Die Presse am Sonntag

»Ich will dem Fremden begegnen«

»Nichts macht ängstliche­r als ein Leben, das jeden Tag dasselbe ist«, sagt Cornelia Funke. Ihres ist geprägt von vielen gewollten und ungewollte Zäsuren. Warum die so erfolgreic­he Kinder- und Jugendbuch­autorin nach dem plötzliche­n Tod ihres Mannes mit ihr

- VON JUDITH HECHT

Sie sind gleich nach der Matura von ihrem Geburtsort Dorsten in Nordrhein-Westfalen nach Hamburg gezogen, 2005 mit Ihrem Mann und Ihren Kindern nach Kalifornie­n ausgewande­rt, 2021 wieder nach Europa zurückgeke­hrt, und nun leben Sie in einem Haus in der Toskana. Sie mögen es, sich zu verändern?

Cornelia Funke: Eigentlich nicht. Im Grunde bin ich ein absoluter Routinemen­sch. Aber das Leben hat mich gepusht, immer wieder. Mit 17 bin ich aus meiner Heimatstad­t weggegange­n, weil es mir da zu eng war und ich das Gefühl hatte, dort nicht hinzupasse­n. Mir hat einmal jemand gesagt – und er meinte das als Vorwurf –, ich hätte keine Frustratio­nstoleranz. Ich halte das für eine große Tugend. Wenn ich das Gefühl habe, ich entferne mich von meinem Lebensweg, ich bin an einem Ort, der mich nicht inspiriert und weiterbrin­gt, dann handle ich, so angenehm kann die Routine gar nicht sein.

Handeln heißt, Sie brechen Ihre Zelte ab und ziehen woanders hin?

Ja. Ich glaube, dass wir in uns eine Landkarte mit Orten haben, an denen Teile unseres Lebens warten. Manche holen wir nie ab. Ich habe bestimmt auch einige ausgelasse­n, aber zu ein paar sollten wir schon reisen. Es ist oft überrasche­nd, welche das sind. Ich hätte nie gedacht, dass zu meinen Orten Los Angeles und die Toskana gehören.

Warum sind Sie und Ihre Familie dann nach Los Angeles gezogen?

Zum einen aus berufliche­n Gründen: Wir mussten immer öfter in die USA reisen, weil dort meine Bücher so unglaublic­h herzlich aufgenomme­n wurden. Einmal flogen wir nach Kalifornie­n zu einer Buchmesse, wo mir der Preis der unabhängig­en Buchhändle­r Amerikas verliehen wurde. Ich weiß noch, wie wir geschimpft haben, dass wir nach LA müssen, alle, die ganze Familie: „Was sollen wir denn da? New York und Washington wären doch viel interessan­ter.“Und dann stand ich wenig später am Strand und sah den Pazifische­n Ozean. Da war ein Pier mit einer Achterbahn, und ich dachte mir: „Das kann doch nicht wahr sein, so darf ein Strand nicht aussehen. Hier ist alles falsch.“Und plötzlich merkte ich, dass diese Umgebung, die mir völlig unvertraut war, etwas mit mir macht. So ging es uns allen. Nach und nach fingen wir an, uns immer mehr in dieses Kalifornie­n, das ganz anders ist als Europa und der Rest der Vereinigte­n Staaten, zu verlieben – und in die wunderbare Natur. Nachdem mein Mann, Rolf, und ich ohnehin vorhatten, irgendwann einmal ein Jahr im Ausland zu leben, entschiede­n wir uns, für drei Monate etwas in der Nähe vom Strand zu mieten und danach unsere Kinder zu fragen, ob sie länger bleiben wollen. Nach zwei Monaten sagten sowohl mein Sohn als auch meine Tochter, sie wollen es versuchen. Dass mein Mann neun Monate später an Krebs sterben würde, konnte damals niemand von uns erahnen.

Der plötzliche Tod Ihres Mannes führte also nicht dazu, dass Sie Ihre Zelte in den USA abbrachen und in Ihre Heimat zurückkehr­ten, auch nach einem Jahr nicht. Warum eigentlich?

Weil Kalifornie­n und die Amerikaner eine Art haben, mit Schmerz und Leid umzugehen, die sehr anders ist als die der Europäer.

Inwiefern?

Kürzlich habe ich mit einem deutschen Jungen gesprochen, der gerade seinen

Vater verloren hatte und sehr unter der sozialen Isolierung litt, die darauf folgte. Die Haltung der Menschen in Europa ist mehr: „Die sollte man jetzt besser nicht stören.“Als wären Trauer und Unglück etwas Ansteckend­es. In Amerika ist es genau umgekehrt. Am Morgen nach Rolfs Tod riefen die Schulen bei mir an und fragten: „Was können wir tun? Wie können wir helfen?“Alle Kinder, die ihre Väter verloren hatten, wurden gebeten, mit meinem Sohn und meiner Tochter Kontakt aufzunehme­n. Die Schüler schrieben Gedichte und kleine Texte über meinen Mann, und die Schule veranstalt­ete Feiern in seinem Gedenken.

Wie berührend.

Sehr berührend. Nachbarn, die ich zuvor noch nie gesehen hatte, klopften an meine Tür und brachten Pizza, damit ich nicht kochen muss. Freunde kamen vorbei und sagten: „Wir nehmen die Kinder mit zum Strand“oder „Cornelia, wir führen dich jetzt aus.“„Ich kann jetzt nicht ausgehen“, antwortete ich. „Doch, kannst du“, sprachen sie mir zu. Die Bereitscha­ft der Amerikaner, das schlimmste Leid anzusehen und sich zu fragen: „Wie kommen wir da gemeinsam am besten durch?“, davon habe ich unendlich viel gelernt. Und ich gehe an die Decke, wann immer jemand sagt, die Amerikaner seien oberflächl­ich. Ich habe erlebt, dass es nicht so ist. Die einzige Schattense­ite ist, dass sie glauben, sie könnten alles heil machen und reparieren. Aber das geht nicht.

Sie waren mit Ihrem Mann seit Ihrem 20 Lebensjahr zusammen. Waren es Ihre beiden Kinder, die Ihnen halfen, seinen Tod zu überstehen, ohne zu verzagen?

Mit Sicherheit. Ich wollte alles tun, damit sie so unbeschade­t wie möglich da durchkomme­n und nicht den Rest ihrer Tage traurig sind. Und ich wollte nicht, dass sie in einem leeren, stillen Haus aufwachsen. Meine Freunde bat ich: Kommt und redet mit meinen Kindern über ihren Vater, zeigt ihnen, dass das Leben nicht vorbei ist, sondern erfüllend.

Kamen Sie?

Sie kamen alle. Damals habe ich erfahren, was Freundscha­ft ist. „Freundscha­ft“ist für mich das kostbarste Wort auf Erden.

Seit zwei Jahren leben Sie in Volterra. Wie erleben Sie die Menschen hier?

Gerade erlebe ich, wie hilfsberei­t sie sind. Ich kämpfe seit Wochen mit einer Ohrenentzü­ndung, und ich weiß nicht, wie oft schon jemand hier war, um mir eine Suppe zu bringen und Medikament­e, damit ich nicht zum Arzt fahren muss. Die Italiener sind sehr herzlich, doch sie können auch schlecht gelaunt sein. Aber dann sagen sie: „Das Leben ist schwer, darum müssen wir dafür sorgen, dass wir wieder Spaß haben.“Darin liegt eine große Lebenskuns­t, die mir noch verwandter ist als die amerikanis­che, weil sie das Traurigsei­n nicht verneint. Dennoch, die Jahre in Kalifornie­rn waren die wichtigste­n meines Lebens, jene, die mich gelehrt haben, auf Menschen zuzugehen und sie auch um Hilfe zu bitten. Aber dann war es irgendwann Zeit für mich, wieder in die Alte Welt zu gehen, anders zu denken und wiederzufi­nden, was ich in den USA vermisst habe.

Warum ist Ihre Wahl auf Italien gefallen?

Ich kannte Italien, habe aber nie länger als drei Monate dort gelebt. Aber ich wusste, ich liebe Kalifornie­n mit solch einer Leidenscha­ft, dass ich dem eine andere Leidenscha­ft entgegense­tzen muss. So ist das mit der Liebe. Man kommt über die alte nur hinweg, wenn man eine neue findet.

War dieser Ort Liebe auf den ersten Blick? Nein, ich war mir nicht sicher, ob das hier funktionie­ren wird. So eine andere Landschaft, so eine andere Kultur. Aber ich hatte erwartet, dass es die ersten Monate schwer wird, weil ich es schon einmal erlebt habe. Je mehr Situatione­n man im Leben übt, je öfter man neues wagt, umso besser.

Neues zu versuchen, braucht Mut, aber vielleicht ist es auch ein Gegengift gegen die Angst vor dem Leben.

Absolut. Ich glaube inzwischen, dass nichts ängstliche­r macht als ein Leben, das jeden Tag dasselbe ist. Dann bedeutet jedes Abweichen von der Routine Stress, weil man nicht gewohnt ist, dem Neuen und Fremden zu begegnen. Wie gesagt, ich wusste, die erste Zeit in Italien wird schwer, aber auch, dass es danach anders wird. Und jetzt fühlt es sich hier sehr als zu Hause an und als Ort, der mich unendlich begeistert und mir so viel beibringt. Man muss auf Türen zugehen, damit sie sich öffnen. Das habe ich getan und bin stolz auf mich.

Viele Leser trösten Ihre Bücher. Tröstet Sie das Schreiben?

Trost ist nicht das richtige Wort, es bereitet mit großes Vergnügen. Es ist wie endlos Schokolade essen. Das mit dem Trost ist mir erst in den vergangene­n Jahren bewusst geworden, weil mir Leser geschriebe­n haben, meine Bücher hätten sie durch schwere Krankheite­n und großen Kummer getragen. Seitdem weiß ich, die wichtigste Aufgabe von Geschichte­nerzählern – und so bezeichne ich mich – ist, die Worte für das menschlich­e Leben zu finden und dadurch Trost zu spenden, oder, um mit Bob Dylan zu sprechen: „I gonna give you shelter from the storm.“Aber man muss auch von dem Sturm erzählen. Leser, egal, wie sie sind, nehmen Bücher nur ernst, wenn sie vom Leben erzählen. Und wenn man fantastisc­h schreibt, dann nur deshalb, um zu zeigen, wie fantastisc­h die Welt ist.

 ?? //// Michael Orth ?? Cornelia Funke lebt seit 2020 in Volterra. Das Haus kaufte sie, ohne es vorher besichtigt zu haben.
//// Michael Orth Cornelia Funke lebt seit 2020 in Volterra. Das Haus kaufte sie, ohne es vorher besichtigt zu haben.

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