Glaubensfrage
Gott und das Morden. Religion hat das Zeug zum Krieg wie zum Friedenstiften. Das stimmt auch für unsere säkulare Zivilreligion: Ihr heutiger Vorrang für den Frieden kann aus der Mode kommen.
Im Internet kursiert derzeit ein Meme, das – in Variationen – proklamiert: „Wenn dein Gott dir befiehlt zu töten, dann ist es höchste Zeit, dir einen anderen Gott zu suchen.“Als Ausdruck des Missfallens über religiös konnotierte Zustimmung zum Mord an israelischen Familien mag das angehen. Als ernst gemeinter Rat ist es aber zu schlicht. Menschen, die sich ihre Religion aussuchen wie ihr Lieblingslokal – weil es dort schmeckt und bekömmlich ist –, suchen sich sowieso nur Nettes aus. Und die, die von ihrer Religion (oder ihrem Gott) ergriffen sind, würden – wie Abraham mit seinem Sohn Isaak – selbst angesichts eines erschreckenden göttlichen Tötungsauftrags die Frage der Treue sehr ernst nehmen. Und an jenen, die Gott nur als Ausrede brauchen für Hass und Mordlust, geht die oben genannte Aufforderung ohnehin vorbei.
Insgesamt gibt der Satz ziemlich gut die Einstellung des heutigen Europäers zum Phänomen „Religion“wieder: Glaube ist etwas, das bürgerlichen Standards folgen soll. Er soll nicht die Basis sein, lieber nur Accessoire. Die Frage ist nur: Was ist die Basis bürgerlicher Standards – und mit welchen Argumenten können wir andere dazu verpflichten? Warum soll der Bürger der Zukunft nicht zur Waffe greifen, wenn es wichtig ist? Und wer sagt uns, dass das 5. Gebot (Du sollst nicht töten) im Auge des Bürgers nicht bald genauso der Beliebigkeit anheimgestellt sein wird wie heute schon das 6. (Du sollst nicht ehebrechen)?
Es ist wichtig, dass der heutige Europäer das 5. Gebot hochhält, allein schon zum Selbstschutz. Er sollte sich nur nicht allzu sicher sein, dass das Ächten des Mordens eine universale Selbstverständlichkeit ist, sozusagen überall auffindbare Basismoral des Menschen an sich. Es täte gut, darüber nachzudenken, warum diese Blume heute ausgerechnet auf dem Grabhügel des christlichen Europas so schön blüht. Und wie diese Saat weiter gehegt werden kann, wo der Humus immer weniger wird.
Der eingangs zitierte Satz ist wenigstens eine tapsige Formulierung der Erkenntnis, dass Religion zu mehr Gewalt wie auch zu ihrer Ächtung führen kann. Die zwei großen Fragen, die sich zur friedlichen Zukunft unserer Zivilisation daher stellen, scheinen mir zu sein: Wie kann es gelingen, die wachsende Zahl nichtreligiöser Europäer in einer Kultur des Gewaltverzichts zu halten? Und wird man die Entwicklung eines friedlichen EuroIslams fördern können – oder wird die wachsende Schar muslimischer Europäer mehrheitlich in gewaltbejahende Strömungen mitgerissen? Die beiden Fragen sind ineinander verwoben.