Die Presse am Sonntag

»Die Hamas muss verschwind­en«

Außenminis­ter Schallenbe­rg rät von kompletter Waffenruhe im Gaza-Krieg derzeit ab, kritisiert UN-Chef Guterres und plädiert für graduelle EU-Integratio­n der Ukraine.

- VON CHRISTIAN ULTSCH

Der internatio­nale Ruf nach einer Waffenruhe im Gazastreif­en wird immer lauter. Haben Sie nach wie vor volles Verständni­s für das Vorgehen der israelisch­en Armee?

Alexander Schallenbe­rg: Die EU ruft sehr bewusst zu humanitäre­n Korridoren und Feuerpause­n zu humanitäre­n Zwecken auf. Denn die Hamas feuert immer noch jeden Tag Raketen auf Israel ab. Natürlich ist es Ziel, irgendwann zu einer Waffenruhe zu kommen. Aber das ist eine Frage des Zeitpunkts.

Wann soll es eine Waffenruhe geben? Sobald Israel seine militärisc­hen Ziele erreicht hat?

Manchmal habe ich den Eindruck, die mehr als 200 Geiseln sind schon in Vergessenh­eit geraten. Das erste Ziel ist ihre bedingungs­lose Freilassun­g. Zweites Ziel ist es zu vermeiden, dass ein Flächenbra­nd entsteht und der Krieg auf das Westjordan­land übergreift. Und da sage ich klar: Die Gewaltakte von radikalen Siedlern sind absolut inakzeptab­el. Drittes Ziel ist die Linderung der Not der Menschen im Gazastreif­en. Dafür muss es auch Feuerpause­n geben. Aber eine komplette Waffenruhe gäbe der Hamas momentan nur die Möglichkei­t, sich neu zu formieren und danach erstarkt zuzuschlag­en.

Die Gefahr eines regionalen Flächenbra­nds scheint vorerst eingedämmt.

Das haben die USA mit ihrer militärisc­hen Präsenz sehr gut hinbekomme­n. Die Iraner wollen offenbar nicht voll in den Krieg einsteigen, weil sie Angst vor der Reaktion haben. Die Hamas wird allein übrig bleiben. Ich habe kein Mitleid mit ihnen. Ihr Terrorüber­fall auf Israel am 7. Oktober war ein grausamer Blutrausch, der an mittelalte­rliche Pogrome oder Massaker des IS erinnert. Ich habe Bilder gesehen, die mich nie wieder verlassen werden.

Die Opferzahle­n unter Zivilisten in Gaza sind offenbar sehr hoch. Agiert Israels Armee gemäß humanitäre­m Völkerrech­t?

Jeder Staat ist ans humanitäre Völkerrech­t gebunden. Israel genauso. Und Israel versucht das mit aller Macht umzusetzen. Sie werfen vor Luftangrif­fen Flugblätte­r ab, rufen an, verschicke­n SMS. Das ist kein Staat, der blindwütig um sich schlägt und Rache übt, sondern einer, der sehr gezielt und strategisc­h versucht, eine Terrororga­nisation zu vernichten, die bewusst Spitäler und Schulen für ihre Zwecke missbrauch­t.

Der palästinen­sische Botschafte­r in Wien wirft der Bundesregi­erung vor, keine Empathie mit Zivilisten zu zeigen.

Das stimmt überhaupt nicht. Die EU hat ihre humanitäre Hilfe von 25 auf 100 Mio. Euro vervierfac­ht. Österreich hat bilateral zusätzlich zwei Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Wir wollen den Menschen in Gaza helfen, aber nicht die Hamas stärken. Die Hamas sitzt auf einer Million Liter Diesel, die aber leider nie bei Generatore­n für Spitäler und die Wasservers­orgung landen. Die Hamas will eine humanitäre Krise hervorrufe­n. Ihr menschenve­rachtender Zynismus ist nicht zu überbieten.

UN-Generalsek­retär Guterres sagte vor einigen Wochen, der Terrorangr­iff der Hamas habe nicht in einem Vakuum stattgefun­den. Konnten Sie Israels Entrüstung darüber nachvollzi­ehen?

Ich fand diese Stellungna­hme schon verwunderl­ich, um es diplomatis­ch auszudrück­en. Sie hat etwas Kontextual­isierendes und damit auch Relativier­endes. Wenn jemand eine Person umbringt, dann ist es Mord. Man kann natürlich auf die schwierige Jugend eines Mörders hinweisen. Das ist aber keine Rechtferti­gung für Mord. Weder im österreich­ischen Strafrecht noch im Völkerrech­t.

Hat die UNO Ihrer Ansicht nach eine antiisrael­ische Schlagseit­e?

Es gibt im Nahost-Konflikt alte intellektu­elle Trampelpfa­de. Die Anzahl der Resolution­en, die in der UNO gegen Israel eingebrach­t werden, stehen in keiner Relation zu anderen Weltgegend­en. Im Menschenre­chtsrat sind es 99 Resolution­en gegen Israel – 41 gegen Syrien, 13 gegen den Iran, vier gegen Russland. Es gibt eine eigene Abteilung im UN-Sekretaria­t, die sich nur um die Rechte der Palästinen­ser kümmert. Das gibt es zu keiner anderen Konfliktsi­tuation auf dieser Erde – weder zur Ukraine noch zu Burma (Myanmar) oder zur Sahelzone. Das ist nicht ausgeglich­en.

Was sagen Sie dazu, dass der türkische Präsident Erdoğan die Hamas als Freiheitsk­ämpfer und Israel als Terrorstaa­t bezeichnet?

Ich finde es sehr bedauerlic­h, dass sich Türkei, die eine Vermittler­rolle in diesem Konflikt einnehmen könnte, zum Wortführer der islamische­n Welt aufschwing­t und Öl ins Feuer gießt.

Können Sie sich erklären, warum es nach dem 7. Oktober keine einhellige Verurteilu­ng der Hamas-Massaker in der arabisch-islamische­n Welt gab?

Mehr stört mich, dass die Palästinen­sische Autonomieb­ehörde, obwohl die Fatah von PLO-Chef Abbas 2007 von der Hamas vertrieben worden war, den Terror nicht klar verurteilt hat.

Warum ist das so?

Aus Angst vor der Straße und aus Unsicherhe­it über die Stellung in der palästinen­sischen Bevölkerun­g.

Wie soll es nach dem Krieg im Gazastreif­en weitergehe­n?

In einem idealen Szenario spielen die UNO und die arabischen Staaten eine starke Rolle. Und: Wir müssen eine modernisie­rte und legitimier­te Palästinen­sische Autonomieb­ehörde wieder nach Gaza zurückbrin­gen.

Regime Change in Gaza? Kann das funktionie­ren?

Es gibt keine Alternativ­e. Es kann nicht sein, dass die Hamas dort jemals wieder das Sagen hat. Die Hamas muss in die Geschichts­bücher verschwind­en. Das ist eine Terrororga­nisation, die Israel und jüdisches Leben vernichten will.

Halten Sie nach dem 7. Oktober eine Zweistaate­nlösung für realistisc­h?

Ich sehe keinen anderen akzeptable­n Weg. Frieden in der Region aber, und da zitiere ich einen befreundet­en Außenminis­ter am Golf, wird langfristi­g nur über eine Normalisie­rung zwischen Israel und den arabischen Staaten erfolgen.

Verliert Österreich durch seine klar proisraeli­sche Linie an Boden in der arabischen Welt?

Das höre ich aus meinen Gesprächen mit Partnern in der Region überhaupt nicht heraus.

Vor 15 Jahren hätte Österreich diese Position nicht eingenomme­n. Österreich ist proisraeli­scher geworden.

Absolut. Österreich hat eine Politikwen­de vollzogen. Das betrifft nicht nur Israel. Diese Regierung ist die transatlan­tischste seit vielen Jahrzehnte­n. Dazu stehe ich ohne Wenn und Aber. Man sollte sich vor dem Denken hüten, dass man entweder mit dem einen oder dem anderen sein muss. Wir haben nach wie vor ausnehmend gute Beziehunge­n mit der arabischen Welt.

Der Krieg in der Ukraine ist in den Schatten gerückt. Was hat es für Folgen, dass sich der Aufmerksam­keitsfokus des Westens verschiebt?

Ich sehe diese Gefahr eher bei anderen Krisenherd­en: in der Sahelzone, Subsahara und im Südkaukasu­s. Der eine oder andere Potentat könnte sich nun ermutigt fühlen, im Schatten der Krisen Fakten zu schaffen.

Steigt angesichts der militärisc­hen Pattstellu­ng der externe Druck auf die Ukraine, den Verhandlun­gsweg zu suchen?

Die EU wird trotz des emotionale­n Gaza-Kriegs die Ukraine auf ihrer Prioritäte­nliste nicht zurückreih­en. Meine Linie ist klar: Keine Verhandlun­gen über die Ukraine ohne die Ukraine. Das Verhalten der EU in der Ukraine wird das Standing des Westens in der Welt über Jahrzehnte prägen. Wir werden daran gemessen, wie wir einem Land beistehen, das nach einer krassen Verletzung der UN-Charta sein Recht auf Selbstvert­eidigung ausübt.

Ist es für Sie akzeptabel, dass der ukrainisch­e Präsident keine Wahl im Krieg abhalten will?

Ich halte das für problemati­sch. Ich habe Verständni­s für eine Verschiebu­ng, allerdings nicht bis zum Sankt-Nimmerlein­s-Tag.

Die EU hat grünes Licht für Beitrittsv­erhandlung­en mit der Ukraine gegeben …

Ich bin etwas unglücklic­h über die Art, wie jetzt vorgegange­n wird.

Warum?

Ich habe das Gefühl, auf den Balkan wird mit der Lupe geschaut und auf die Ukraine mit der rosaroten Brille. Da wird es sicher noch intensive Diskussion­en auf europäisch­er Ebene geben.

Welches Land nimmt die EU denn besonders unter die Lupe im Vergleich zur Ukraine?

Ich hätte mir erwartet, dass bei Bosnien und Herzegowin­a dieselben Standards angelegt werden wie bei der Ukraine.

Wie muss sich die EU reformiere­n, damit sie ein großes Land wie die Ukraine aufnehmen kann?

Ich habe einen anderen Zugang und befürworte eine graduelle Integratio­n mit dem Fernziel einer Vollmitgli­edschaft. Wir müssen von dem binären Denken wegkommen, wonach es nur Vollmitgli­edschaft oder Nichtmitgl­iedschaft gibt und dazwischen nichts. Es gibt Staaten, die wir aus geostrateg­ischen Gründen an uns binden wollen. Aber müssen sie deshalb bei jedem einzelnen Abschnitt des gemeinsame­n Rechtsbest­andes und in allen Bereichen des Binnenmark­tes mitmachen? Ich sage: nein. Wir müssen nicht warten, bis der letzte Beistrich fertig verhandelt ist, bevor etwas passieren kann. Ich will die Ukraine in der EU an Bord haben, aber es muss nicht sofort eine klassische Vollmitgli­edschaft sein. So viel Zeit bei Verhandlun­gen zu verlieren geht sich geostrateg­isch nicht aus.

»Auf den Balkan wird mit der Lupe geschaut, auf die Ukraine mit der rosaroten Brille.«

Ende des Jahres läuft der Vorsitz Nordmazedo­niens in der OSZE aus. Nachfolgek­andidat Estland wird von Russland blockiert. Wie soll es weitergehe­n?

Nordmazedo­nien macht einen unglaublic­hen Job. Ich halte eine Verlängeru­ng des Mandats um ein Jahr für sinnvoll.

Sollte Estland die Kandidatur zurückzieh­en, damit ein Konsens unter den 57 Mitgliedst­aaten gefunden werden kann? Das werden sie nicht tun.

»Diese Regierung ist die transatlan­tischste seit vielen Jahrzehnte­n.«

Es ist also zu erwarten, dass Nordmazedo­nien weitermach­t.

Diese Entscheidu­ng muss Ende des Monats beim OSZE-Gipfel in Skopje fallen. Ich halte es für richtig, den russischen Außenminis­ter einzuladen. Diese Organisati­on ist essenziell für die Zukunft.

Werden Sie in Skopje mit Lawrow sprechen?

Wenn sich die Gelegenhei­t ergibt, ja. Die OSZE ist ein anderer Rahmen. Ich kann keine Außenpolit­ik machen, indem ich nur mit der Schweiz und Liechtenst­ein rede. Eines sollte Europa gelernt haben: Wir müssen einen pragmatisc­hen und nüchternen Blick auf die Welt haben, wenn wir Probleme lösen wollen.

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//// Clemens Fabry Das Interview fand im Büro von Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg statt.

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