»Mit meinem Vater habe ich mich versöhnt«
In seinem Roman »Großes Spiel« schreibt Hans Platzgumer über Japans Geschichte und einen skrupellosen Hauptmann der Geheimpolizei. Dieser erinnert den Schriftsteller und Musiker an seinen verstorbenen Vater. Über die Versöhnung mit seinem »ideologischen Feind«, sein zweites Leben und die Notwendigkeit von kleinen Rissen sprach er mit der »Presse am Sonntag«.
VON JUDITH HECHT
STECKBRIEF 1969 in Innsbruck geboren. Nach dem Studium an der Wiener Musikhochschule zog er nach Berlin und 1989 nach New York und Los Angeles, wo er die Formation HP Zinker gründet. 1995 schloss er sich in Hamburg den Goldenen Zitronen an. Unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte er elektronische Musik.
Seit den 2000erJahren verlagerte er den Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens hin zur literarischen Arbeit als Romancier und Essayist. Seit seinem Debütroman „Expedition“2005 sind zehn Bücher und etliche Artikel erschienen. 2016 wurde sein Roman „Am Rand“zum Bestseller und für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2018 folgt „Drei Sekunden Jetzt“, 2019 der Essayband „Willkommen in meiner Wirklichkeit!“, 2021 erschienen der Roman „Bogners Abgang“und mehrere Essays.
Vor wenigen Wochen erschien „Großes Spiel“, ein Roman, der von dem KantōErdbeben 1923 handelt und dem politischen Machtvakuum, das danach entstand.
Sie waren viele Jahre als Musiker sehr erfolgreich. Mit 30 Jahren haben Sie sich auf einmal dem Schreiben zugewandt. Hat Sie das Musikmachen zu langweilen begonnen?
Hans Platzgumer: Ja, das ist so. In der Musik hatte ich einen Punkt erreicht, an dem ich mich zu wiederholen begann. Es war für mich nicht mehr so aufregend. Egal ob Musiker oder Schriftsteller, das Tollste in der Kunst ist, das Unbekannte zu erforschen. Die Momente, in denen es einem gelingt, wohin zu kommen, wo man zuvor noch nie war, aber unbedingt hinwollte, sind die aufregendsten, die lohnendsten überhaupt.
Wann und wie haben Sie bemerkt, dass Sie sich immer wiederholen?
In den 1990erJahren. Ich habe bemerkt, dass meine Finger, sobald ich eine Gitarre in die Hand nahm, immer dasselbe machen, immer das übliche Gewichse. Das habe ich gehasst. Das war der Moment, in dem ich die Gitarre weggelegt habe. Jede Lust ist mir vergangen, bis heute.
Verstehe. Aber wie kamen Sie auf die Idee, zu schreiben?
Nachdem ich die Gitarre weggelegt hatte, habe ich zehn Jahre lang nur mehr elektronische Musik gemacht und im Zuge dessen auch viele Hörspielarbeiten für den Bayerischen Rundfunk (BR), der damals die aufregendste Medien, Kunst und Hörspielabteilung von allen deutschsprachigen Sendern hatte. Mit der Dramaturgin vom BR bin ich oft zusammengesessen und habe ihr von meinem früheren Leben als Gitarrist und den über 2000 Konzerten erzählt, die ich auf der ganzen Welt gespielt habe. Da waren viele Anekdoten und wilde Geschichten dabei. „Möchtest du das nicht alles einmal zusammenschreiben? Diese Stories sind zu gut, als dass man sie der Welt vorenthält“, sagte sie. So hat alles angefangen.
Wussten Sie, dass Sie schreiben können? Nein, meine Geschichten waren gut, aber schlecht geschrieben, sie klangen wie ein Schulaufsatz. Irgendwann hat mir die Dramaturgin einen Lektor zur Seite gestellt. Er ist mit mir die Texte durchgegangen und hat überall rote Kommentare gemacht.
Das haben Sie ausgehalten?
Ja, es hat mir sehr geholfen. Langsam habe ich ein G’spür dafür gekriegt, worauf es ankommt. Nach vier Jahren ergebnisoffener Arbeit hat es auf einmal diesen „Heureka“Moment gegeben. Plötzlich musste ich nicht mehr nachdenken, sondern der Text ist aus mir – wie früher die Musik – hinausgeflossen und hatte Dynamik, Rhythmus und Stil. So ist daraus mein erster autobiografischer Roman geworden. Ich bekam gute Kritiken und habe sofort mit meinem nächsten Buch begonnen. Von da an hat mich das Schreiben nie mehr losgelassen.
Hätten Sie mit 20 oder 25 Jahren auch schon so ins Schreiben kippen können?
Ich glaube nicht, denn Schreiben hat für mich viel mit meinem Erfahrungsschatz zu tun. Ohne ihn könnte ich nicht so schreiben. In meinem ersten Lebensdrittel habe ich sehr viel erlebt, es war intensiv, es war schnell, es war lebensgefährlich.
Weil Sie als Musiker so viele Drogen konsumiert haben?
Ja, ein Glück, dass ich das heil überstanden habe, andere Musiker in meinem Umfeld haben das nicht. Kurt Cobain von Nirvana ist das beste Beispiel. Mit ihnen haben wird damals viel gespielt. Wir waren auf einem Level. Aber mit dem Song „Smells Like Teen Spirit“brach dieser Riesenerfolg über sie herein. Das hat Cobain nicht verkraftet.
Was genau lässt einen den Erfolg nicht verkraften?
In meinem RockstarZenit habe ich nicht verkraftet, dass alle um einen herum so hysterisch werden. Man ist der Genialste und Wichtigste. Gerade ein junger, verwirrter Kopf kann das nicht einordnen. Zu den Drogen kommt noch dieses völlig unstete Leben, wir waren ständig auf Achse, pro Jahr haben wir 300 Konzerte gegeben. Da verliert man sich schnell.
Warum haben Sie Drogen genommen?
Weil das alle gemacht haben. In den USA wurden in jedem kleinen Grocery Store unter dem Ladentisch Kokain und Heroin verkauft. Bei mir kam dann der Punkt, an dem ich merkte, dass ich verrückt werde. Ich wusste nicht mehr, was ich tat. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal in Hamburg in irgendeiner Kneipe aufgewacht bin, ohne zu wissen, wie ich dort hingekommen bin.
Aber Sie hatten die Stärke, sich aus diesen Abgründen wieder hinauszumanövrieren. Stärke? Es waren eher Glück und vor allem meine Frau. Sie war immer eine sehr geerdete Person. Wir sind schon 35 Jahre zusammen.
Wie sie diese Zeit an Ihrer Seite ausgehalten hat, frage ich mich.
Das frage ich mich auch. Sie hat mich aus dem Paralleluniversum wieder zurückgezischt, obwohl ich auch zu ihr ein Arschloch war. Zur Zäsur kam es, als ich mit 30 den totalen körperlichen Zusammenbruch hatte. Und unser erstes Kind kam. Damals begann ich zu schreiben. Alles zusammen hat sich wie eine Geburt in ein zweites, in ein ganz anderes Leben angefühlt. Das Schöne dabei ist, die Erfahrungen sind geblieben und ich greife beim Schreiben immer auf sie zurück.
In Ihrem jüngsten Roman „Großes Spiel“blickt ein Hauptmann der japanischen Geheimpolizei auf sein Lebens zurück, auf den erbitterten und brutalen Kampf, den er im Schatten Kaiser Yoshihitos gegen Anarchisten und Aufrührer geführt hat. Dieser Hauptmann hat Sie an Ihren Vater erinnert. Sie hatten ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihm. Kam es je zu einer Versöhnung?
Ja, als mein Vater schon völlig in die Demenz gerutscht war, sind wir Freunde geworden. In dieser späten Phase dieser grausamen Krankheit, als niemand mehr Zugang zu ihm hatte, war ich sein einziger Kumpane. Wahrscheinlich, weil ich als Schriftsteller so etwas wie eine literarische Beziehung mit ihm führen konnte.
Was heißt das?
Ich bin mit ihm auf all seine geistigen Reisen gegangen, so absurd sie auch waren. Wir sind im Krankenhaus durch die Gänge spaziert, und für ihn waren es Bergtouren auf die Tiroler Berge. So haben wir gemeinsam die wildesten Abenteuer erlebt. Wir befanden uns auf einmal in einer komplett freien Welt. Zuvor war seine Welt als erzkonservativer, katholischer Tiroler Sicherheitsdirektor, Polizeibeamter und Jurist so eng wie nur irgend möglich gewesen. Aus den rigiden Vorstellungen, wie die Gesellschaft zu sein hat, ist er nicht herausgekommen.
Als junger Punk und Musiker, der noch dazu aus der Kirche ausgetreten ist, müssen Sie für ihn ein Albtraum gewesen sein.
Ja, und er für mich. Ideologisch gesehen war er mein absoluter Feind. Ich war der junge Rebell und er der Polizist, der Vertreter der Herrschaft und der Macht. Ich aber habe jede Autorität infrage gestellt. Klar, dass wir total aufeinander geclasht sind. Danach haben wir uns getrennt, wir haben jahrzehntelang nicht miteinander geredet, und ich wurde enterbt.
Haben Sie auch als Kind nie schöne Momente mit Ihrem Vater erlebt?
Nein. Gar nicht. Zum Glück hatte ich meine Großeltern, sie waren meine Rettung, sie haben mir gezeigt, dass es bedingungslose Liebe gibt. Deshalb war es mir wichtig, als meine Kinder auf die Welt kamen, dass sie eine Beziehung zu meinen Eltern aufbauen. Und das ist gelungen.
Auch zu Ihrem Vater?
Ja, weil er damals schon eine gewisse Altersmilde hatte. Das hat mir gezeigt, man muss all diesen alten, weißen Männern zugestehen, dass sie in späten Jahren großzügiger werden und neue Einsichten entwickeln können.
Im Idealfall.
Bei meinem Vater war das so. Wobei, die große Offenheit kam erst, als er seinen Geist verloren hatte und damit seine Zwänge.
Tief in seinem Innersten muss es wohl etwas Weicheres gegeben haben, was ihm seine Rigidität zu zeigen verbot. Was meinen Sie? Ich glaube schon. Ich erinnere mich da an eine Szene: In Innsbruck war in den 1980ern die Aufregung über Punks, die mit ihren Irokesenschnitten und zerrissenen Lederjacken auf den Straßen herumlungerten, groß. In der Welt meines Vaters hatten sie keinen Platz. Aber eines Tages erzählte er beim Mittagessen, dass er auf dem Heimweg ein junges PunkPärchen mit einem kleinen Kind vom Bus aus gesehen habe. Und dass der PunkVater so lieb mit dem Baby umgegangen sei. Das hat ihn berührt. Auf einmal war dieser Punk ein Mensch und kein Monster mehr. Auf einmal gab es einen kleinen Riss, der in seine Hülle ein wenig Licht hineinfallen ließ. Das war wichtig. Diese kleinen Risse sind für uns alle wichtig.