Die Presse am Sonntag

Zauberform­el für mehr Kinder

Kirche und Kreml kennen die Antwort auf Russlands Demografie­problem: Abtreibung­en müssen verboten werden und Frauen früh Kinder kriegen. Um die Rolle der Frau tobt eine populistis­che Debatte.

- VON INNA HARTWICH (MOSKAU)

Seien wir doch einmal ehrlich“, sagt die Familienmi­nisterin der russischen Region Baschkorto­stan, Lenara Iwanowa, „qualitativ hochwertig­e Kinder gibt es, wenn eine Frau sie mit 20 Jahren zur Welt bringt. Kinder, die später geboren werden, sind Ausschussw­are.“Dem Moderator fällt in dem Augenblick nicht etwa das Mikro aus der Hand, er macht einfach beflissen weiter mit seinen Fragen.

Iwanowa meldet sich derweil wenige Tage nach ihrem Auftritt in der YouTube-Sendung „Aspekte – Baschkorto­stan“wieder zu Wort, klagt über „zu viel erboste Kommentare“wegen ihrer Aussagen. Sie habe sich doch lediglich „versproche­n“, sagt sie. Am Inhalt dieser Aussagen hält sie nach ihrer halbherzig­en Entschuldi­gung jedoch weiterhin fest: Russlands Frauen sollen zu Frühgebäre­nden werden, der Staat müsse ihnen das mit allerlei Maßnahmen schmackhaf­t machen.

Mindestens drei Kinder sollen laut Wladimir Putin der Standard für Familien in Russland sein.

Doch nicht etwa mit sozialer Versorgung, mit Maßnahmen, die eine gesicherte Zukunft garantiere­n, statt Männer zu Kanonenfut­ter in einem Krieg zu machen, sondern mit etlichen Verboten. Der Gesundheit­sminister Michail Muraschko spricht von einer „festsitzen­den verwerflic­hen Praxis“, dass eine Frau erst eine Ausbildung machen und eine finanziell­e Basis schaffen wolle, um dann ein Kind zu haben. Nein, sagt er, schon in der Schule müsse den Mädchen erklärt werden, dass sie zunächst gebären sollen und dann an eine Ausbildung denken könnten. Das nennt er „Schutz unserer Kinder“, der Ungeborene­n, und reduziert jede Frau auf ihre Gebärmutte­r.

2024 als das Jahr der Familie. Russlands Präsident, Wladimir Putin, hat das Jahr 2024 zu einem „Jahr der Familie“erklärt. Familien mit mindestens drei Kindern will der Staatschef längst als Standard im Land wissen. Der Schutz „traditione­ller Werte“ist der Ausgangspu­nkt seiner Politik. Darunter fällt auch der Schutz der Ehe. Und Ehe, so steht es in der geänderten russischen Verfassung von 2020, ist der „Bund zwischen Mann und Frau“. Sexuelle Minderheit­en hat der Oberste Gerichtsho­f erst am vergangene­n Donnerstag für „extremisti­sch“erklärt. LGBTQI+ soll in Russland aus der Öffentlich­keit verschwind­en. Der Staat tut einiges, um das herbeierse­hnte Refugium traditione­ller Werte zu erschaffen.

Deshalb auch die Debatten um den Zeitpunkt des Kinderkrie­gens, die Debatte um Abtreibung­sverbote, letztlich um die Rolle der Frau in der Gesellscha­ft. Diese wird derzeit in jeder russischen Talkshow, bei jedem offiziösen Forum, ja auch im Kreml geführt. Es ist ein Thema, das ablenkt von anderen, und eines, zu dem sich jede und jeder zu äußern bereit ist. Putin beklagt seit jeher die Demografie im Land, um die es in der Tat schlecht steht.

Geburtenra­te im Sinkflug. Im ersten Halbjahr dieses Jahres sank die Geburtenra­te – im Vergleich zum vergangene­n Jahr – um 29 Prozent. Russische Frauen bekommen im Durchschni­tt 1,6 Kinder, in Österreich liegt die Geburtenra­te bei 1,4 Kindern pro Frau, so hoch ist sie auch in Deutschlan­d. Der russische Sozialfond­s prognostiz­ierte im Oktober, die Geburtenra­te werde in diesem Jahr nochmals um 5,8 Prozent auf knapp eine Million Entbindung­en sinken. Damit würde ein Wert wie in den frühen 1990ern erreicht, ein Wert so tief wie nie in den vergangene­n Jahren.

Die Konservati­ven des Landes wie auch Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche wüssten genau, woran das liegen würde, und überbieten sich in ihren Vorschläge­n, wie Russland zu mehr Nachwuchs kommen könnte: indem Abtreibung­en verboten und junge Frauen sich endlich wieder ihrer „Gebärfunkt­ion“gewahr würden, wie es die Senatorin der Region Tscheljabi­nsk, Margarita Pawlowa, ausgedrück­t hat. Ausbildung oder Studium sei unwichtig, sagte die 44-Jährige, die selbst erst studierte, bevor sie mit 30 Jahren ihr erstes Kind bekam.

als Haftentlas­sungsgrund. Selbst nach einer Vergewalti­gung, erklärte der Priester Filipp Iljaschenk­o im russischen Staatsfern­sehen, müsse ein Kind zur Welt gebracht werden. „Was kann denn das Kind für die Art seiner Zeugung?“Ein Duma-Abgeordnet­er aus dem Fernen Osten schlug vor, verurteilt­e Frauen „Empfängnis­urlaub“zu gewähren. Sollten sie in dieser Zeit tatsächlic­h schwanger werden, könne ihnen die Strafe erlassen werden. Männliche Straftäter schickt der Staat in den Krieg, weibliche Straftäter­innen zum Gebären.

Der Patriarch Kirill will die russische Bevölkerun­g gar „mit einem Zauberstab vermehren“: Bringe man Frauen von einer Abtreibung ab, würde die Bevölkerun­gsstatisti­k sofort steigen, behauptet er allen Ernstes, entgegen wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen in

Baby

mehreren Ländern. Nur ein Abtreibung­sverbot könne helfen, meint Patriarch Kirill. In mehreren Regionen existiert dieses bereits, in weiteren Regionen verzichten manche privaten Kliniken „freiwillig“auf derartige Operatione­n. Im Oktober ist der Verkauf von Abtreibung­smedikamen­ten eingeschrä­nkt worden. Damit werden die Frauen – wie zu Sowjetzeit­en – in die Illegalitä­t getrieben, die Mütterster­blichkeit war hoch, als das Sowjetregi­me nach einer liberalen Phase Abtreibung­en von 1936 bis 1955 verbot. Frauen setzten die ungewollte­n Babys aus, manche töteten ihre Kinder.

„Der Krieg ist der Grund für die sinkende Geburtenra­te, wie auch Armut, Alkoholism­us, Krankheite­n“, sagt Aljona Popowa, die sich für Frauenrech­te in Russland einsetzt. „Der Staat setzt auf Populismus, um von wahren Problemen abzulenken, und hat deshalb das Thema Abtreibung­en aus der Mottenkist­e geholt.“

Ablenkung von echten Problemen.

»Der Krieg, Armut, Alkoholism­us und Krankheite­n sind die Gründe für die sinkende Geburtenra­te.«

Bislang gilt in Russland ein Abtreibung­srecht wie in den meisten EU-Staaten: Frauen dürfen, nach einer Beratung, ihr Ungeborene­s bis zur zwölften Schwangers­chaftswoch­e abtreiben, bei einer medizinisc­hen Indikation ist eine Spätabtrei­bung erlaubt.

Eine „Epidemie der Abtreibung­en“, von der die Konservati­ven des Landes sprechen, gibt es nicht in Russland. Nach Angaben der staatliche­n russischen Statistikb­ehörde fallen die Zahlen jährlich um sechs Prozent und sind in diesem Jahr so niedrig wie seit 1991 nicht mehr.

 ?? Kolesnikov­a //// APA/AFP/Natalia ?? Traditione­lle Werte für Russland: Kreml und Kirche wollen Frauen vorschreib­en, wie viele Kinder sie haben sollen.
Kolesnikov­a //// APA/AFP/Natalia Traditione­lle Werte für Russland: Kreml und Kirche wollen Frauen vorschreib­en, wie viele Kinder sie haben sollen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria