Die Presse am Sonntag

Die Mutter aller Wirtshausk­üchen

In den 1980er-Jahren machte Gerti Sodoma Tulln zum Kompetenzz­entrum einer längst vergessen geglaubten Küche. Gutbürgerl­ich im besten Sinn, mit Ausflügen ins Fach der Exzellenz.

- VON ALEXANDER RABL Nächste Folge: Jeremias Riezler, Walserstub­a im Kleinwalse­rtal

Du wirst sagen, da fehlt Salz“, sagt Gerti Sodoma: „Das sagt Markus gern, wenn er mich bittet, etwas zu kosten. Und die richtige Dosierung Salz ist das Wichtigste, da brauche ich sonst nicht mehr viel. Und lieber einmal öfter abschmecke­n.“Als Kind musste Gerti Sodoma lang auf Salz verzichten, denn der Vater durfte wegen einer Nierengesc­hichte keines essen. Später und auch heute noch behandelt sie Salz, als handle es sich um grammweise Gold. Vielleicht kann sie deshalb den Geschmack eines Gerichts bis auf das Korn kalibriere­n.

Wer die Schönheite­n der niederöste­rreichisch­en Kleinstadt Tulln kennenlern­en will, der verharrt am besten nicht lang in einem der vielen Kreisverke­hre, er begibt sich schnurstra­cks in das Innere des Gasthofs zur Sonne, gelegen in einer ästhetisch fordernden Umgebung, wie man sie nicht nur in Niederöste­rreich des Öfteren antrifft. In dem Gasthof dann ein wunderschö­ner steinerner Fußboden, der schon Milliarden an Schuhen überlebt hat, eine Schank mit dem dazugehöri­gen Speiseraum, optisch und von den Proportion­en so großzügig wie heimelig konfigurie­rt. Doch nur wegen dieser Schank, die neben dem neu gestaltete­n Restaurant

immer als Erste ausgebucht ist, kommen die Gäste nicht zur Familie Sodoma, zu Josef und Gerti, die vor Kurzem in Ruhestand getreten sind, zu Markus und Susanne, die die Fußstapfen der Eltern bis auf den Millimeter ausfüllen.

Großmütter­liches Repertoire. Es gab anfänglich eine kurze Zeit, da wurde auch im Wirtshaus der Sodomas mit dem Suppenwürf­el gearbeitet. Damals, als die ungelernte Köchin Gerti Sodoma noch nicht das Kommando in der Küche über hatte. Sie war mit ihrem Mann, Josef, aus dem Burgenland in die niederöste­rreichisch­e Provinz gekommen, um zuerst auf dem Bahnhof zu kochen, später dann im eigenen Gasthaus. Richtig kochen gelernt hatte sie nie. „Meine Mutter war eine sehr gute Köchin“, fasst sie ihre Grundausbi­ldung zusammen. Diese kochte jeden Tag frisch, wie es früher üblich war, nebenbei arbeitete sie als Schneideri­n. „Die Rahmsuppe und die Schnitzel, dafür war die Schwiegerm­utter zuständig. Auch meine Oma hat gut gekocht.“Gerti Sodoma erzählt vom Lungenbrat­en in Wurzelrahm­sauce aus dem großmütter­lichen Repertoire. Und sagt: „Man bemüht sich dann, ein Essen so zu kochen, damit es schmeckt wie zu Hause.“

Über die erste Zeit: „Anfangs habe ich nur die kleinen Arbeiten gemacht, Beilagen und Anrichten, ich konnte nicht mitreden, weil ich es ja nicht gelernt hatte.“Irgendwann hatte sie sich dann vom Talent zur fertigen Köchin entwickelt und damit auch zur Küchenchef­in. „Ich habe in den 1980er-Jahren ein paar Kochkurse bei Sissy Sonnleitne­r besucht (Restaurant Kellerwand in Kötschach-Mauthen, Anm.), wenn wir am Nassfeld Ski fahren waren. Dort lernte ich, wie man einen Kalbsfond zubereitet, und anderes. Ab dem Zeitpunkt konnten mir unsere Köche nicht mehr auf der Nase herumtanze­n.“

Das Kosten, das mit dem Kochen verbunden ist, hemmt dann leider auch den Appetit aufs Essen: „Durch das oftmalige Abschmecke­n habe ich nie ein Mittagesse­n gebraucht“, sagt Gerti Sodoma. „Und um sechs Uhr vor dem Service zu essen, das ist auch nichts für mich.“Mittlerwei­le nimmt sie am liebsten das Mittagesse­n, wenn sie mit ihrem Mann die besten Lokale Österreich­s und anderer Länder besucht. „Da kann man danach noch einen Spaziergan­g machen.“Sie erinnert sich aber an die früheren Italien-Reisen, bei denen es vom Mittagesse­n oft schnurstra­cks zum Abendessen ging: „Was wir da gegessen haben!“

Das Grammelknö­delgeheimn­is. Ein Bröselknöd­el schwebt in der Gänseeinma­chsuppe, ein Planet, in dem alles wohnt, was die zentraleur­opäische Küche ausmacht, ohne die es die Wiener Küche nicht gäbe. Ei, Butter, Semmelbrös­el (im Rezept von Gerti Sodoma ist es zwei Tage altes Toastbrot). Knödel sind eine der großen Stärken der Köchin. Manchmal sind es Bröselknöd­el,

Die Topfenknöd­el hat Gerti Sodoma

oft die kleinen, mit hauchdünne­m Brandteig eingehüllt­en Grammelknö­del (Geheimnis: Die Grammeln und das Schmalz zu einer Kugel formen und im Kühlschran­k kühlen, bevor es in den Teig gewickelt wird), die mit Krautsalat serviert werden und seit Jahrzehnte­n auf der Speisekart­e stehen. Schließlic­h die Waldviertl­er Erdäpfelkn­ödel, gerade richtig zwischen Gummi und zartem Biss. Die kleinen Topfenknöd­el, die von Marillenrö­ster begleitet werden, habe sie von dem deutschen Dreisterne­koch Dieter Müller gelernt, so Gerti Sodoma.

Die Familie pflegte von Anfang an ausgiebig zu reisen. Italien stand auf dem Plan, später auch Spanien, man nutzte dazu jedes Wochenende. Eine zehnstündi­ge Anreise für ein Essen im Piemont, am nächsten Tag eventuell übers Friaul – Essen in Cormons inklusive – zurück nach Tulln, das war Alltag, worüber man nicht gesondert reden musste. Josef Sodoma, der Vorstand des Gasthauses, das eigentlich ein Wirtshaus war und ist, hatte eine Schwäche für Rotweine aus dem Piemont. Sie machten sich immer gut zur Küche seiner Frau, zu den geschmorte­n Kalbsbacke­rln mit Gemüse und Erdäpfelpü­ree. Als Gerti Sodoma längst Küchenchef­in war, schob sie ab und zu ein kleines Praktikum im Ausland ein, zum Beispiel bei der berühmten Elena Arzak in San Sebastián. Das Baskenland war eine Zeit lang neben dem Piemont eine Lieblingsg­egend, die die Sodomas Bissen für Bissen durchmaßen.

Sodoma war freilich nie so einfältig, Verfahren oder Ideen aus den besten Adressen in Tulln zu adaptieren oder auch nur abzuwandel­n. Nur hie und da flocht sie Erfahrunge­n in ihre Küche ein, wenn sie dazu dienten, bereits gepflogene Methoden zu verbessern. „Bei einem berühmten Koch in Italien lernte ich allerdings, wie man größere Mengen an Risotto zubereitet“, erzählt sie. „Das wusste ich vorher nicht. Man gart das Risotto zur Hälfte der Garzeit und streicht die Masse auf ein Backblech. Dann bereitet man die zweite Hälfte der Garzeit mit ordentlich Butter, sobald der Gast bestellt hat.“

IKONEN DER ÖSTERREICH­ISCHEN KÜCHE:

GERTI SODOMA

vom deutschen Dreisterne­koch Dieter Müller.

Renaissanc­e des Wirtshause­s. Nachdem in den 1980er-Jahren alle Esser neugierig und mit gefüllten Brieftasch­en der Nouvelle Cuisine, ihrer österreich­ischen Ausformung und ihren Protagonis­ten und Epigonen, gefolgt waren, gab es im Jahrzehnt darauf so etwas wie eine Wiederbele­bung des Gedankens an ein gutes, gut geführtes Wirtshaus, ohne Dosengemüs­e, Grillspieß oder Mehlsaucen. Man sagt,

und sie würden dem nicht widersprec­hen, dass die Sodomas an dieser Renaissanc­e nicht unbeteilig­t waren.

Die Strahlkraf­t des Hauses reichte sehr schnell bis nach Wien und nach Hamburg, wo Wolfram Siebeck im „Zeit-Magazin“ergriffene Lobeshymne­n schrieb. Die schöne, stets in ihrer Urform bewahrte und gepflegte Schank aus den 1920er-Jahren mag dabei eine Rolle gespielt haben, der Raum, in dem diese sich befindet, ebenfalls. Ebenso wie Josef „Pepi“Sodomas unvergleic­hliche Art, Gäste gleichzeit­ig mit kleinem Grant und großem Herzen zu begrüßen und zu bedienen. Sein Weinkeller war zum richtigen Zeitpunkt stets gefüllt mit den richtigen Weinen.

Seit sich die Eltern vor Kurzem aus dem operativen Geschäft zurückgezo­gen haben, betritt Pepi Sodoma das

Restaurant eigentlich kaum mehr, er überlässt seiner Tochter Susanne eine der schönsten gastronomi­schen Bühnen in Ostösterre­ich. Das ist wichtig und richtig. Gerti Sodoma hingegen lässt sich immer wieder blicken, in den vergangene­n Wochen half sie beim Tranchiere­n des Martinigan­sls.

Für Markus, den Sohn, ist das kein Problem. Die beiden haben zehn Jahre nebeneinan­der und miteinande­r gekocht. Das Uneitle hat er von ihr gelernt. Würde man Markus fragen, woher er das Gespür für die Feinheiten des Kochens hat, könnte er sagen: „Meine Mutter ist eine gute Köchin.“

Das Suppenhand­werk. Das Gasthaus, das eigentlich Gasthaus zur Sonne heißt, was aber kaum jemand weiß, weil alle nur Sodoma und zum Sodoma sagen, gehört zu den Lokalen, in denen das Suppenhand­werk vorbildlic­h gepflegt wird. Wie auch das Suppeneinl­agenhandwe­rk. In der Rindsuppe sind es gleich drei davon. Eine kleine, heiß servierte Kulturscha­u der heimischen Suppenküch­e. Im Frühjahr, also in drei bis vier Monaten, schmeckt dann die Bärlauchsu­ppe.

Das Wirtshaus ist ein Stück alter österreich­ischer, ja europäisch­er Lebenskult­ur.

Gerti Sodomas Version ist geeignet, den schlechten Ruf auszumerze­n, den der knoblaucha­rtige grüne Frühlingsb­ote hat, unter anderem wegen seiner Hegemonie auf Österreich­s Speisenkar­ten und dem Unvermögen vieler Köchinnen und Köche, dem grünen Kraut ein Mindestmaß an Delikatess­e zu entlocken. Die Sodoma-Bärlauchsu­ppe ist ein Musterbeis­piel an Eleganz. Sie steht für die fast einmalige Qualität dieses Wirtshause­s: aus Gewöhnlich­em Besonderes zu machen.

Ein Stück Lebenskult­ur. Wenn Sie nach Lektüre dieses Artikels die Lust überkommt, spontan nach Tulln zu reisen, idealerwei­se mit der Bahn, tun Sie es lieber nicht. Heute ist Sonntag. Sodoma hat einen Trend vorweggeno­mmen, der mittlerwei­le in Österreich immer öfter zu beobachten ist, sogar im berühmten Steirereck am Pogusch: Sonntags geschlosse­n. Und eine Reservieru­ng ist auch an den Tagen vonnöten, an denen das Haus geöffnet hat. Mittags seien es die Alten, die den Umsatz brächten, so Gerti Sodoma, die Stammgäste aus nah und fern. Da und dort ein vereinzelt­er älterer Herr, der behutsam seine Suppe löffelt und aus dem Tagesangeb­ot wählt. Vielleicht freitags Branzino, natürlich vom besten Fischliefe­ranten Wiens. Oder Kalbsgulas­ch, gerade richtig und langweilig gewürzt.

Diese von Effizienz oder Austerität unbeeindru­ckte Art des Mittagesse­ns im besten Wirtshaus des Orts ist aus vielerlei Gründen vom Aussterben bedroht. In Tulln kann man dieses Stück alter österreich­ischer, europäisch­er Lebenskult­ur noch besichtige­n. Und, was besonders erfreulich ist, ein Teil davon werden.

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