»Pessimismus ist Luxus«
Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk spricht über russische Kriegsverbrechen in ihrem Land, wieso der Westen die Macht der Bürger unterschätzt und warum sich die Ukrainer keine mutlose Haltung erlauben können.
Sie treten auf internationalen Foren auf, Sie treffen viele einflussreiche Persönlichkeiten. Zieht der Krieg im Nahen Osten die Aufmerksamkeit vom russischen Krieg gegen die Ukraine ab?
Oleksandra Matwijtschuk: Was im Nahen Osten passiert, ist schrecklich. Es ist klar, dass die Region nun im Fokus steht. Aber das Problem der Ukraine ist nicht gelöst. Wegen des russischen Kriegs sterben jeden Tag Menschen. Beide Probleme hängen zusammen: Das internationale Sicherheitssystem funktioniert nicht mehr. Es schützt die Menschen nicht vor Kriegen, die autoritär geführte Staaten provozieren. Wir müssen unsere Kräfte vereinen, um die internationale Friedensordnung wieder zu stärken.
Ist das Interesse an der Ukraine also gesunken?
Das kann ich nicht bestätigen. Der Hilfs- und Aufbauprozess für die Ukraine dauert ja an. Die Zeitungsaufmacher sind dem Nahen Osten gewidmet. Das ist natürlich.
Ist zu befürchten, dass die internationale Waffenhilfe abnimmt, jetzt, da die Lage an der Front einem Patt gleicht?
Wir können immer noch einen langen ungelösten Krieg verhindern. So ein Krieg ist Putins Plan, weil sein ursprünglicher Plan der schnellen Besatzung gescheitert ist. Die Ukraine hat bewiesen, dass sie erfolgreich kämpfen kann. Aber schnell kann sie den Krieg nur gewinnen, wenn sie internationale Unterstützung erhält. Als die groß angelegte Invasion begann, sagte der Westen: Helfen wir der Ukraine, damit sie nicht untergeht. Jetzt brauchen wir ein neues Narrativ: Wie können wir die Ukraine zum Sieg bringen? Das ist ein großer Unterschied, den wir bei der schnelleren Lieferung bestimmter Waffentypen und der Härte der Sanktionen spüren würden.
Warum ist der Westen so zurückhaltend?
Es ist der gleiche Grund, warum auch Putin gedacht hat, dass die Ukraine keine Chance hat: Die Politiker von heute blicken noch immer auf Kriege als zwischenstaatliche Angelegenheiten, und nicht auf die Menschen. Sie glauben nicht an die Menschen. Als die Invasion begann, brachten internationale Organisationen ihr Personal in Sicherheit. Die einfachen Menschen blieben – und begannen, außergewöhnliche Dinge zu tun. Sie riskierten ihr Leben für andere. Die Bürger haben einen viel größeren Einfluss, als man glaubt. Wenn man das Potenzial eines Staats nur anhand seiner Institutionen misst und die Macht der Menschen übersieht, ist das falsch. Ukrainer, die für ihre Freiheit und Würde kämpfen, können stärker sein als die russische Armee.
Ein wichtiger Einwand. Aber sind Sie nicht auch manchmal pessimistisch, was die Zukunft der Ukraine angeht? Es ist möglich, dass das Land nicht in der Lage sein wird, alle seine Gebiete zurückzuerobern.
Lassen Sie uns die Sachen beim Namen nennen! Wenn Politiker, die Russland für unbesiegbar halten, die Ukraine drängen, dem russischen imperialistischen Appetit nachzugeben und sich von ihren Gebieten loszusagen, dann machen sie einen zweifachen Fehler. Erstens: Das wird nicht den Krieg stoppen. Russland wird nur aufhören, wenn Putin gestoppt wird. Wenn das nicht in der Ukraine passiert, wird er weitermachen. Das betrifft dann Länder, die heute zur Nato und EU gehören. Putin will das russische Imperium wiedererrichten. Zweitens gibt es auch eine moralische Dimension. Unter russischer Besatzung zu leben bedeutet Folter, sexuelle Gewalt, Filtrationslager, das Verschwinden von politischen Gegnern. In den besetzten Gebieten herrscht ein
Terrorregime. Wenn man diese Gebiete aufgibt, werden die Menschen dort alleingelassen. Dazu haben wir kein moralisches Recht. Es sind unsere Staatsbürger, unsere Verwandten, unsere Freunde!
Der Pessimismus …
Menschen in Berlin, Wien, Genf oder Paris können sich erlauben, pessimistisch zu sein. Wir können das nicht. Pessimismus ist Luxus. Wenn man pessimistisch ist, trägt man nichts zur Veränderung der Lage bei. Wir befinden uns im Krieg. Hören wir auf zu kämpfen, wird es uns nicht mehr geben.
Die Mehrheit der Ukrainer ist für den Kampf bis zum Sieg. Der Anteil jener, die sich für Verhandlungen aussprechen, ist aber im Lauf eines Jahres gestiegen.
Ukrainer sind nicht grundsätzlich gegen Verhandlungen. Wir brauchen den Frieden mehr als alle anderen. Frieden kann man aber nicht durch Verhandlungen mit Russland erreichen. Russland wird nicht haltmachen. Jede Verhandlung hat Russland nur dazu genutzt, sich zurückzuziehen, umzugruppieren und vorwärtszudrängen. Dieser Krieg hat einen genozidalen Charakter. Die Russen wollen, dass die Ukraine als Nation verschwindet. Putin hat öffentlich gesagt, dass die ukrainische Nation nicht existiert. In den besetzten Gebieten sehen wir die praktischen Konsequenzen dieser Ideologie. Die russischen Kräfte verfolgen die dortigen aktiven Bürger: Beamte, Priester, Journalisten, Aktivisten. Sie verbieten die ukrainische Sprache und Kultur. Sie zerstören ukrainische Kulturgüter. Sie verschleppen ukrainische Kinder und praktizieren deren Umerziehung in russische. Wenn man eine nationale Gruppe auslöschen will, muss man nicht alle ihre Mitglieder töten. Man zwingt sie zur Änderung ihrer Identität und in der Folge wird die ganze Gruppe verschwinden. Deshalb ist es für uns ein existenzieller Kampf.
Was wissen Sie über die Mobilisierung von Männern in den besetzten Gebieten?
Es ist ein Verbrechen, das schon vor der großen Invasion begonnen hat. Wir erhielten Anrufe von Menschen in den besetzten Gebieten. Sie sagten, dass sie sich verstecken, weil sie nicht für die Russen kämpfen wollen. In den seit neun Jahren besetzten Gebieten (annektierte Krim und Teile des Donbass, beides seit 2014, Anm.) sind Schüler russischer Propaganda und Militarisierung ausgesetzt. Nun sehen wir diese Kinder in der russischen Armee.
Es gibt mehrere Kriegsgefangenenlager in der Ukraine mit russischen und ukrainischen Gefangenen. Wie ist die Lage dort?
Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz und Vertreter der UN haben dort Zugang. Sogar unabhängige russische Journalisten können sich diese Orte ansehen. Es gibt regelmäßige Berichte über die Behandlung, medizinische Versorgung und Probleme der Insassen. Dagegen haben in Russland und den russisch besetzten Gebieten internationale Organisationen keinen Zugang zu ukrainischen Kriegsgefangenen. Von freigekommenen Kriegsgefangenen wissen wir, dass sie gefoltert und sexuell missbraucht wurden und keine medizinische Behandlung erhielten. Die Menschen sehen aus wie Häftlinge aus den Konzentrationslagern der Nazis. Es sind dieselben Bilder von totaler Erschöpfung und Unmenschlichkeit.
Die EU könnte bald Beitrittsverhandlungen mit Kiew starten. Welche Hürden gibt es da noch?
Der Sieg für die Ukraine beinhaltet nicht nur das Hinauswerfen der russischen Truppen. Es bedeutet auch erfolgreiche demokratische Transition. Das ist schon in friedlichen Zeiten sehr schwierig. Auch Österreich brauchte dafür Jahrzehnte. Wir müssen das in einem laufenden Krieg tun. Das ist sehr schwierig. Denn Krieg und Demokratisierung sind zwei entgegengesetzte Prozesse: Krieg benötigt Zentralisierung, Demokratisierung braucht Dezentralisierung. Krieg benötigt die legale Begrenzung von Freiheiten, z. B. aus Sicherheitsgründen: In der Ukraine gibt es eine Ausgangssperre, die unsere Bewegungsfreiheit einschränkt. Demokratisierung verlangt das Gegenteil: eine Vergrößerung der Freiheiten. Wir müssen eine schwierige Balance finden und Demokratisierung in einem existenzbedrohenden, genozidalen Krieg durchführen. Wir hoffen sehr auf das grüne Licht des Europäischen Rats. Es würde bedeuten, dass unsere ambitionierten Pläne Sinn ergeben.
Stimmen Sie die populistischen Wahlsiege in Europa nachdenklich?
Ja, denn sie könnten sich auf die EUAußenpolitik auswirken. Als Menschenrechtsaktivistin beunruhigt mich, dass die junge Generation in den entwickelten Demokratien vergisst, was Freiheit bedeutet. Die Menschen sind zu Konsumenten von Demokratie geworden. Sie haben das System von ihren Eltern geerbt. Sie mussten nie dafür kämpfen, kein Blut opfern für Redefreiheit. Deshalb können sie so schnell ihre Freiheiten für wirtschaftliche Vorteile, populistische Slogans oder die Illusion von Sicherheit eintauschen. Freiheit ist sehr fragil. Es ist naiv zu glauben, dass das liberale System einfach so auf Jahrhunderte bestehen bleibt. Wir stehen jeden Tag vor einer Wahl.
Zuletzt mehrten sich Berichte über Spannungen zwischen dem ukrainischen Präsidenten und der Militärführung. Hat die ukrainische Regierung Angst vor der Rückkehr der politischen Kontroverse?
Manche Themen werden einfach aufgeblasen! Es ist okay, verschiedene Meinungen zu wichtigen Themen zu haben. Wir müssen die Chance haben, Ideen zu kritisieren und das stärkste Argument zu finden. Denn wir müssen siegen. So funktionieren Demokratien. Diskussionen sind unsere Stärke. In Russland führt man keine Debatten.
Was bedeutet die neue Kriegsphase für die Orientierung der Politik?
Zu Beginn lag die Aufmerksamkeit der politischen Führung im Ausland, um Waffen zu erhalten und Sanktionen in Gang zu setzen. Der Präsident sprach zu vielen Parlamenten weltweit, auch in Österreich. Man investierte viel Zeit in diese Prozesse. Nun sind wir in einer neuen Phase: Russland stellt sich auf einen langen Krieg ein. Die Ukraine muss einen Weg finden, wie sie weniger abhängig wird von internationaler Hilfe. Wir müssen unsere Wirtschaft wiederaufbauen, kreative Lösungen finden. Der Fokus wird sich von externen auf interne Themen verlagern.