Die rufen doch um Hilfe, oder?!
Schreien macht sechs Grad kaltes Wasser zwar nicht wärmer, erleichtert das Eintauchen aber doch: Eisbaden, das Passanten vor ein paar Jahren noch die Rettung rufen ließ, ist mittlerweile ein Trend.
Manchmal ist es für Außenstehende unmöglich, Leid von Lust zu unterscheiden. Erst recht, wenn sich die Außen- , in dem Fall: Am-Rand-Stehenden fragen, ob die Drinnen-Stehenden noch bei Trost sind: Menschen, die bei zwei Grad Kälte und starkem, böigem (Eis-)Wind bis zum Kinn im Wasser stehen, können unmöglich jubeln. Die rufen doch um Hilfe, oder?
Oder. Eindeutig oder. Wobei viele Außenstehende das ohnehin schon begriffen haben. Denn was Spaziergänger noch vor drei Jahren den Notruf wählen ließ, ist längst fast mehrheitsfähig. Oder zumindest Trend: Eisbaden nämlich.
Der winterliche Gang ins eiskalte Nass findet heute in so gut wie allen Gewässern statt. Einzeln, aber auch in 30köpfigen Gruppen wird mit Todesverachtung erst gewatet – und dann gewartet: Wie lang dauert es, bis Panik- und Schnappatmung einsetzen? Wann schreit alles in Kopf und Körper „Hol mich hier raus!“? Nach zehn Sekunden? Oder doch zwei Minuten? Es geht aber um mehr: Wie weit komme ich? Bis zum Knie? Zum Nabel? Zum Kinn? Schaffe ich es unterzutauchen?
Gruppendruck hilft. Eines ist aber klar: Schreien hilft. Fluchen auch. Und Gruppe. Weil das „Wenn die das können, schaffe ich es auch“das Verlassen der Komfortzone erleichtert. Die Gruppe – eventuell sogar Hand in Hand in einer Reihe – macht das Wasser natürlich nicht wärmer. Aber das nervöse Lachen, das gegenseitige Anfeuern hilft, doch noch einen Schritt weiter reinzugehen. So wie das gemeinsame FassungslosSein, wenn man spürt, dass dem Alarmunglaubliche Triumphgefühle folgen: Wow! Dann taucht wer unter – und wieder auf. Grinsend. Dieses Strahlen kann man nicht kaufen. Soll ich? Nein, zu kalt! Doch. Nein. Doch. – Dann: Doppel-Wow. Sogar Triple! Hab ich das gerade wirklich getan? Bin ich tatsächlich in 6,1 Grad kaltem Wasser untergetaucht? Freiwillig?
Das Danach, sagen die, die einmal drin waren, ist „der Hammer“. Unbeschreiblich. Medizinisch-physiologisch natürlich schon – aber subjektiv-emotional? „Ich habe meinem Körper bewiesen, dass wir – er und ich – das können. Dass wir dabei nicht sterben“, versucht die Frau mit der grauen Mütze zusammenzufassen, was ihr „mental gerade einen Mega-Kick“gab: mit einem Dutzend anderer ging Sabine G. letzten Sonntag in der Strombucht an der Unteren Alten Donau ins Wasser. Für die gebürtige Kärntnerin hier das zweite, insgesamt erst das vierte Mal. Dementsprechend gefeiert wurde sie von den teils langjährig aktiven Strombuchtpiraten – zu zwei Dritteln übrigens Piratinnen. Der Endorphinkick, sagt G., entspräche dem beim (absichtlichen) Sprung ins Kletterseil: „Das schaffst du nur aus einem einzigen Grund: Weil du es wirklich willst.“Schmunzelnd ergänzt sie, wie ihr Wunsch entstand: „Mein Freund springt überall rein. Irgendwann wurde es zu fad, nur zuzuschauen. Aber vor allem: zu kalt.“
Nur für Gesunde gesund. So funktionieren Trends: Nur zuzuschauen, wenn Österreichs legendärer Eisschwimm-Großmeister Josef Köberl medientauglich in Gletscher- und Gebirgsseen PlantschSeminare abhält, wird bald fad. Erst recht dann, wenn man überall auf Gruppen wie die Strombuchtpiraten trifft. Egal, ob sie einfach so oder nach den Methoden von Eisbade-Guru Wim Hof ins Wasser gehen: Eisbaden, das beweist der Blick in die Runde, ist eher kein Extremsport: Wer will, der – oder die – kann. Und gesund ist es obendrein.
Wobei das so nicht ganz stimmt. Der Arzt Robert Fritz von der Wiener Sportordination betont eindringlich, dass die gern zitierte Stärkung des Immunsystems erst bei regelmäßigem Eisbaden („Zuerst kommt es zu einer Schwächung“) eintritt. Und der infolge des Kaltwassergangs besseren Blutzirkulation, Bindegewebsversorgung und Regenerationsfähigkeit stehe ein großes Aber gegenüber: Eisbaden ist nur für Gesunde gesund. Bei Übergewicht, Blutdruck- oder Kreislaufproblemen, bei Gefäßerkrankungen oder bei Diabetes etwa warnt der Arzt ausdrücklich vor nassforschem Plantschen. Und die nicht umzubringende These, dass Eiswasser Infekte – sogar Covid – „wegspült“, ist falsch, dumm und „sogar gefährlich“.
Wettkämpfe im Donau-Altarm. Sportmediziner Robert Fritz selbst ist „kein großer Fan dieses Trends“. Vielleicht, weil auch im Kalten gilt, was beim Gang ins Wasser in Österreich ständig geschieht: „Baden“wird mit „Schwimmen“, also Sport, gleichgesetzt. Letzteres geht im Eiswasser natürlich auch. Es gibt sogar Wettkämpfe – etwa im Donau-Altarm bei Greifenstein. Und obwohl auch dabei Selbstüberwindung davor und Endorphin-Rausch danach zentrale Rollen spielen, ist das eine andere Geschichte.