Kraftaufbau im Handumdrehen
Der Tanz an der Stange hat es längst aus den Ecken schummriger Lokale geschafft. So entwickelt sich zur beliebten Sportart, die Akrobatik und Krafttraining in elegantem Bogen vereint.
Sie schwingen sich durch den Raum, als wäre die Schwerkraft eine Illusion. Als läge der einzige Punkt, an dem Kräfte wirken, zwischen Körper und Stange. Dort treffen Eigengewicht, Edelstahl und Disziplin aufeinander. Mit gestreckten Beinen ziehen sie sich in der Vertikalen heran, stoßen sich ab, steigen empor und scheinen federleicht zu sein. Die Polegirls, wie sie sich untereinander nennen, finden im Tanzstudio einen Ort, an dem nicht nur redensartlich die Hüllen fallen. „Hier wird jede so akzeptiert, wie sie ist. Es gibt keine Fehler und auch keine Tabus“, sagt Ines Beranek. Die Wienerin gründete 2010 mit Poledance Vienna das erste Studio in der Bundeshauptstadt. Ihre Begeisterung rührt aus einem Auslandssemester in Nottingham. Dort lernte sie den Tanz an der Stange kennen und brachte ihn mit in die Heimat. Seither lehrt die 37-Jährige an zwei der vier Standorte die traditionell asiatisch geprägte Akrobatik. Ursprünglich aus der Zirkuskunst stammend, haben es die Stangenschwünge in abgewandelter Form während der 1980er-Jahre in heimische Stripteaseund Nachtclubs geschafft.
Doch von einer anrüchigen Atmosphäre ist in den hohen Hallen nichts zu merken. Viel eher überwiegt das Kunstvolle, die schlangenförmigen Bewegungen in kraftvoll beherrschten Körpern. 45 mm Edelstahl in Knie oder Ellbogen eingeklemmt, fahren selbst die Anfängerakrobatinnen zu Höchstleistungen auf. „Die meisten denken, dass sie die Übungen nicht schaffen, bis sie es das erste Mal ausprobieren. Darin liegt auch der Zauber verborgen: zu verstehen und zu erleben, dass der Körper viel mehr kann, als wir ihm zutrauen. Mit dieser Einstellung – und der aufrechten Körperhaltung – lässt sich auch Berufsund Privatleben leichter bewältigen.“Einmal mit dem Training angefangen, ist der gestreckte Brustkorb nicht mehr wegzudenken. Denn primär werden Rücken-, Arm- und Bauchmuskultur gekräftigt. Über den Energieverbrauch lässt sich nur mutmaßen, die Inhaberin schätzt rund 350 bis 450 Kalorien pro Stunde. „Der Griff muss fest sein. Deshalb wärmen wir am Anfang die (Hand-)Gelenke auf und dehnen uns. Abschließend sind zehn Minuten für Kraftübungen eingeplant.“
An den Abschluss möchte Ivana Doknjas gar nicht denken. Für sie bedeuten die Einheiten: frei im Kopf und nur bei sich zu sein. „Mein Job verlangt hohe Konzentration, und ich schaffe es erst im Studio abzuschalten. Sobald ich rausgehe, fangen die Gedanken wieder an zu kreisen.“Die 35-Jährige ist seit einem Jahr dabei und hat bereits das fünfte Level abgeschlossen. Diese bestehen aus sechs Einheiten, in denen je fünf Figuren gelehrt werden. Anfänglich liegt der Fokus auf Drehungen und Tanzbewegungen, danach sind Kletterübungen dran. Ab der dritten Stufe sollte man möglichst schwindelfrei sein, kopfüber schweben ist angesagt.
Ivana bringt Vorerfahrung mit, hat bereits in der Schule gelernt, Rhönrad zu fahren. „Ich war immer sportlich. Aber einen Klimmzug hab ich mir nie zugetraut – bis ich mit Pole begonnen habe. Mittlerweile mache ich einige hintereinander. Außerdem nehme ich meinen Köper anders wahr.“Während es ihr davor schwer fiel, sich im Schwimmbad zu zeigen, kommen ihr negative Gedanken oder Zweifel heute nicht mehr in den Sinn. „Ich habe gelernt, andere Meinungen auszublenden. Auch deshalb, weil ich durch den Tanz Gleichgesinnte gefunden habe.“
Die Sicherheit, von anderen aufgefangen zu werden, spielt im Studio eine essenzielle Rolle. So turnt je ein Paar zusammen an der Stange. „Eine Person muss dabei sein, um zu stabilisieren, im Notfall einzuschreiten und Frustration zu teilen“, erklärt Lisa Teufel. Die 32jährige Niederösterreicherin übt den Sport seit vier Jahren aus und weiß: „Das Miteinander ist zentral. Vor einander gibt es weder Verurteilung noch Scham.“Mittlerweile gibt es aus dem ursprünglich für Frauen konzipierten Angebot auch Kurse für Männer. Zu wählen gilt es aus vier Kategorien: Pole, Circus, Sexy und Fit. „Wir erweitern unser Repertoire kontinuierlich. Es gibt Dutzende Kurse je nach Bereich“, so die Studioleiterin. Während Lisa zunächst Lollipop ausprobieren möchte, tendiert Ivana dazu, einen Choreografiekurs anzufangen.
Zuschreibung. Das grazile Schlängeln ermöglicht, den Körper neu kennenzulernen. Davon sind die drei Frauen überzeugt. Neben dem Irrglauben, sich damit zur Schau stellen zu wollen, will Ines mit einer weiteren Zuschreibung aufräumen: „Ich höre oft die Sorge, zu schwach für Pole zu sein. Davor braucht sich niemand fürchten, wir bauen die Kraft auf.“Man könne weder zu alt, dick oder unsportlich sein. 70 Prozent der Teilnehmenden sind zwischen 18 und 28 Jahre alt, rund ein Viertel ist älter, der Großteil weiblich. Wer hart arbeitet, wird mit Pole Kisses belohnt. Fraglich, ob blaue Flecken je eine liebevollere Bezeichnung bekommen haben.