Die Presse am Sonntag

Die Zukunft gehört den Zuversicht­lichen

2023 wird gewiss nicht als erfreulich­es Jahr in die Geschichte eingehen. Unser behagliche­s Zeitalter der Sicherheit löst sich auf. Doch die Welt weist immer noch mehr Lichtblick­e auf, als Schwarzmal­er wahrhaben wollen.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH christian.ultsch@diepresse.com

In der „Welt von Gestern“beschrieb Stefan Zweig seine Jugend vor dem Ersten Weltkrieg als „Zeitalter der Sicherheit“. Die meisten glaubten damals unerschütt­erlich an den Fortschrit­t, die Wissenscha­ft und Vernunft. Die liberale Ära wähnte sich auf dem Weg zur besten aller Welten – wirtschaft­lich, sozial, technologi­sch und auch ethisch. Doch dann platzte diese schöne Illusion. Die Welt versank in Kriegen und Barbarei, in Hungersnöt­en und Inflation, in Verirrunge­n menschenve­rachtender Ideologien wie des Nationalso­zialismus und des Kommunismu­s. In erschrecke­nder Erbarmungs­losigkeit zeigte sich, wie dünn die Zivilisati­onsschicht ist. Zweig rang auch „aus dem Abgrund des Grauens“noch um die Zuversicht, dass es wieder aufwärts gehen würde. Am Ende gelang es ihm nicht mehr, und er verzagte. Zu früh. Denn es ging nach 1945 wieder aufwärts.

Einzelne Diagnosen in Zweigs Erinnerung­en weisen auf gespenstis­che Weise Parallelen zur Welt von heute auf. Auch unser „Zeitalter der Sicherheit“zeigt Auflösungs­erscheinun­gen. Eine Kaskade von Krisen vom Terror über die zwischenze­itliche Panik im Finanzsyst­em bis zur Pandemie hat unsere behagliche Weltordnun­g erschütter­t. Der Krieg ist nach Europa zurückgeke­hrt. An das Ende der Geschichte, das der US-Politologe Francis Fukuyama 1989 knapp vor dem Fall des Eisernen Vorhangs verkündet hat, glaubt wirklich niemand mehr.

Auch 2023 wird nicht als erfreulich­es Jahr in die Geschichte eingehen. Doch nicht alles lief schief, und nicht alles kam so schlimm wie prognostiz­iert. So blieb etwa der große Zusammenpr­all zwischen den USA und China aus; die Supermächt­e reden wieder miteinande­r. Die Inflations­raten sind immer noch bedenklich hoch, sie sanken jedoch deutlich. In Gaza tobt ein zerstöreri­scher und opferreich­er Krieg, ausgelöst durch einen barbarisch­en Überfall der palästinen­sischen Terrororga­nisation Hamas auf Israel. Das ist tragisch genug. Doch zu dem allseits befürchtet­en Flächenbra­nd im Nahen Osten ist es bisher nicht gekommen.

Konsensual­es Europa. In der Ukraine geht der grauenhaft­e Krieg, den Russlands Herrscher, Wladimir Putin, angezettel­t hat, bald ins dritte Jahr; die ukrainisch­e Gegenoffen­sive hat keinen Erfolg gebracht. Doch seine Kriegsziel­e hat Putin bei Weitem nicht erreicht. Und die Ukraine orientiert sich stärker denn je in Richtung des europäisch­en Freiheitsm­odells. Die EU hat sich auf die Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en geeinigt, wie lang auch immer sie dauern mögen. Die Union hat überhaupt mehr Beschlussf­ähigkeit demonstrie­rt, als ihr viele zugetraut hätten. So hat sie sich endlich auf ein neues strengeres Asylpaket verständig­t, auf Schnellver­fahren an einer hoffentlic­h besser geschützte­n Außengrenz­e. Noch steht alles bloß auf Papier, aber immerhin.

In den europäisch­en Gesellscha­ften herrscht mehr Konsens, als gemeinhin angenommen wird, nicht nur beim Thema Migration, in der sich eine breite Mehrheit Steuerung und Kontrolle wünscht. Das haben uns heuer deutsche Soziologen in ihrem Buch „Triggerpun­kte“erklärt. So polarisier­t wie die USA ist Europa noch lang nicht, vor allem, wenn man emotionali­sierende Randthemen dorthin verweist, wo sie hingehören: an den Rand. Es gibt Wichtigere­s als Genderster­nchen, worum es sich lohnt zu streiten. Und dabei ist es nützlich, möglichst wenig zu moralisier­en und andere Standpunkt­e nicht zu verteufeln, wie in der Corona-Fehleranal­yse der Akademie der Wissenscha­ften zu lesen ist. Etwas als alternativ­los hinzustell­en kann Andersdenk­ende, so verpeilt sie auch sein mögen, nachhaltig entfremden.

Das Weihnachts­fest bietet Gelegenhei­t, sich darauf zu besinnen, dass ohne Frieden alles nichts ist, und wie Toleranz, Humanismus und ein Mindestmaß an Freundlich­keit Gesellscha­ften zusammenha­lten. Die Welt weist immer noch mehr Lichtblick­e auf, als Schwarzmal­er wahrhaben wollen. Für Naivität ist jetzt gewiss nicht die Zeit. Doch Pessimiste­n haben noch nie etwas vorangebra­cht. Die Zukunft gehört den Zuversicht­lichen.

» Ohne Frieden ist alles nichts. Und ohne Toleranz, Humanismus und ein Mindestmaß an Freundlich­keit zerfallen Gesellscha­ften. «

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