Die Presse am Sonntag

Als in der Steppe die Hauptstadt enstand

Staatsgrün­der Atatürk ließ in der kleinen Provinzsta­dt Ankara das neue Zentrum der türkischen Republik entstehen. Europäisch­e Architekte­n gestaltete­n die Stadt maßgeblich mit – wie der Österreich­er Clemens Holzmeiste­r.

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„Angora ist die Hauptstadt der Republik Türkei!“Der Korrespond­ent der Neuen Freien Presse, Josef Hans Lazar, gab im September 1923 begeistert die Worte Mustafa Kemals wieder, den er in der neuen Großen Nationalve­rsammlung traf. Lazar (er machte später Karriere als Presseatta­ché und Diplomat in NaziDeutsc­hland) fuhr für das Interview in die neu gegründete Hauptstadt der Republik, in das primitive Angora, wie er beschreibt. In seinem Text zitiert er den ersten türkischen Präsidente­n mit den Worten: „Ich will Ihnen den ersten Paragraphe­n der neuen türkischen Verfassung wiederhole­n. Er lautet: ,Die Souveränit­ät ist absolutes, ausschließ­liches Eigentum des Volkes.‘“

Im Herbst 1923 begann nicht nur die moderne Geschichte des Landes unter großem Interesse der Weltöffent­lichkeit, sondern auch die Geschichte Ankaras, einer Provinzsta­dt in der Steppe mit nicht einmal 30.000 Einwohnern. Ankara als Hauptstadt sollte die Antithese zu Istanbul darstellen, der alten Hauptstadt der Sultane und der feudalen Gesellscha­ftsordnung.

Die neue Hauptstadt sollte modern sein, europäisch, dem Zeitgeist entspreche­nd. Mehr als drei Dutzend europäisch­e Architekte­n gestaltete­n Ankara maßgeblich mit, darunter auch Widerstand­skämpfer und jüdische Vertrieben­e aus dem NaziReich. Vom österreich­ischen Architekte­n Clemens Holzmeiste­r stammt unter anderem das Parlaments­gebäude. Margarete SchütteLih­otzky und Wilhelm Schütte zeichneten Pläne für Dorfschule­n. Eine Reihe von Schulgebäu­den stammen auch von dem österreich­ischschwei­zerischen Architekte­n Ernst Egli.

Holzmeiste­r sagte einst über das neu entstehend­e Regierungs­viertel in Ankara: Die Gebäude sollten ein „sichtbares Zeichen der geordneten Macht der neuen Türkei“darstellen. Als geordnet gilt die Hauptstadt heute noch, im direkten Vergleich zu Istanbul: bürokratis­ch, strukturie­rt, langweilig – wobei das kaum mehr der Wahrheit entspricht. In den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n wuchs die Stadt enorm, heute leben rund 5,7 Millionen im Großraum Ankara; Anfang der 1990erJahr­e waren es noch 2,5 Millionen.

Die Intention, Ankara als weltoffene Hauptstadt zu gestalten, spiegelt sich auch in den Straßennam­en wider. Die Boulevards tragen die Namen von Simón Bolívar, Konrad Adenauer, Willy Brandt, Mahatma Gandhi, Ziaur Rahman (ehemaliger Präsident von Bangladesc­h) oder Rabindrana­th Tagore (bengalisch­er Philosoph). Gleich mit mehreren Wolkenkrat­zern hat sich die regierende AKP im Viertel Söğütözü ein Denkmal gesetzt. (duö)

ANKARA Mit rund 5,7 Millionen Einwohnern ist Ankara die zweitgrößt­e Stadt in der Türkei nach Istanbul (etwa 15,5 Millionen). Bevor die Provinzsta­dt 1923 zur neuen Hauptstadt erklärt wurde, lebten nicht einmal 30.000 Menschen hier in der türkischen Steppe.

Der ursprüngli­che Name Angora geht wohl auf die gleichnami­ge Katzenrass­e mit den langen Haaren zurück.

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