Die Mutter aller Wirtshausküchen
In den 1980er-Jahren machte Gerti Sodoma Tulln zum Kompetenzzentrum einer längst vergessen geglaubten Küche. Gutbürgerlich im besten Sinn, mit Ausflügen ins Fach der Exzellenz.
Du wirst sagen, da fehlt Salz“, sagt Gerti Sodoma: „Das sagt Markus gern, wenn er mich bittet, etwas zu kosten. Und die richtige Dosierung Salz ist das Wichtigste, da brauche ich sonst nicht mehr viel. Und lieber einmal öfter abschmecken.“Als Kind musste Gerti Sodoma lang auf Salz verzichten, denn der Vater durfte wegen einer Nierengeschichte keines essen. Später und auch heute noch behandelt sie Salz, als handle es sich um grammweise Gold. Vielleicht kann sie deshalb den Geschmack eines Gerichts bis auf das Korn kalibrieren.
Wer die Schönheiten der niederösterreichischen Kleinstadt Tulln kennenlernen will, der verharrt am besten nicht lang in einem der vielen Kreisverkehre, er begibt sich schnurstracks in das Innere des Gasthofs zur Sonne, gelegen in einer ästhetisch fordernden Umgebung, wie man sie nicht nur in Niederösterreich des Öfteren antrifft. In dem Gasthof dann ein wunderschöner steinerner Fußboden, der schon Milliarden an Schuhen überlebt hat, eine Schank mit dem dazugehörigen Speiseraum, optisch und von den Proportionen so großzügig wie heimelig konfiguriert. Doch nur wegen dieser Schank, die neben dem neu gestalteten Restaurant
immer als Erste ausgebucht ist, kommen die Gäste nicht zur Familie Sodoma, zu Josef und Gerti, die vor Kurzem in Ruhestand getreten sind, zu Markus und Susanne, die die Fußstapfen der Eltern bis auf den Millimeter ausfüllen.
Großmütterliches Repertoire. Es gab anfänglich eine kurze Zeit, da wurde auch im Wirtshaus der Sodomas mit dem Suppenwürfel gearbeitet. Damals, als die ungelernte Köchin Gerti Sodoma noch nicht das Kommando in der Küche über hatte. Sie war mit ihrem Mann, Josef, aus dem Burgenland in die niederösterreichische Provinz gekommen, um zuerst auf dem Bahnhof zu kochen, später dann im eigenen Gasthaus. Richtig kochen gelernt hatte sie nie. „Meine Mutter war eine sehr gute Köchin“, fasst sie ihre Grundausbildung zusammen. Diese kochte jeden Tag frisch, wie es früher üblich war, nebenbei arbeitete sie als Schneiderin. „Die Rahmsuppe und die Schnitzel, dafür war die Schwiegermutter zuständig. Auch meine Oma hat gut gekocht.“Gerti Sodoma erzählt vom Lungenbraten in Wurzelrahmsauce aus dem großmütterlichen Repertoire. Und sagt: „Man bemüht sich dann, ein Essen so zu kochen, damit es schmeckt wie zu Hause.“
Über die erste Zeit: „Anfangs habe ich nur die kleinen Arbeiten gemacht, Beilagen und Anrichten, ich konnte nicht mitreden, weil ich es ja nicht gelernt hatte.“Irgendwann hatte sie sich dann vom Talent zur fertigen Köchin entwickelt und damit auch zur Küchenchefin. „Ich habe in den 1980er-Jahren ein paar Kochkurse bei Sissy Sonnleitner besucht (Restaurant Kellerwand in Kötschach-Mauthen, Anm.), wenn wir am Nassfeld Ski fahren waren. Dort lernte ich, wie man einen Kalbsfond zubereitet, und anderes. Ab dem Zeitpunkt konnten mir unsere Köche nicht mehr auf der Nase herumtanzen.“
Das Kosten, das mit dem Kochen verbunden ist, hemmt dann leider auch den Appetit aufs Essen: „Durch das oftmalige Abschmecken habe ich nie ein Mittagessen gebraucht“, sagt Gerti Sodoma. „Und um sechs Uhr vor dem Service zu essen, das ist auch nichts für mich.“Mittlerweile nimmt sie am liebsten das Mittagessen, wenn sie mit ihrem Mann die besten Lokale Österreichs und anderer Länder besucht. „Da kann man danach noch einen Spaziergang machen.“Sie erinnert sich aber an die früheren Italien-Reisen, bei denen es vom Mittagessen oft schnurstracks zum Abendessen ging: „Was wir da gegessen haben!“
Das Grammelknödelgeheimnis. Ein Bröselknödel schwebt in der Gänseeinmachsuppe, ein Planet, in dem alles wohnt, was die zentraleuropäische Küche ausmacht, ohne die es die Wiener Küche nicht gäbe. Ei, Butter, Semmelbrösel (im Rezept von Gerti Sodoma ist es zwei Tage altes Toastbrot). Knödel sind eine der großen Stärken der Köchin. Manchmal sind es Bröselknödel,
Die Topfenknödel hat Gerti Sodoma
oft die kleinen, mit hauchdünnem Brandteig eingehüllten Grammelknödel (Geheimnis: Die Grammeln und das Schmalz zu einer Kugel formen und im Kühlschrank kühlen, bevor es in den Teig gewickelt wird), die mit Krautsalat serviert werden und seit Jahrzehnten auf der Speisekarte stehen. Schließlich die Waldviertler Erdäpfelknödel, gerade richtig zwischen Gummi und zartem Biss. Die kleinen Topfenknödel, die von Marillenröster begleitet werden, habe sie von dem deutschen Dreisternekoch Dieter Müller gelernt, so Gerti Sodoma.
Die Familie pflegte von Anfang an ausgiebig zu reisen. Italien stand auf dem Plan, später auch Spanien, man nutzte dazu jedes Wochenende. Eine zehnstündige Anreise für ein Essen im Piemont, am nächsten Tag eventuell übers Friaul – Essen in Cormons inklusive – zurück nach Tulln, das war Alltag, worüber man nicht gesondert reden musste. Josef Sodoma, der Vorstand des Gasthauses, das eigentlich ein Wirtshaus war und ist, hatte eine Schwäche für Rotweine aus dem Piemont. Sie machten sich immer gut zur Küche seiner Frau, zu den geschmorten Kalbsbackerln mit Gemüse und Erdäpfelpüree. Als Gerti Sodoma längst Küchenchefin war, schob sie ab und zu ein kleines Praktikum im Ausland ein, zum Beispiel bei der berühmten Elena Arzak in San Sebastián. Das Baskenland war eine Zeit lang neben dem Piemont eine Lieblingsgegend, die die Sodomas Bissen für Bissen durchmaßen.
Sodoma war freilich nie so einfältig, Verfahren oder Ideen aus den besten Adressen in Tulln zu adaptieren oder auch nur abzuwandeln. Nur hie und da flocht sie Erfahrungen in ihre Küche ein, wenn sie dazu dienten, bereits gepflogene Methoden zu verbessern. „Bei einem berühmten Koch in Italien lernte ich allerdings, wie man größere Mengen an Risotto zubereitet“, erzählt sie. „Das wusste ich vorher nicht. Man gart das Risotto zur Hälfte der Garzeit und streicht die Masse auf ein Backblech. Dann bereitet man die zweite Hälfte der Garzeit mit ordentlich Butter, sobald der Gast bestellt hat.“
IKONEN DER ÖSTERREICHISCHEN KÜCHE:
GERTI SODOMA
vom deutschen Dreisternekoch Dieter Müller.
Renaissance des Wirtshauses. Nachdem in den 1980er-Jahren alle Esser neugierig und mit gefüllten Brieftaschen der Nouvelle Cuisine, ihrer österreichischen Ausformung und ihren Protagonisten und Epigonen, gefolgt waren, gab es im Jahrzehnt darauf so etwas wie eine Wiederbelebung des Gedankens an ein gutes, gut geführtes Wirtshaus, ohne Dosengemüse, Grillspieß oder Mehlsaucen. Man sagt,
und sie würden dem nicht widersprechen, dass die Sodomas an dieser Renaissance nicht unbeteiligt waren.
Die Strahlkraft des Hauses reichte sehr schnell bis nach Wien und nach Hamburg, wo Wolfram Siebeck im „Zeit-Magazin“ergriffene Lobeshymnen schrieb. Die schöne, stets in ihrer Urform bewahrte und gepflegte Schank aus den 1920er-Jahren mag dabei eine Rolle gespielt haben, der Raum, in dem diese sich befindet, ebenfalls. Ebenso wie Josef „Pepi“Sodomas unvergleichliche Art, Gäste gleichzeitig mit kleinem Grant und großem Herzen zu begrüßen und zu bedienen. Sein Weinkeller war zum richtigen Zeitpunkt stets gefüllt mit den richtigen Weinen.
Seit sich die Eltern vor Kurzem aus dem operativen Geschäft zurückgezogen haben, betritt Pepi Sodoma das
Restaurant eigentlich kaum mehr, er überlässt seiner Tochter Susanne eine der schönsten gastronomischen Bühnen in Ostösterreich. Das ist wichtig und richtig. Gerti Sodoma hingegen lässt sich immer wieder blicken, in den vergangenen Wochen half sie beim Tranchieren des Martinigansls.
Für Markus, den Sohn, ist das kein Problem. Die beiden haben zehn Jahre nebeneinander und miteinander gekocht. Das Uneitle hat er von ihr gelernt. Würde man Markus fragen, woher er das Gespür für die Feinheiten des Kochens hat, könnte er sagen: „Meine Mutter ist eine gute Köchin.“
Das Suppenhandwerk. Das Gasthaus, das eigentlich Gasthaus zur Sonne heißt, was aber kaum jemand weiß, weil alle nur Sodoma und zum Sodoma sagen, gehört zu den Lokalen, in denen das Suppenhandwerk vorbildlich gepflegt wird. Wie auch das Suppeneinlagenhandwerk. In der Rindsuppe sind es gleich drei davon. Eine kleine, heiß servierte Kulturschau der heimischen Suppenküche. Im Frühjahr, also in drei bis vier Monaten, schmeckt dann die Bärlauchsuppe.
Das Wirtshaus ist ein Stück alter österreichischer, ja europäischer Lebenskultur.
Gerti Sodomas Version ist geeignet, den schlechten Ruf auszumerzen, den der knoblauchartige grüne Frühlingsbote hat, unter anderem wegen seiner Hegemonie auf Österreichs Speisenkarten und dem Unvermögen vieler Köchinnen und Köche, dem grünen Kraut ein Mindestmaß an Delikatesse zu entlocken. Die Sodoma-Bärlauchsuppe ist ein Musterbeispiel an Eleganz. Sie steht für die fast einmalige Qualität dieses Wirtshauses: aus Gewöhnlichem Besonderes zu machen.
Ein Stück Lebenskultur. Wenn Sie nach Lektüre dieses Artikels die Lust überkommt, spontan nach Tulln zu reisen, idealerweise mit der Bahn, tun Sie es lieber nicht. Heute ist Sonntag. Sodoma hat einen Trend vorweggenommen, der mittlerweile in Österreich immer öfter zu beobachten ist, sogar im berühmten Steirereck am Pogusch: Sonntags geschlossen. Und eine Reservierung ist auch an den Tagen vonnöten, an denen das Haus geöffnet hat. Mittags seien es die Alten, die den Umsatz brächten, so Gerti Sodoma, die Stammgäste aus nah und fern. Da und dort ein vereinzelter älterer Herr, der behutsam seine Suppe löffelt und aus dem Tagesangebot wählt. Vielleicht freitags Branzino, natürlich vom besten Fischlieferanten Wiens. Oder Kalbsgulasch, gerade richtig und langweilig gewürzt.
Diese von Effizienz oder Austerität unbeeindruckte Art des Mittagessens im besten Wirtshaus des Orts ist aus vielerlei Gründen vom Aussterben bedroht. In Tulln kann man dieses Stück alter österreichischer, europäischer Lebenskultur noch besichtigen. Und, was besonders erfreulich ist, ein Teil davon werden.
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