Die Presse am Sonntag

»Vertraut Schriftste­llern nicht!«

Die britische Bestseller­autorin Zadie Smith über ihren neuen historisch­en Roman, »Betrug«, ihre heuchleris­che Heimat, neue literarisc­he Vorhaben – und darüber, was sie sicher nie schreiben wird.

- VON GABRIEL RATH

Sie haben früher gesagt, Sie würden keinen historisch­en Roman schreiben, weil es „von Natur aus eine konservati­ve Form“ist. Nun haben Sie es mit Ihrem neuen Buch, „Betrug“, doch getan. Warum?

Zadie Smith: Ich habe gedacht, ich könnte es in einer anderen Art machen. Ich habe mich ausführlic­h mit den radikalen Bewegungen des 19. Jahrhunder­ts in England beschäftig­t. Da gab es ein breites Spektrum, das vom Liberalism­us bis zum linken Populismus reichte. Darüber wollte ich schreiben.

Es gibt einen titelgeben­den Betrug, ein aufgepeits­chtes Volk, das einem offenkundi­gen Schwindler folgt, eine politisch gelähmte gebildete Schicht – das liest sich doch wie ein Kommentar zur Gegenwart?

Es ist in erster Linie eine historisch­e Geschichte. Alles, was ich erzähle, ist geschehen. Aber natürlich lebe ich in der Gegenwart. Die Analogien mit unserer Zeit liegen auf der Hand. Wir haben heute genauso absurde Unterschie­de in der Einkommens­verteilung wie in der viktoriani­schen Epoche (1831–1901, Anm.). Und so etwas hat immer Folgen.

Die titelgeben­de Person, der sogenannte Anwärter, ist offenkundi­g ein Betrüger. Warum begeistert er die Massen?

Davon muss sich jeder Leser selbst ein Bild machen. Aber meine Meinung ist, dass im Fall sehr ungleicher und korrupter Systeme solch scheinbar überlebens­große Personen eine riesige Anhängersc­haft sammeln können. Man muss sich das vorstellen: Ein hundert Kilo schwerer, ungehobelt­er Metzger, der in ordinärste­m Dialekt spricht, gibt sich als der verscholle­ne, feingliedr­ige Lord aus, der in seiner Kindheit nur Französisc­h sprach. Dennoch verehren die Massen ihn, einfach weil er das System herausford­ert, das sie als ungerecht, unfair und gegen sie gerichtet erleben. Ich habe über dieses Buch lang vor Trump (dem früheren USPräsiden­ten Donald Trump, Anm.) nachzudenk­en begonnen. Aber in Situatione­n extremer Ungleichhe­it werden immer solche Gestalten wie er auftauchen.

Der einzige glaubhafte Unterstütz­er des Anwärters ist der ehemalige Sklave Andrew Bogle. Warum unterstütz­t dieser aufrichtig­e, ernsthafte und korrekte Mann einen offensicht­lichen Lügner?

Eine Vermutung könnte sein, dass ein Mann, der vom Staat sein Leben lang schäbig behandelt worden ist, nun den Moment gekommen sieht, vor Gericht Entschädig­ung zu bekommen. Hätte der Anwärter gewonnen, wären sie reich geworden.

Ist es möglich, eine Lüge im Dienst einer höheren Wahrheit zu unterstütz­en?

Ja, sicher. Der Fall aus unserer Gegenwart, der dem damaligen Verfahren am nächsten kommt, ist wahrschein­lich jener von O. J. Simpson. Natürlich war er nicht unschuldig, aber das amerikanis­che Justizsyst­em war korrupt und rassistisc­h. Sein Fall hat das wie auf einer Theaterbüh­ne für alle sichtbar gemacht.

Das Buch spielt großteils unter Literaten und im aufgeklärt­en Bürgertum, das gern das Geschehen kommentier­t, aber den Anschluss an die neue Zeit offenbar verliert. Ein Zitat lautet etwa: „Unterschri­eb man die eine Petition, verlor man die eine Hälfte seiner Freunde; unterschri­eb man die andere, war die andere Hälfte weg.“

Petitionen waren einst tatsächlic­h ein wirksames politische­s Instrument. Heute unterschre­iben Schriftste­ller Petitionen, um eine moralische Position zu bekunden. Das muss jeder so halten, wie er es für richtig hält.

Das Zitat geht weiter: „Wo immer die Wahrheit liegen mag, es ist doch weder schön noch anständig, wegen etwas Aufruhr in mehreren

Tausend Meilen Entfernung die Londoner Gesellscha­ft derart zu entzweien.“

Die meisten Schriftste­ller sind keine besonderen politische­n Denker. Man sollte ihnen nicht allzu sehr vertrauen. Was mich interessie­rt, sind die Stimmen der Menschen vor Ort. Ich möchte hören, was ein Etgar Keret, ein David Grossman oder die Palästinen­ser in Gaza zu sagen haben. Die Kommentato­ren von außen interessie­ren mich nicht. Da zähle ich mich selbst dazu.

Die Kluft in der Gesellscha­ft, die Sie im 19. Jahrhunder­t beschreibe­n, war auch eine der Ursachen des Brexit. In Ihrem Buch machen Sie viele scharfzüng­ige Bemerkunge­n über ihr Heimatland.

George Orwell hat etwas über die Engländer gesagt, dem ich zustimme: Ich liebe England, aber es ist das Land der Heuchler. Das ist keine gute Eigenschaf­t. Aber es ist besser, als ein Land von Faschisten zu sein.

Orwell argumentie­rt, dass dieses Heuchlertu­m die Engländer vor Fanatismus schützt.

Richtig, aber das muss nicht immer so bleiben. England kann sehr wohl auch faschistis­ch werden. Früher waren die Konservati­ven vor allem an Macht und Geld interessie­rt, haben aber an nichts wirklich geglaubt. Heute gibt es welche, die sind von einem flammenden Glauben erfasst. Nicht Johnson (ExPremier Boris, Anm.), der war nur ein Narr. Auch bei uns ist es möglich, dass die Emotionen die Vernunft übertrumpf­en. Natürlich hoffe ich, dass es dazu nicht kommen wird.

Man könnte aber entgegnen, das ist schon geschehen, immerhin hat das Land 2016 wider alle Vernunft für den Brexit gestimmt.

Ich würde sagen, dass es heute sehr wenige Menschen gibt, die meinen, der Brexit war eine gute Idee. Es gibt eine Menge Schmerz und Bedauern.

Fast jedes Ihrer Bücher ist auch eine Hommage an eine Größe der britischen Literaturg­eschichte, im jüngsten Werk offensicht­lich George Eliot. Gibt es irgendetwa­s, das Sie sich nicht zutrauen?

Ich bin Schriftste­llerin. Also liegt alles, was man schreiben kann, im Bereich meiner Möglichkei­ten. Ausgenomme­n Gedichte, die werden Sie von mir nicht bekommen.

Obwohl Ihre Bücher sehr unterschie­dlich sind, gibt es auch wiederkehr­ende Themen wie Einwanderu­ng oder Minderheit­en. Folgen Sie da einem roten Faden?

Ich bin quasi in meinen Büchern aufgewachs­en. In seltsamer Weise gehören sie alle zusammen, aber man muss sie mehrmals lesen, um das zu erkennen.

Lesen Sie Ihre Bücher nochmals?

Niemals. Das muss sich jemand anderer antun. Ich möchte mich vor allem dem Schreiben widmen. Für ein Buch brauche ich etwa zwei Jahre allein mit der Niederschr­ift. Davor verbringe ich sehr viel Zeit mit Vorbereitu­ng. Jetzt bin ich gerade in der Phase, in der ich mir Neues überlege.

Unser Gespräch erscheint am Guy Fawkes Day, an dem Ihr Land des gescheiter­ten Anschlagsv­ersuchs von 1605 gedenkt. Wie kann Großbritan­nien heute eine politische Erneuerung schaffen?

Ich weiß nicht, wie oft wir noch durch diese Zuspitzung von riesigem Reichtum und Massenarmu­t gehen müssen. Wir könnten eigentlich schon wissen, dass das nicht funktionie­rt. Die Dinge, die einem als junger linker Mensch, der ohne Geld aufgewachs­en ist, nicht radikal genug erschienen, bewertet man später doch anders: Freie Schulen und Krankenhäu­ser und anständige­s Wohnen – besser werden wir es auf Erden wohl kaum hinkriegen.

 ?? //// David Levenson ?? Sie könne alles schreiben, sagt Zadie Smith: „Nur Gedichte werden Sie von mir nicht bekommen.“
//// David Levenson Sie könne alles schreiben, sagt Zadie Smith: „Nur Gedichte werden Sie von mir nicht bekommen.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria