Marathon durch Bergwelten
Die Sehnsucht vieler Läufer heißt »Trail«. Das Bild vom ultralangen Hardcore-Event im Gelände schreckt aber eher ab. Veranstalter und Sportartikelindustrie basteln also an Lösungen.
Am Anfang stand ein Feldversuch. Denn als Arne Suominen 1956 dazu einlud, mit ihm auf seinen „Hausberg“zu laufen, den Pikes Peak im US-Staat Colorado, plante der finnischstämmige Arzt keinen Wettlauf für Elite-Athleten. Der Langstreckenmeister wollte auch keinen Volkslauf schaffen. Suominen wollte etwas beweisen. Und schuf eine Legende: Der Pikes Peak Marathon steht heute auf der Wunschliste vieler USLäufer. Und triggert immer öfter auch Laufreise-Träume in Europa und anderswo.
Schuld an Letzterem ist die Weltelite des Geländelaufens. Die reist nämlich jährlich nach Colorado, um durch den wunderschönen, Western-klischeehaften „Garden of the Gods“auf den Gipfel des 4300-Meter-Hügels zu joggen. Bilder davon bleiben nicht ohne Wirkung.
Der Lauf ist aber auch aus anderen Gründen legendär: 1959 finishte hier Arlene Pieper Stine den Marathon. Als erste Frau. Acht Jahre später lief Kathrine Switzer die 42 Kilometer in Boston – und wird seither weltweit gefeiert. Apropos Boston: Dort laufen beim berühmten Marathon 40.000 auf der Straße, hier in Colorado 1300 im Gelände. Also dort, wo immer mehr „Normalos“hin wollen, sich aber oft nicht trauen.
Es ging ums böse Rauchen. Doch Suominen hatte 1956 Anderes im Sinn. Der Arzt wollte beweisen, dass Rauchen Gesundheit und Ausdauer abträglich ist. Also rief er 150 Jahre nach der Erstbesteigung des Peaks durch den US-Offizier Zebulon Pike zum Wettlauf: rauf und runter. Drei Raucher (von 14 Teilnehmern) liefen mit. Zwei Raucher kamen nicht einmal zum Gipfel. Und der Dritte oben keinen Schritt mehr weiter.
Dass Lauf und Legende hierzulande niemand kennt, hat mehrere Gründe. Der zentrale: die Angst vor der Landschaft. Woher die kommt? Das Narrativ „Trail“fußt auf Hardcore-Rennerei über unvorstellbare Distanzen: Schon die Mutter aller Trailbewerbe, der Western State Trail, geht über 160 Kilometer. Ja, es gibt kürzere Rennen – als relevant kommuniziert wird aber nur mindestens Dreistelliges. Das macht Angst – und sorgt für Hermetik: Schon StraßenEliteläufer können mit Namen wie Courtney Dauwalter oder Scott Jurek nichts anfangen. Obwohl beide Superstars in ihrer Blase sind. Jurek (*1973) etwa hat den Western State sieben Mal gewonnen – in Serie.
Normalos fallen da in Ohnmacht: Durchschnittsläufer sind meist kürzer als 45 Minuten und weniger als zehn Kilometer unterwegs. Halbmarathon gilt vielen als Lebenstraum. Aber 160 Kilometer? Vier Mal Regelmarathon – plus Berge? Nie im Leben! Das verschreckt Menschen. Und Märkte.
Also sucht die Sportartikelindustrie „verständliche“Wettkämpfe. TrailMarktführer Salomon erfand vor fünf Jahren die Golden Trail Serie (GTS): Die Weltelite tritt bei fünf Rennen in Europa und zwei in den USA an – begleitet von einem Medientross. Die Serie stülpt sich über etablierte Rennen quasi darüber. Harte Bewerbe, aber mit nachvollziehbaren Dimensionen: maximal Marathondistanz, meist deutlich kürzer.
Alle führen durch Traumlandschaften und haben Geschichte. So wie eben beim Pikes Peak.
Das funktioniert, erklärt Pikes-PeakRenndirektor Ron Ilgin: „Früher kannte uns niemand in Europa. Jetzt kommen Leute aus aller Welt.“Wieso? Auch wenn außerhalb der Bubble kaum jemand Rémy Bonnet, Sophia Laukli, Judith Wyder oder Patrick Kipngeno kennt: Social-Media-Algorithmen schaufeln die Bilder dieser und anderer Welt- und sonstiger Meister in Millionen laufaffine Timelines. Der Schweizer Bonnet (derzeit das Maß aller Dinge) matcht sich mit „Vertical“-Weltmeister Kipngeno aus Kenia. Bonnets Landsfrau Wyder trägt ihr jährliches Duell mit US-Olympialangläuferin Laukli in die Wälder um Mammoth Lake: Die Namen mögen wenig auslösen, die Bilder umso mehr.
Schöne Bilder locken. Und nicht nur die Bilder der Wettkämpfe: Der GTS-Tross lebte und lief zwischen den US-Bewerben gemeinsam, man postet viel: Laufbilder von den roten Felsen des Garden of the Gods, aus Yellowstone und Yosemite, von Mammutbäumen und der Golden Gate Bridge in San Francisco (okay: Asphalt). Das triggert Sehnsüchte, keine Ängste. Das Setting wirkt offen und frei. Und lockerer als die teuren, eng getakteten Laufreisen zu monströsen Stadtmarathons. Familiäres Laufen in der Natur: Das klingt einladend.
Nicht nur in den USA. Das GTS-Finale fand Ende Oktober in Noli, an der ligurischen Küste, statt: mediterranes Flair, mittelalterlicher Stadtkern. Ja, es ging über steile Wald- und Felswege. Aber was für Blicke! Und Laufen ist dosierbar: Die 26 Finalkilometer führten in mehreren unterschiedlichen Schleifen
fünf Mal durch die Stadt. Eurosport übertrug live. Die Botschaft: „Fürchtet Euch nicht – tut es! Wer will, kann.“
Derlei wird gehört: Auf Plattformen wie Strava legten als „Trail“gespeicherte Läufe von 2021 auf 2022 um 70 Prozent zu. Waren in Deutschland 2018 rund 15 Prozent aller verkauften Laufschuhe geländegängig, lag die Quote 2021 bei 22 Prozent. In Frankreich sogar bei 35 Prozent. 2025, schätzt der Handel, wird ein Drittel aller Lauf-Umsätze unter „Trail“firmieren.
Trail- bzw. Geländelaufen findet noch unter der breiteren medialen Aufmerksamkeitsschwelle statt.
Wer sich so eine Tortur antut, zählt meist zur durchaus finanzkräftigeren Schicht.
Das wirkt sich aufs Reiseverhalten der Lauf-Klientel aus. Das Kerngeschäft einschlägiger Laufreiseveranstalter sind zwar weiterhin Trips zu bekannten Stadt-Marathons wie in Boston oder New York: Normalläufer kommen dort meist nur über für Reiseveranstalter reservierte Kontingente an Startplätze. Doch „realistische“Trails wie Pikes Peak und Mammoth Lake poppen immer öfter am Radar dieser durchaus finanzkräftigen Kundschaft auf. Erst recht, wenn sich ein Zwischendurch-Programm mit attraktiven Begleit-Tagesetappen förmlich anbietet.
Laufreisebüros machen ihre Hausaufgaben dann prompt : Pikes-Peak-Organisator Ilgin wurde nach dem Rennen im September von einem deutschen Veranstalter angeschrieben. Bilder und Geschichte hätten Stammkunden „angefixt“. Eines, so der Reiseveranstalter, könne er auch garantieren: „Die schaffen das: Keiner von ihnen raucht.“