»Die Hamas muss verschwinden«
Außenminister Schallenberg rät von kompletter Waffenruhe im Gaza-Krieg derzeit ab, kritisiert UN-Chef Guterres und plädiert für graduelle EU-Integration der Ukraine.
Der internationale Ruf nach einer Waffenruhe im Gazastreifen wird immer lauter. Haben Sie nach wie vor volles Verständnis für das Vorgehen der israelischen Armee?
Alexander Schallenberg: Die EU ruft sehr bewusst zu humanitären Korridoren und Feuerpausen zu humanitären Zwecken auf. Denn die Hamas feuert immer noch jeden Tag Raketen auf Israel ab. Natürlich ist es Ziel, irgendwann zu einer Waffenruhe zu kommen. Aber das ist eine Frage des Zeitpunkts.
Wann soll es eine Waffenruhe geben? Sobald Israel seine militärischen Ziele erreicht hat?
Manchmal habe ich den Eindruck, die mehr als 200 Geiseln sind schon in Vergessenheit geraten. Das erste Ziel ist ihre bedingungslose Freilassung. Zweites Ziel ist es zu vermeiden, dass ein Flächenbrand entsteht und der Krieg auf das Westjordanland übergreift. Und da sage ich klar: Die Gewaltakte von radikalen Siedlern sind absolut inakzeptabel. Drittes Ziel ist die Linderung der Not der Menschen im Gazastreifen. Dafür muss es auch Feuerpausen geben. Aber eine komplette Waffenruhe gäbe der Hamas momentan nur die Möglichkeit, sich neu zu formieren und danach erstarkt zuzuschlagen.
Die Gefahr eines regionalen Flächenbrands scheint vorerst eingedämmt.
Das haben die USA mit ihrer militärischen Präsenz sehr gut hinbekommen. Die Iraner wollen offenbar nicht voll in den Krieg einsteigen, weil sie Angst vor der Reaktion haben. Die Hamas wird allein übrig bleiben. Ich habe kein Mitleid mit ihnen. Ihr Terrorüberfall auf Israel am 7. Oktober war ein grausamer Blutrausch, der an mittelalterliche Pogrome oder Massaker des IS erinnert. Ich habe Bilder gesehen, die mich nie wieder verlassen werden.
Die Opferzahlen unter Zivilisten in Gaza sind offenbar sehr hoch. Agiert Israels Armee gemäß humanitärem Völkerrecht?
Jeder Staat ist ans humanitäre Völkerrecht gebunden. Israel genauso. Und Israel versucht das mit aller Macht umzusetzen. Sie werfen vor Luftangriffen Flugblätter ab, rufen an, verschicken SMS. Das ist kein Staat, der blindwütig um sich schlägt und Rache übt, sondern einer, der sehr gezielt und strategisch versucht, eine Terrororganisation zu vernichten, die bewusst Spitäler und Schulen für ihre Zwecke missbraucht.
Der palästinensische Botschafter in Wien wirft der Bundesregierung vor, keine Empathie mit Zivilisten zu zeigen.
Das stimmt überhaupt nicht. Die EU hat ihre humanitäre Hilfe von 25 auf 100 Mio. Euro vervierfacht. Österreich hat bilateral zusätzlich zwei Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Wir wollen den Menschen in Gaza helfen, aber nicht die Hamas stärken. Die Hamas sitzt auf einer Million Liter Diesel, die aber leider nie bei Generatoren für Spitäler und die Wasserversorgung landen. Die Hamas will eine humanitäre Krise hervorrufen. Ihr menschenverachtender Zynismus ist nicht zu überbieten.
UN-Generalsekretär Guterres sagte vor einigen Wochen, der Terrorangriff der Hamas habe nicht in einem Vakuum stattgefunden. Konnten Sie Israels Entrüstung darüber nachvollziehen?
Ich fand diese Stellungnahme schon verwunderlich, um es diplomatisch auszudrücken. Sie hat etwas Kontextualisierendes und damit auch Relativierendes. Wenn jemand eine Person umbringt, dann ist es Mord. Man kann natürlich auf die schwierige Jugend eines Mörders hinweisen. Das ist aber keine Rechtfertigung für Mord. Weder im österreichischen Strafrecht noch im Völkerrecht.
Hat die UNO Ihrer Ansicht nach eine antiisraelische Schlagseite?
Es gibt im Nahost-Konflikt alte intellektuelle Trampelpfade. Die Anzahl der Resolutionen, die in der UNO gegen Israel eingebracht werden, stehen in keiner Relation zu anderen Weltgegenden. Im Menschenrechtsrat sind es 99 Resolutionen gegen Israel – 41 gegen Syrien, 13 gegen den Iran, vier gegen Russland. Es gibt eine eigene Abteilung im UN-Sekretariat, die sich nur um die Rechte der Palästinenser kümmert. Das gibt es zu keiner anderen Konfliktsituation auf dieser Erde – weder zur Ukraine noch zu Burma (Myanmar) oder zur Sahelzone. Das ist nicht ausgeglichen.
Was sagen Sie dazu, dass der türkische Präsident Erdoğan die Hamas als Freiheitskämpfer und Israel als Terrorstaat bezeichnet?
Ich finde es sehr bedauerlich, dass sich Türkei, die eine Vermittlerrolle in diesem Konflikt einnehmen könnte, zum Wortführer der islamischen Welt aufschwingt und Öl ins Feuer gießt.
Können Sie sich erklären, warum es nach dem 7. Oktober keine einhellige Verurteilung der Hamas-Massaker in der arabisch-islamischen Welt gab?
Mehr stört mich, dass die Palästinensische Autonomiebehörde, obwohl die Fatah von PLO-Chef Abbas 2007 von der Hamas vertrieben worden war, den Terror nicht klar verurteilt hat.
Warum ist das so?
Aus Angst vor der Straße und aus Unsicherheit über die Stellung in der palästinensischen Bevölkerung.
Wie soll es nach dem Krieg im Gazastreifen weitergehen?
In einem idealen Szenario spielen die UNO und die arabischen Staaten eine starke Rolle. Und: Wir müssen eine modernisierte und legitimierte Palästinensische Autonomiebehörde wieder nach Gaza zurückbringen.
Regime Change in Gaza? Kann das funktionieren?
Es gibt keine Alternative. Es kann nicht sein, dass die Hamas dort jemals wieder das Sagen hat. Die Hamas muss in die Geschichtsbücher verschwinden. Das ist eine Terrororganisation, die Israel und jüdisches Leben vernichten will.
Halten Sie nach dem 7. Oktober eine Zweistaatenlösung für realistisch?
Ich sehe keinen anderen akzeptablen Weg. Frieden in der Region aber, und da zitiere ich einen befreundeten Außenminister am Golf, wird langfristig nur über eine Normalisierung zwischen Israel und den arabischen Staaten erfolgen.
Verliert Österreich durch seine klar proisraelische Linie an Boden in der arabischen Welt?
Das höre ich aus meinen Gesprächen mit Partnern in der Region überhaupt nicht heraus.
Vor 15 Jahren hätte Österreich diese Position nicht eingenommen. Österreich ist proisraelischer geworden.
Absolut. Österreich hat eine Politikwende vollzogen. Das betrifft nicht nur Israel. Diese Regierung ist die transatlantischste seit vielen Jahrzehnten. Dazu stehe ich ohne Wenn und Aber. Man sollte sich vor dem Denken hüten, dass man entweder mit dem einen oder dem anderen sein muss. Wir haben nach wie vor ausnehmend gute Beziehungen mit der arabischen Welt.
Der Krieg in der Ukraine ist in den Schatten gerückt. Was hat es für Folgen, dass sich der Aufmerksamkeitsfokus des Westens verschiebt?
Ich sehe diese Gefahr eher bei anderen Krisenherden: in der Sahelzone, Subsahara und im Südkaukasus. Der eine oder andere Potentat könnte sich nun ermutigt fühlen, im Schatten der Krisen Fakten zu schaffen.
Steigt angesichts der militärischen Pattstellung der externe Druck auf die Ukraine, den Verhandlungsweg zu suchen?
Die EU wird trotz des emotionalen Gaza-Kriegs die Ukraine auf ihrer Prioritätenliste nicht zurückreihen. Meine Linie ist klar: Keine Verhandlungen über die Ukraine ohne die Ukraine. Das Verhalten der EU in der Ukraine wird das Standing des Westens in der Welt über Jahrzehnte prägen. Wir werden daran gemessen, wie wir einem Land beistehen, das nach einer krassen Verletzung der UN-Charta sein Recht auf Selbstverteidigung ausübt.
Ist es für Sie akzeptabel, dass der ukrainische Präsident keine Wahl im Krieg abhalten will?
Ich halte das für problematisch. Ich habe Verständnis für eine Verschiebung, allerdings nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Die EU hat grünes Licht für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine gegeben …
Ich bin etwas unglücklich über die Art, wie jetzt vorgegangen wird.
Warum?
Ich habe das Gefühl, auf den Balkan wird mit der Lupe geschaut und auf die Ukraine mit der rosaroten Brille. Da wird es sicher noch intensive Diskussionen auf europäischer Ebene geben.
Welches Land nimmt die EU denn besonders unter die Lupe im Vergleich zur Ukraine?
Ich hätte mir erwartet, dass bei Bosnien und Herzegowina dieselben Standards angelegt werden wie bei der Ukraine.
Wie muss sich die EU reformieren, damit sie ein großes Land wie die Ukraine aufnehmen kann?
Ich habe einen anderen Zugang und befürworte eine graduelle Integration mit dem Fernziel einer Vollmitgliedschaft. Wir müssen von dem binären Denken wegkommen, wonach es nur Vollmitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft gibt und dazwischen nichts. Es gibt Staaten, die wir aus geostrategischen Gründen an uns binden wollen. Aber müssen sie deshalb bei jedem einzelnen Abschnitt des gemeinsamen Rechtsbestandes und in allen Bereichen des Binnenmarktes mitmachen? Ich sage: nein. Wir müssen nicht warten, bis der letzte Beistrich fertig verhandelt ist, bevor etwas passieren kann. Ich will die Ukraine in der EU an Bord haben, aber es muss nicht sofort eine klassische Vollmitgliedschaft sein. So viel Zeit bei Verhandlungen zu verlieren geht sich geostrategisch nicht aus.
»Auf den Balkan wird mit der Lupe geschaut, auf die Ukraine mit der rosaroten Brille.«
Ende des Jahres läuft der Vorsitz Nordmazedoniens in der OSZE aus. Nachfolgekandidat Estland wird von Russland blockiert. Wie soll es weitergehen?
Nordmazedonien macht einen unglaublichen Job. Ich halte eine Verlängerung des Mandats um ein Jahr für sinnvoll.
Sollte Estland die Kandidatur zurückziehen, damit ein Konsens unter den 57 Mitgliedstaaten gefunden werden kann? Das werden sie nicht tun.
»Diese Regierung ist die transatlantischste seit vielen Jahrzehnten.«
Es ist also zu erwarten, dass Nordmazedonien weitermacht.
Diese Entscheidung muss Ende des Monats beim OSZE-Gipfel in Skopje fallen. Ich halte es für richtig, den russischen Außenminister einzuladen. Diese Organisation ist essenziell für die Zukunft.
Werden Sie in Skopje mit Lawrow sprechen?
Wenn sich die Gelegenheit ergibt, ja. Die OSZE ist ein anderer Rahmen. Ich kann keine Außenpolitik machen, indem ich nur mit der Schweiz und Liechtenstein rede. Eines sollte Europa gelernt haben: Wir müssen einen pragmatischen und nüchternen Blick auf die Welt haben, wenn wir Probleme lösen wollen.