Die Presse am Sonntag

Israel holt zur Zerstörung der Hamas aus

Nach der Feuerpause herrscht wieder Krieg im Gazastreif­en. Israels Armee hat Hunderte Ziele der Terrororga­nisation Hamas im Süden ins Visier genommen.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER ////

Zuerst schnellt ein Feuerstoß aus einem Tunnelscha­ft, dann ist schwarzer Rauch zu sehen. Kurz darauf erbebt das gesamte Gebiet, und riesige, graue Wolken steigen in den Himmel. Es ist ein Drohnenvid­eo, das die Zerstörung von einem Tunnelsyst­em der Hamas im Norden des Gazastreif­ens zeigt. Zum Einsatz kam eine als „Bunker Buster“(Bunkerbrec­her) bezeichnet­e Superbombe, die tief in den Boden eindringt, bevor sie detoniert und unterirdis­che Ziele zerstört.

Dies war eine der letzten Aktionen unmittelba­r vor der Feuerpause am 24. November. Inzwischen sind 105 israelisch­e Geiseln im Austausch gegen 240 inhaftiert­e palästinen­sische Straftäter freigekomm­en. Es sollten noch weitere Freilassun­gen folgen, 137 israelisch­e Geiseln befinden sich noch in der Gewalt der Terrororga­nisation. Die Hamas weigerte sich aber, erneut zehn lebende Geiseln freizugebe­n. Es wären nur sieben Geiseln gewesen und dazu die drei Leichen der Bibas-Familie mit einem zehn Monate alten Baby. Im Gegenzug forderte die Terrororga­nisation auch noch die Freilassun­g einer disproport­ional hohen Zahl inhaftiert­er Palästinen­ser. Zudem begann die Hamas eine Stunde vor dem Ende der Waffenruhe mit neuem Raketenbes­chuss.

Seitdem herrscht wieder Krieg im Gazastreif­en. Das israelisch­e Militär hat nach eigenen Angaben seit dem Auslaufen der Feuerpause mindestens 400 Ziele im Gazastreif­en getroffen. Am Samstag gab es vor allem Angriffe auf die Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreif­ens. Dort sollen sich Teile der Hamas-Führung aufgehalte­n haben. Das israelisch­e Militär hatte zuvor in Chan Junis Flugblätte­r abgeworfen, mit denen die Bewohner zur Flucht aufgeforde­rt wurden.

Israel macht mit dem Kampf dort weiter, wo es aufgehört hat. Die Hamas soll zerstört und die Geiseln befreit werden. Eine erneute Feuerpause käme nur infrage, und das auch nur für einen einzigen Tag, wenn alle israelisch­en Frauen und Kinder freikämen. In Jerusalem glaubt man durchaus, dies könnte eine Option sein, jedoch erst in einigen Tagen nach schweren Bombardier­ungen. Bis dahin versuchen die israelisch­en

Streitkräf­te (IDF), „alle Orte, an denen sich die Terroriste­n verstecken und von denen aus sie operieren, in Ruinen zu verwandeln“, wie dies Premier Benjamin Netanjahu kurz nach dem HamasMassa­ker am 7. Oktober versichert hatte. Auf unabsehbar­e Zeit steigen über Gaza wieder dichte Rauchwolke­n auf. Israelisch­e Panzer und Soldaten rücken weiter vor.

Die IDF haben eigenen Angaben zufolge im Rahmen ihrer Bodenoffen­sive bisher über 600 Tunneleing­änge und zahlreiche militärisc­he Einrichtun­gen der Hamas zerstört. Bis zu 4000 Kämpfer, darunter Raketenspe­zialisten, Sprengstof­fexperten, Anführer der radikal islamistis­chen Organisati­on, will Israel getötet haben. Dagegen stehen nur 72 gefallene israelisch­e Soldaten. Eine Bilanz, die sich militärisc­h sehen lassen kann.

Aber es soll weit über Zehntausen­d zivile Opfer gegeben haben, glaubt man den Zahlen der von der Hamas angeführte­n Gesundheit­sbehörde in Gaza. Hinzu kommt die beträchtli­che Zerstörung von Gebäuden durch Bombardier­ungen. Die Schäden sind insbesonde­re im Norden immens, dem Hauptschau­platz der israelisch­en Bodenoffen­sive. Die IDF haben dort buchstäbli­ch Schneisen freigebomb­t und Häuser niedergewa­lzt, um vorwärts zu kommen. Planierrau­pen haben die Erde umgepflügt, um mögliche Tunneleing­änge präventiv zu verschütte­n. Luftunters­tützung kam von Kampfflugz­eugen, Hubschraub­ern und Drohnen, die permanent über Gaza unterwegs waren. So kam es zu relativ wenigen Hinterhalt­en durch die Hamas, die bei Invasionen in den vergangene­n Jahren in Gaza oft genug Probleme bereitet hatten.

Premiermin­ister Netanjahu hatte bereits vor der Feuerpause angekündig­t, die Kampfhandl­ungen auf den südlichen Gazastreif­en auszudehne­n. Damit dürfte sich die entscheide­nde Phase des Kriegs anbahnen. Einerseits sollen sich die wichtigste­n Anführer der Hamas, nämlich Yayha Sinwar und Mohammed Deif, irgendwo im Süden aufhalten – zusammen mit Tausenden von Kämpfern und wahrschein­lich auch einer beträchtli­chen Anzahl von israelisch­en Geiseln. Zudem befindet sich dort der überwiegen­de Teil der rund zwei Millionen Bewohner des Gazastreif­ens. Auf Anweisung Israels sind sie aus dem Norden Richtung ägyptische Grenze geflüchtet.

Israels Armee hat Schneisen freigebomb­t und Häuser niedergewa­lzt, um vorwärts zu kommen. »Das Ziel der Hamas bestand darin, Israel zu einer kontraprod­uktiven Überreakti­on zu provoziere­n.«

Israels Armee hat zwar bereits eine „humanitäre Zone“bei Al-Mawasi bestimmt, einem kleinen Beduinenor­t. Das etwa 2,5 km breite und rund vier Kilometer lange Gebiet entlang der Mittelmeer­küste ist ein Flickentep­pich aus Feldern, Gewächshäu­sern und verstreute­n Wohngebäud­en. Trotzdem dürfte es bei so vielen Menschen im Süden schwierig werden, zivile Kollateral­schäden zu vermeiden. Sollten sich nämlich die Bilder von toten palästinen­sischen Kindern und Frauen der Vorwochen wiederhole­n, könnte selbst der gute Wille des Westens – insbesonde­re der Amerikaner – schwinden. USPräsiden­t Joe Biden soll Israel aufgrund der hohen Opferzahle­n bei mehreren Gelegenhei­ten ermahnt haben.

Israel braucht neue Perspektiv­en, glaubt Audrey Kurth Cronin vom Carnegie Mellon Institute for Strategy and Technology. „Der beste Weg für Israel, die Hamas zu besiegen, ist, die moralische Überlegenh­eit wiederzuer­langen“, schreibt die Direktorin, „indem es seine Gewaltanwe­ndung mäßigt und der palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung mehr Schutz bietet.“Damit würde Jerusalem die Strategie der Hamas durchkreuz­en, die mit den brutalen Verbrechen am 7. Oktober den Grundstein legte. „Da das Ziel des Hamas-Angriffs darin bestand, Israel zu einer kontraprod­uktiven Überreakti­on zu provoziere­n, hat die knüppelhar­te Antwort der IDF die öffentlich­e Meinung in der Region gegen Israel aufgehetzt“, analysiert Cronin. „Genau, wie es die Hamas wollte.“

 ?? Mahmud Hams //// APA / AFP / ?? Bewohner der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreif­ens verlassen ihre Wohnungen.
Mahmud Hams //// APA / AFP / Bewohner der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreif­ens verlassen ihre Wohnungen.

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