Die Welt ist ein Zirkus
Bratwurstgrillende Griesgrame, imaginäre rechnende Schweine, wandernde Zelte: Simon Sailer lässt in seinem kafkaesken Zirkusroman »Manege« einen Straßenkünstler gegen Wände rennen.
Auf den ersten Blick kommt er leichtfüßig daher, dieser Roman mit dem Titel „Manege“und einem bunten Cover, das geradewegs ins Zirkusmetier führt. Folgerichtig beginnt es mit einem Kunststück. Art, von Beruf Straßenkünstler, legt sich eine Zwangsjacke an, laut seiner Aussage die Beste auf dem Markt. Beim Publikum löst das gemischte Gefühle aus. Wäre es nicht logischer, auch befriedigender, wenn er sich daraus befreien würde? Ein Rüpel schnürt ihm die Riemen fester und erst ein vorbeistreunender Teenager befreit ihn. Nur einer Zuseherin scheint die Nummer gefallen zu haben. Sie heißt Zozo und ist Scout für einen großen Zirkus vor den Toren der Stadt. Dorthin folgt ihr Art, anfangs zweifelnd, doch bald recht enthusiastisch und schließlich davon überzeugt, dass seine Bestimmung nur die Manege sein kann.
So weit, so gut. Doch als Art nach einem ermüdenden Fußweg am weitläufigen Zirkusgelände angekommen ist, landet er in einer Art Vorhof, einem Lager, in dem ein bratwurstgrillender Griesgram namens Frank das Sagen hat und die Zirkusanwärter recht willkürlich aussortiert. Was die Wartezeit für das Vorsprechen bringen wird, bleibt ungewiss. Freilich ist die Gesellschaft dort nicht uninteressant: eine Akrobatin, eine Häkelkünstlerin, ein Glasesser, ein Gepiercter, der sich Nadeln durch den Körper treibt und wieder herauszieht „wie Zahnstocher aus einer Rindsroulade“. Dieser unterschwellige Humor wird bald zum Horror, denn die meisten harren schon Monate in einem Zirkuswagen aus, kochen Pilzsuppe und schlafen im Sitzen. Nach und nach kommt der Verdacht, dass Art nicht so schnell in der Manege landen wird und wir Lesende uns in einer mysteriösen Umgebung befinden.
Widerstände. Der Wiener Simon Sailer legt seit 2019 jedes Jahr ein Buch vor. Vor allem die Erzählungen „Die Schrift“(2020), „Das Salzfass“(2021) und „Der Schrank“(2022) spielen konsequent mit schaurigen, surrealen Kulissen, aufgeladenen Gegenständen, rätselhaften Verwicklungen und Außenseiterfiguren, wie ein Ägyptologe, eine Möbelpackerin oder ein Antiquitätenhändler. Für „Manege“hat sich der 1984 geborene Autor nun mehr Platz, also Romanlänge, eingeräumt, und das ermöglicht uns, den Lesern, die Lage seines Protagonisten nachzuvollziehen – mit ins Nichts führenden Dialogen gestrandeter Existenzen, die resigniert haben, oder das machen, von dem es heißt, es werde erwartet: Gehorsam zeigen.
Doch Art wird ungeduldig. Nach einer Konfrontation mit Frank landet er bei der Reiterin Moni, die freundlicher wirkt, seinen Ehrgeiz trotzdem verlacht, „. . . und das Pferd wieherte mit, als hätte es den Witz verstanden“. Immerhin bringt sie ihn zu Dompteur Edgar. Art soll den Stall ausmisten. Allein, die Tiere, das rechnende Schwein Schwingo Star, Flusspferddame Rosinante, Marder Hermine, existieren nur in Edgars Vorstellung. Sei’s drum, Art spielt diesmal mit – ist der Zirkus nicht auch ein Ort der Imagination? In der gegenwärtigen Literatur ist er kein häufig verwendetes Motiv mehr, im Gegensatz zu Zirkusromanen des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch Kafka beschäftigte die Schaustellerei, vor allem deren Niedergang, wie in der Erzählung „Ein Hungerkünstler“. Doch Sailers Roman weist starke Parallelen mit einem anderen seiner Werke auf. Wie für Kafkas Protagonisten K in „Das Schloss“wird auch für Art das Zirkusgelände unüberschaubarer, werden die Bewohner immer unterwürfiger. Das Zelt weicht gar zurück, als er sich darauf zubewegt.
Fesselungskünstler. Man könnte „Manege“aber auch als Parabel auf die Migrationspolitik lesen. Die schlammigen Böden, die provisorischen Unterkünfte, die prekäre Lebenssituation der Zirkuswerber, die Willkür der Entscheidungsträger lässt an die Situation von Asylwerbern denken.
Verrennt sich Art gar, ist er zu beharrlich dabei, als „Fesselungskünstler“zu reüssieren? Kann er je gegen die Widerstände ankommen? Sailer liefert großartige Literatur, in der jede Wendung unerwartet kommt.