»Vertraut Schriftstellern nicht!«
Die britische Bestsellerautorin Zadie Smith über ihren neuen historischen Roman, »Betrug«, ihre heuchlerische Heimat, neue literarische Vorhaben – und darüber, was sie sicher nie schreiben wird.
Sie haben früher gesagt, Sie würden keinen historischen Roman schreiben, weil es „von Natur aus eine konservative Form“ist. Nun haben Sie es mit Ihrem neuen Buch, „Betrug“, doch getan. Warum?
Zadie Smith: Ich habe gedacht, ich könnte es in einer anderen Art machen. Ich habe mich ausführlich mit den radikalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts in England beschäftigt. Da gab es ein breites Spektrum, das vom Liberalismus bis zum linken Populismus reichte. Darüber wollte ich schreiben.
Es gibt einen titelgebenden Betrug, ein aufgepeitschtes Volk, das einem offenkundigen Schwindler folgt, eine politisch gelähmte gebildete Schicht – das liest sich doch wie ein Kommentar zur Gegenwart?
Es ist in erster Linie eine historische Geschichte. Alles, was ich erzähle, ist geschehen. Aber natürlich lebe ich in der Gegenwart. Die Analogien mit unserer Zeit liegen auf der Hand. Wir haben heute genauso absurde Unterschiede in der Einkommensverteilung wie in der viktorianischen Epoche (1831–1901, Anm.). Und so etwas hat immer Folgen.
Die titelgebende Person, der sogenannte Anwärter, ist offenkundig ein Betrüger. Warum begeistert er die Massen?
Davon muss sich jeder Leser selbst ein Bild machen. Aber meine Meinung ist, dass im Fall sehr ungleicher und korrupter Systeme solch scheinbar überlebensgroße Personen eine riesige Anhängerschaft sammeln können. Man muss sich das vorstellen: Ein hundert Kilo schwerer, ungehobelter Metzger, der in ordinärstem Dialekt spricht, gibt sich als der verschollene, feingliedrige Lord aus, der in seiner Kindheit nur Französisch sprach. Dennoch verehren die Massen ihn, einfach weil er das System herausfordert, das sie als ungerecht, unfair und gegen sie gerichtet erleben. Ich habe über dieses Buch lang vor Trump (dem früheren USPräsidenten Donald Trump, Anm.) nachzudenken begonnen. Aber in Situationen extremer Ungleichheit werden immer solche Gestalten wie er auftauchen.
Der einzige glaubhafte Unterstützer des Anwärters ist der ehemalige Sklave Andrew Bogle. Warum unterstützt dieser aufrichtige, ernsthafte und korrekte Mann einen offensichtlichen Lügner?
Eine Vermutung könnte sein, dass ein Mann, der vom Staat sein Leben lang schäbig behandelt worden ist, nun den Moment gekommen sieht, vor Gericht Entschädigung zu bekommen. Hätte der Anwärter gewonnen, wären sie reich geworden.
Ist es möglich, eine Lüge im Dienst einer höheren Wahrheit zu unterstützen?
Ja, sicher. Der Fall aus unserer Gegenwart, der dem damaligen Verfahren am nächsten kommt, ist wahrscheinlich jener von O. J. Simpson. Natürlich war er nicht unschuldig, aber das amerikanische Justizsystem war korrupt und rassistisch. Sein Fall hat das wie auf einer Theaterbühne für alle sichtbar gemacht.
Das Buch spielt großteils unter Literaten und im aufgeklärten Bürgertum, das gern das Geschehen kommentiert, aber den Anschluss an die neue Zeit offenbar verliert. Ein Zitat lautet etwa: „Unterschrieb man die eine Petition, verlor man die eine Hälfte seiner Freunde; unterschrieb man die andere, war die andere Hälfte weg.“
Petitionen waren einst tatsächlich ein wirksames politisches Instrument. Heute unterschreiben Schriftsteller Petitionen, um eine moralische Position zu bekunden. Das muss jeder so halten, wie er es für richtig hält.
Das Zitat geht weiter: „Wo immer die Wahrheit liegen mag, es ist doch weder schön noch anständig, wegen etwas Aufruhr in mehreren
Tausend Meilen Entfernung die Londoner Gesellschaft derart zu entzweien.“
Die meisten Schriftsteller sind keine besonderen politischen Denker. Man sollte ihnen nicht allzu sehr vertrauen. Was mich interessiert, sind die Stimmen der Menschen vor Ort. Ich möchte hören, was ein Etgar Keret, ein David Grossman oder die Palästinenser in Gaza zu sagen haben. Die Kommentatoren von außen interessieren mich nicht. Da zähle ich mich selbst dazu.
Die Kluft in der Gesellschaft, die Sie im 19. Jahrhundert beschreiben, war auch eine der Ursachen des Brexit. In Ihrem Buch machen Sie viele scharfzüngige Bemerkungen über ihr Heimatland.
George Orwell hat etwas über die Engländer gesagt, dem ich zustimme: Ich liebe England, aber es ist das Land der Heuchler. Das ist keine gute Eigenschaft. Aber es ist besser, als ein Land von Faschisten zu sein.
Orwell argumentiert, dass dieses Heuchlertum die Engländer vor Fanatismus schützt.
Richtig, aber das muss nicht immer so bleiben. England kann sehr wohl auch faschistisch werden. Früher waren die Konservativen vor allem an Macht und Geld interessiert, haben aber an nichts wirklich geglaubt. Heute gibt es welche, die sind von einem flammenden Glauben erfasst. Nicht Johnson (ExPremier Boris, Anm.), der war nur ein Narr. Auch bei uns ist es möglich, dass die Emotionen die Vernunft übertrumpfen. Natürlich hoffe ich, dass es dazu nicht kommen wird.
Man könnte aber entgegnen, das ist schon geschehen, immerhin hat das Land 2016 wider alle Vernunft für den Brexit gestimmt.
Ich würde sagen, dass es heute sehr wenige Menschen gibt, die meinen, der Brexit war eine gute Idee. Es gibt eine Menge Schmerz und Bedauern.
Fast jedes Ihrer Bücher ist auch eine Hommage an eine Größe der britischen Literaturgeschichte, im jüngsten Werk offensichtlich George Eliot. Gibt es irgendetwas, das Sie sich nicht zutrauen?
Ich bin Schriftstellerin. Also liegt alles, was man schreiben kann, im Bereich meiner Möglichkeiten. Ausgenommen Gedichte, die werden Sie von mir nicht bekommen.
Obwohl Ihre Bücher sehr unterschiedlich sind, gibt es auch wiederkehrende Themen wie Einwanderung oder Minderheiten. Folgen Sie da einem roten Faden?
Ich bin quasi in meinen Büchern aufgewachsen. In seltsamer Weise gehören sie alle zusammen, aber man muss sie mehrmals lesen, um das zu erkennen.
Lesen Sie Ihre Bücher nochmals?
Niemals. Das muss sich jemand anderer antun. Ich möchte mich vor allem dem Schreiben widmen. Für ein Buch brauche ich etwa zwei Jahre allein mit der Niederschrift. Davor verbringe ich sehr viel Zeit mit Vorbereitung. Jetzt bin ich gerade in der Phase, in der ich mir Neues überlege.
Unser Gespräch erscheint am Guy Fawkes Day, an dem Ihr Land des gescheiterten Anschlagsversuchs von 1605 gedenkt. Wie kann Großbritannien heute eine politische Erneuerung schaffen?
Ich weiß nicht, wie oft wir noch durch diese Zuspitzung von riesigem Reichtum und Massenarmut gehen müssen. Wir könnten eigentlich schon wissen, dass das nicht funktioniert. Die Dinge, die einem als junger linker Mensch, der ohne Geld aufgewachsen ist, nicht radikal genug erschienen, bewertet man später doch anders: Freie Schulen und Krankenhäuser und anständiges Wohnen – besser werden wir es auf Erden wohl kaum hinkriegen.