Israel holt zur Zerstörung der Hamas aus
Nach der Feuerpause herrscht wieder Krieg im Gazastreifen. Israels Armee hat Hunderte Ziele der Terrororganisation Hamas im Süden ins Visier genommen.
Zuerst schnellt ein Feuerstoß aus einem Tunnelschaft, dann ist schwarzer Rauch zu sehen. Kurz darauf erbebt das gesamte Gebiet, und riesige, graue Wolken steigen in den Himmel. Es ist ein Drohnenvideo, das die Zerstörung von einem Tunnelsystem der Hamas im Norden des Gazastreifens zeigt. Zum Einsatz kam eine als „Bunker Buster“(Bunkerbrecher) bezeichnete Superbombe, die tief in den Boden eindringt, bevor sie detoniert und unterirdische Ziele zerstört.
Dies war eine der letzten Aktionen unmittelbar vor der Feuerpause am 24. November. Inzwischen sind 105 israelische Geiseln im Austausch gegen 240 inhaftierte palästinensische Straftäter freigekommen. Es sollten noch weitere Freilassungen folgen, 137 israelische Geiseln befinden sich noch in der Gewalt der Terrororganisation. Die Hamas weigerte sich aber, erneut zehn lebende Geiseln freizugeben. Es wären nur sieben Geiseln gewesen und dazu die drei Leichen der Bibas-Familie mit einem zehn Monate alten Baby. Im Gegenzug forderte die Terrororganisation auch noch die Freilassung einer disproportional hohen Zahl inhaftierter Palästinenser. Zudem begann die Hamas eine Stunde vor dem Ende der Waffenruhe mit neuem Raketenbeschuss.
Seitdem herrscht wieder Krieg im Gazastreifen. Das israelische Militär hat nach eigenen Angaben seit dem Auslaufen der Feuerpause mindestens 400 Ziele im Gazastreifen getroffen. Am Samstag gab es vor allem Angriffe auf die Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens. Dort sollen sich Teile der Hamas-Führung aufgehalten haben. Das israelische Militär hatte zuvor in Chan Junis Flugblätter abgeworfen, mit denen die Bewohner zur Flucht aufgefordert wurden.
Israel macht mit dem Kampf dort weiter, wo es aufgehört hat. Die Hamas soll zerstört und die Geiseln befreit werden. Eine erneute Feuerpause käme nur infrage, und das auch nur für einen einzigen Tag, wenn alle israelischen Frauen und Kinder freikämen. In Jerusalem glaubt man durchaus, dies könnte eine Option sein, jedoch erst in einigen Tagen nach schweren Bombardierungen. Bis dahin versuchen die israelischen
Streitkräfte (IDF), „alle Orte, an denen sich die Terroristen verstecken und von denen aus sie operieren, in Ruinen zu verwandeln“, wie dies Premier Benjamin Netanjahu kurz nach dem HamasMassaker am 7. Oktober versichert hatte. Auf unabsehbare Zeit steigen über Gaza wieder dichte Rauchwolken auf. Israelische Panzer und Soldaten rücken weiter vor.
Die IDF haben eigenen Angaben zufolge im Rahmen ihrer Bodenoffensive bisher über 600 Tunneleingänge und zahlreiche militärische Einrichtungen der Hamas zerstört. Bis zu 4000 Kämpfer, darunter Raketenspezialisten, Sprengstoffexperten, Anführer der radikal islamistischen Organisation, will Israel getötet haben. Dagegen stehen nur 72 gefallene israelische Soldaten. Eine Bilanz, die sich militärisch sehen lassen kann.
Aber es soll weit über Zehntausend zivile Opfer gegeben haben, glaubt man den Zahlen der von der Hamas angeführten Gesundheitsbehörde in Gaza. Hinzu kommt die beträchtliche Zerstörung von Gebäuden durch Bombardierungen. Die Schäden sind insbesondere im Norden immens, dem Hauptschauplatz der israelischen Bodenoffensive. Die IDF haben dort buchstäblich Schneisen freigebombt und Häuser niedergewalzt, um vorwärts zu kommen. Planierraupen haben die Erde umgepflügt, um mögliche Tunneleingänge präventiv zu verschütten. Luftunterstützung kam von Kampfflugzeugen, Hubschraubern und Drohnen, die permanent über Gaza unterwegs waren. So kam es zu relativ wenigen Hinterhalten durch die Hamas, die bei Invasionen in den vergangenen Jahren in Gaza oft genug Probleme bereitet hatten.
Premierminister Netanjahu hatte bereits vor der Feuerpause angekündigt, die Kampfhandlungen auf den südlichen Gazastreifen auszudehnen. Damit dürfte sich die entscheidende Phase des Kriegs anbahnen. Einerseits sollen sich die wichtigsten Anführer der Hamas, nämlich Yayha Sinwar und Mohammed Deif, irgendwo im Süden aufhalten – zusammen mit Tausenden von Kämpfern und wahrscheinlich auch einer beträchtlichen Anzahl von israelischen Geiseln. Zudem befindet sich dort der überwiegende Teil der rund zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens. Auf Anweisung Israels sind sie aus dem Norden Richtung ägyptische Grenze geflüchtet.
Israels Armee hat Schneisen freigebombt und Häuser niedergewalzt, um vorwärts zu kommen. »Das Ziel der Hamas bestand darin, Israel zu einer kontraproduktiven Überreaktion zu provozieren.«
Israels Armee hat zwar bereits eine „humanitäre Zone“bei Al-Mawasi bestimmt, einem kleinen Beduinenort. Das etwa 2,5 km breite und rund vier Kilometer lange Gebiet entlang der Mittelmeerküste ist ein Flickenteppich aus Feldern, Gewächshäusern und verstreuten Wohngebäuden. Trotzdem dürfte es bei so vielen Menschen im Süden schwierig werden, zivile Kollateralschäden zu vermeiden. Sollten sich nämlich die Bilder von toten palästinensischen Kindern und Frauen der Vorwochen wiederholen, könnte selbst der gute Wille des Westens – insbesondere der Amerikaner – schwinden. USPräsident Joe Biden soll Israel aufgrund der hohen Opferzahlen bei mehreren Gelegenheiten ermahnt haben.
Israel braucht neue Perspektiven, glaubt Audrey Kurth Cronin vom Carnegie Mellon Institute for Strategy and Technology. „Der beste Weg für Israel, die Hamas zu besiegen, ist, die moralische Überlegenheit wiederzuerlangen“, schreibt die Direktorin, „indem es seine Gewaltanwendung mäßigt und der palästinensischen Zivilbevölkerung mehr Schutz bietet.“Damit würde Jerusalem die Strategie der Hamas durchkreuzen, die mit den brutalen Verbrechen am 7. Oktober den Grundstein legte. „Da das Ziel des Hamas-Angriffs darin bestand, Israel zu einer kontraproduktiven Überreaktion zu provozieren, hat die knüppelharte Antwort der IDF die öffentliche Meinung in der Region gegen Israel aufgehetzt“, analysiert Cronin. „Genau, wie es die Hamas wollte.“