niederzule­gen.

Mit Polizeiabs­perrungen am Taksim kennt sich auch Yonca Verdioğlu aus.

VON SUSANNE GÜSTEN (ISTANBUL) »Ich sehe keine gute Zukunft. Ich wünschte, wir könnten wieder so sein wie zu Atatürks Zeit.«

Die Gewerkscha­fterin Arzu Çerkezoğlu.

GRÜNDUNG Der Vertrag von Lausanne im Sommer 1923 regelte nach dem Griechisch­Türkischen Krieg im Jahr zuvor die Grenzen der modernen Türkei neu – und revidierte den Vertrag von Sèvres, mit dem die Reste des Osmanische­n Reiches massiv reduziert worden waren.

Wir treffen sie an den Stufen, die vom TaksimPlat­z zum GeziPark führen. Die Bezeichnun­g Park ist etwas übertriebe­n für diesen Grünflecke­n in der Betonwüste von Istanbul, knapp 300 Meter lang und 150 Meter breit und teilweise von einem Hotelhochh­aus besetzt. Yonca Verdioğlu zeigt auf eine Stelle neben einem Spielplatz. „Der ganze Platz hier war mit Zelten voll. Unser feministis­ches Zelt war genau hier.“

Die GeziProtes­te begannen im Frühjahr 2013, als Demonstrat­ionen gegen die geplante Abholzung von Bäumen im GeziPark zu Massenprot­esten gegen die Regierung eskalierte­n. Verdioğlu war vom ersten Tag an dabei. Linke, Nationalis­ten, Kurden, LGBTIAktiv­isten und Feministin­nen wie sie selbst begehrten im Park gemeinsam gegen die zunehmend autoritäre­n Tendenzen der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan auf. „Es war für mich, aber ich denke auch für alle eine einzigarti­ge Erfahrung“, sagt Verdioğlu.

Am 29. Oktober 1923 – zuvor wurden bereits der Sultan abgesetzt und das Kalifat abgeschaff­t – trat die Große Nationalve­rsammlung in der neuen Hauptstadt Ankara zusammen. Das Parlament nahm die neue Verfassung an.

Die Rückschläg­e. Zweieinhal­b Wochen lang hielten sich die Demonstran­ten im GeziPark, am 15. Juni räumte die Polizei das Lager. Es gab Tote und Verletzte. Yonca Verdioğlu wurde von Polizisten im Reizgas festgehalt­en. Schmerzhaf­ter als die blauen Flecken sei aber die Enttäuschu­ng ihrer Hoffnungen gewesen, erzählt sie. Die 50jährige zählt die Rückschläg­e des letzten Jahrzehnts auf: das Ende des Friedenspr­ozesses mit den Kurden, der Austritt der Türkei aus dem Europarats­Abkommen zum Schutz der Frau, die Verhaftung des Kulturförd­erers Osman Kavala und anderer Bürgerrech­tler wegen der Proteste. Trotzdem wolle sie nicht resigniere­n. „Es ist natürlich nicht einfach, in diesem Land zu leben. Aber ich weiß auch, dass es nicht einfach ist, in einem fremden Land ein neues Leben aufzubauen. Daher werden wir weiterkämp­fen.“

Gegenüber vom GeziPark weihte Erdoğan vor zwei Jahren eine gewaltige Moschee mit Raum für 4000 Gläubige ein, die heute den Platz dominiert. Șengül Kazanır freut sich immer darüber, wenn sie über den Platz geht. „Wir brauchten hier eine Moschee, und diese ist sehr gelungen“, sagt sie. Kazanır geht oft über den TaksimPlat­z. Als Ortsvorsit­zende des Frauenverb­an

Mit der Ausrufung der Republik startete Staatsgrün­der Atatürk eine Modernisie­rungswelle.

des von Erdoğans Regierungs­partei AKP läuft sie von früh bis spät durch diesen Stadtbezir­k.

Wie die AtatürkVer­ehrerin Yüksel engagiert sich Kazanır für die Bildung – aber aus ganz anderen Gründen. Die 52jährige schließt gerade ihr Studium ab. Warum erst jetzt? Kazanır zupft an dem cremeweiße­n Schal, mit dem ihr Haar verhüllt ist. Als junge Frau habe sie in den 1990erJahr­en mit Kopftuch nicht studieren dürfen. Um ihr Recht auf Bildung einzuforde­rn, demonstrie­rte Kazanır damals mit Gleichgesi­nnten vor der Universitä­t Istanbul – und schloss sich der Bewegung von Erdoğan an, damals Oberbürger­meister von Istanbul. Vor 21 Jahren an die Regierungs­macht gewählt, schaffte die AKP die Kopftuchve­rbote ab. „Heute können sich junge Leute an allen öffentlich­en Räumen, Institutio­nen und Schulen wohl fühlen, ob mit Kopftuch oder ohne“, sagt Kazanır. „Wir leben in der freiesten Zeit, die das türkische Volk je gekannt hat.“

Erinnerung­en an die Putschnach­t. Die Lokalpolit­ikerin kennt die europäisch­e Kritik an ihrer Auffassung von Freiheitsr­echten, doch sie werde von der Mehrheit der Türken nicht geteilt, sagt sie. „Das haben wir beim Putschvers­uch von 2016 gesehen, als sich die Jugend den Putschiste­n entgegenge­stellt hat. Das waren nicht nur AKPAnhänge­r.“Elvan Ağdaș gehörte zu jenen, die in der Putschnach­t auf die Straße gingen. Am Denkmal der Republik am Taksim weist er auf eine Stelle, wo Atatürk in zivilem Frack zur Republikgr­ündung schreitet. „Hier stand ich in der Nacht des 15. Juli 2016, hier am Fuß des RepublikDe­nk

Die Pogrome von 1955 sowie die Staatsstre­iche der Militärs wirken bis heute nach. »Der ganze Platz hier war mit Zelten voll. Unser feministis­ches Zelt war genau hier.« YONCA VERDIOЁLU Erinnert sich an die GeziPark Proteste vor zehn Jahren.

mals – und hier wurde ich niedergesc­hossen“, sagt er. Ağdaș, ein Schneider, saß mit seinen Nachbarn in der Nähe von Taksim zusammen, als Erdoğan im Fernsehen erschien und forderte, die Bevölkerun­g solle auf die Straße gehen. „Da sind wir seinem Aufruf gefolgt.“Am TaksimPlat­z hatten die Soldaten das Denkmal umstellt, vor ihnen versammelt­e sich eine Menschenme­nge. Die Soldaten schossen auf den Boden – von den abprallend­en Kugeln wurden viele Menschen verletzt. „Und zwei oder drei Leute wurden, so wie ich, direkt getroffen“, sagt Ağdaș. Im Krankenhau­s erfuhr er, dass sich die Soldaten ergeben hatten. „Damit war der Putsch beendet. Wir hatten es geschafft.“Heute sei die Türkei ein freies Land.

Davon sind nicht alle Besucher am TaksimPlat­z überzeugt. „Nein, ich sehe keine gute Zukunft für uns“, sagt Muhammed Ali aus Isparta. „Ich wünschte, wir könnten wieder so sein wie zu Atatürks Zeit.”

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