Mit himmlischen Kräften gegen das System
Seit gut einem Monat ist der umstrittene argentinische Präsident Javier Milei im Amt. Wie steht es um seine radikalen Reformpläne? Und warum formiert sich nicht nur innenpolitischer Widerstand gegen Milei, sondern auch in China?
Javier Milei glaubt, er habe Grund zum Feiern. Eine „Superzahl“seien diese 25,5 Prozent, die das Nationale Statistikamt Indec am Donnerstag bekannt gab. „Wenn mir jemand vor einem Monat prophezeit hätte, dass die Preise im Dezember nur um 25,5 Prozent ansteigen werden, dann hätte ich das sofort unterschrieben“, habe Milei gejubelt, so erfuhr das Massenblatt „Clarín“aus dem engen Machtzirkel des Präsidenten. Milei, der bis zu 45 Prozent befürchtet hatte, gratulierte seinem Finanzminister, Luis Caputo, zu dessen harter Strategie, den Peso um 51 Prozent abzuwerten und die Benzinpreise freizugeben, ohne neues Geld zu drucken.
Aber tatsächlich bedeuten die 25,5 Prozent Zunahme den steilsten monatlichen Preisanstieg seit 1991. Dadurch summierte sich die Teuerung für ganz 2023 auf 211 Prozent, das ist Kontinentalrekord, noch vor dem chronisch siechen Venezuela.
Milei versichert, die Verantwortung dafür trügen allein die linkspopulistischen Vorgänger. Deren Kandidat, Sergio Massa, hatte in seinem Wahlkampf 15 Milliarden Dollar unter das Volk gebracht, finanziert mit der Notenpresse. Er strich die Einkommenssteuer für Gutverdienende. Und deckelte die Preise für Energie, Telekommunikation, private Krankenversicherungen, Privatschulen sowie für Tausende Produkte in Supermarktregalen, um Stabilität vorzugaukeln. Doch die hatte ein Ablaufdatum: den 21. November. Zwei Tage nach der Wahl explodierten die Preise.
Das wissen die Argentinier. Mehr als 14 Millionen haben Milei ihre Stimme gegeben, obwohl dieser deutlich gesagt hat, dass ein Kurswechsel zunächst arg wehtun werde. Aber er hat auch versprochen, dass nicht die Bürger die Hauptlast stemmen müssten, sondern „la casta“. Also jene parasitäre Spezies, die sich in der seit den 1930er-Jahren vom Weltgeschehen abgewandten argentinischen Wirtschaft eingenistet hat. Verbände, Politiker, Bünde, Gewerkschaften, Unternehmer, Anwälte, Lobbyisten. Die Abläufe verzögern, bürokratische Hindernisse errichten und Institutionen am Leben halten, welche allein existieren, um deren Nutznießer zu bezahlen.
Einschnitte überall.
Als Milei am 10. Dezember sein Amt übernahm, sprach er nicht wie üblich im gediegenen Halbrund des kuppelgekrönten Kongressgebäudes, sondern auf den Stiegen davor. Er versprach seinem Volk einen historischen Wandel, der Argentinien zu seiner einstigen Größe zurückführen würde. Und er sagte den Satz, der er zum Motto machte: „Es ist kein Geld mehr da.“
Darum muss Minister Caputo sparen. Um insgesamt fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts will der einstige Investmentbanker das Budget entlasten. Ausgabenkürzungen, Subventionsstreichungen und der Stopp des öffentlichen Bauwesens sollen drei Fünftel beisteuern. Höhere Steuern den Rest.
Zudem verkündete Caputo die Abwertung des Peso um 51 Prozent, was die Differenz zwischen offiziellem und den diversen parallelen Dollar-Kursen deutlich verkleinerte. Sollte sich diese Bresche wieder öffnen, könnte eine zweite Abwertungsrunde erforderlich werden. Die Zahlen für die DezemberInflation und der jüngste Zuspruch vom Internationalen Währungsfonds wecken Hoffnung. Aber die hängt an mehreren seidenen Fäden. Und am rätselhaften Wesen des Javier Gerardo Milei. Dieser ist vorige Woche in die Präsidialresidenz im Vorort Olivos eingezogen und hat sich dort eingerichtet, mitsamt seiner Schwester Karina, die er mit „der Chef “tituliert. Karina Milei, die ihrem Bruder immer den Rücken freihält, fungiert auch ganz offiziell als Generalsekretärin seiner Regierung. Milei hat nun angekündigt, dass er allein mittwochs und donnerstags in den Regierungspalast kommen und den Rest der Zeit in der Residenz regieren wolle. Er will sich offenbar absetzen von den Zwängen des politischen Tagwerks.
In seiner Antrittsrede vor dem Kongress hatte er Bezug genommen auf einen Satz aus dem Buch der Makkabäer: „In einer Schlacht hängt der Sieg nicht von der Zahl der Soldaten ab, sondern von den Kräften des Himmels.“Aber inzwischen muss er sich wohl eingestehen, dass seine vor zwei Jahren gegründete libertäre Partei la Libertad Avanza (LLA) die Unterstützung irdischer Parlamentarier braucht, um den Reformideen Gesetzeskraft zu verleihen.
Rund um Weihnachten brachte Milei mehr als 1000 Regeländerungen auf dem Weg. Etwa 360 davon in Form eines einzigen Notfalldekrets. Solcherlei Gesetzgebung war von den Vätern der Verfassung festgelegt worden, damit Staatschefs auf akute Krisen reagieren können. Naturkatastrophen etwa oder Pandemien. Aber ein Mega-Dekret, in dem die Aufhebung des Mieterschutzes oder ein neues Kündigungsrecht ebenso vertreten sind wie der Wandel von Sportvereinen in Aktiengesellschaften, hat es noch nie gegeben. Dagegen wetterten Verfassungsrechtler jeglicher Couleur. Und in den meisten Parlamentsparteien gab es Widerstände. Kritiklos folgten nur die Parlamentarier von Mileis LLA. Aber die besetzt nicht mehr als 15 Prozent der Sitze im Kongress und zehn Prozent im Senat.
Kampf gegen „la casta“. Eine „Katastrophe biblischen Ausmaßes“stünde dem Land bevor, sollten die Abgeordneten ihm nicht mehrheitlich folgen, warnte Milei in seiner Silvesteransprache. Dabei bezog er sich auf das Notfalldekret wie auf das „Gesetz über Grundlagen und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier“, das nicht weniger als 664 Neuregelungen beinhaltet. Es modifiziert Hunderte Gesetze und Vorgaben in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen,
Steuern, Soziales, Sicherheit, Verteidigung, Nahverkehr, Energie und Gesundheit. Und es beinhaltet eine weitreichende Wahlreform, die das angelsächsische Wahlsystem nach Wahlkreisen einführt, tiefgreifende Steueränderungen sowie eine Steueramnestie für Schwarzgeldkonten. Außerdem soll das Demonstrationsrecht erheblich verschärft werden.
Weitere Elemente sind die „ExpressScheidung“, die Zigtausenden Anwälten wohlfeile Honorare abspenstig machen wird, oder die Befreiung von Reisemitbringseln von der Abgabenpflicht, was die gierigen Schmiergeldjäger vom Zoll brüskieren wird. Ausländische Studenten sollen künftig bezahlen und nicht mehr gratis ausgebildet nach der Sponsion flugs entschwinden. Vor allem nehmen die Gesetzesänderungen Hunderte von Sonderregelungen, berufsständische Vorschriften, Protektionsmechanismen, Kontrollen, Gebühren und Ausnahmen aufs Korn, die vor allem jenen zugute kommen, die Milei als „casta“brandmarkt.
Und die wird sich wehren. Die Gewerkschaften haben bereits vor Gericht eine eidesstattliche Verfügung gegen die Änderungen des Arbeitsrechts erwirkt, der Streit wird wohl zum obersten Gerichtshof gehen. Rechtliche Schritte könnten viele Branchen ergreifen. Es beschweren sich unter anderem Ärzte, Fischer, Künstler und Apotheker.
Klagen können Zeit kosten, Widerstände im Parlament auch. Aber je mehr Zeit verstreicht, desto ungeduldiger werden die Bürger. Und desto größer wird die Gefahr eines Scheiterns.
Zunächst hat es Milei mit Druck versucht. In Interviews behauptete er, dass Abgeordnete mittels Schmiergeld überzeugt werden wollen. Wochenlang versicherten der Präsident und sein Sprecher, dass sie auf keinen Beistrich verzichten würden. Doch zuletzt gab es Anzeichen für ein Einlenken. Aber alles, was die Sanierung und den Fiskus betreffe, sei unumstößlich.
Offenbar hat Milei Denkhilfe bekommen. Am Donnerstag sagte die Sprecherin des Internationalen Währungsfonds,
Julie Kozack: „Wir hoffen, dass die Behörden weiterhin politische Unterstützung für die Verabschiedung wichtiger Aspekte dieser Gesetze gewinnen werden.“Ähnliches hat auch der US-Botschafter ausrichten lassen.
Wenn die Mittelklasse erkennt, dass sie selbst die Zeche zahlen muss, wird es ungemütlich.
Nach einer Schonfrist von 100 Tagen könnte die Pampa brennen – Generalstreiks stehen an.
Peking zürnt. Mit den USA darf es sich Milei nicht verderben, nachdem er das nachhaltig mit China vollbracht hat. Außenministerin Diana Mondino lehnte vor zwei Wochen die Einladung zum Beitritt in das von Peking orchestrierte Brics-Bündnis ab, und nun zürnt Peking über Mileis Nähe zu Taiwan. Linke Medien berichten, Peking habe einen Boykott von Soja- und Fleischimporten angedroht sowie verlangt, dass Argentinien den Swap-Kredit zurückzahlt. Sicher ist, dass Argentinien weder die fünf Milliarden Dollar für China aufbringen kann noch jene 16 Milliarden Dollar, die von der New Yorker Richterin Loretta Preska einem Hedge-Fonds zugesprochen wurden. Dabei geht es um Rechtsverstöße der Kirchner-Regierung bei der Rückverstaatlichung der Öl- und Gaskompanie YPF 2013.
Dieses Urteil ist nur eine der schweren Wolken, die Mileis Himmelskräfte verjagen müssen. Für den 24. Jänner haben die Gewerkschaften zum ersten Generalstreik ausgerufen, nachdem sie vier Jahren kollektiver Verarmung unter Mileis Vorgängern protestlos zugesehen haben.
Und die größte Gefahr lauert im Supermarkt. Wenn selbst Teigwaren und Packerlsuppen unbezahlbar werden, wenn die Mieten explodieren, private Krankenkassen und Schulen nicht mehr finanziert werden können. Und wenn die Mittelklasse zu befürchten beginnt, dass nicht die „casta“, sondern sie selbst die Rechnung zahlen muss für einen Staatsumbau, der, wie im Nachbarland Chile, die Superreichen in Hyperreiche und den Rest in bescheidene und ungeschützte Einzelkämpfer verwandeln wird. Dann könnte Mileis Mission in Gefahr geraten.
Auf diesen Moment wartet Cristina Kirchner. Die Ex-Präsidentin und ihr politisch einflussreicher Sohn Maximo haben ihrem Anhang befohlen, Milei 100 Tage zu geben. Nicht aus Verständnis für die Bedürfnisse des Präsidenten. Sondern aus Spekulation auf dessen Nöte. Im März, wenn die Sommerferien zu Ende gehen, dann könnte die Pampa in Flammen geraten.