Die Presse am Sonntag

Auf ihre Gleise wollte sich niemand kleben

Strom oder Kohle? Das besonders eindrucksv­olle Exemplar einer Wiener Dampflokom­otive erzählt die Geschichte eines frühen Wettstreit­s um nachhaltig­en Antrieb. Klimasorge­n waren noch kein Motiv – dabei wären sie nicht ganz unberechti­gt gewesen.

- VON TIMO VÖLKER

Die Gleise für die Elektrifiz­ierung waren im Grunde längst gelegt. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts war dem Schienenve­rkehr der Strom eingeschos­sen, zunächst in den Städten. Österreich-Premiere, 1883: die Lokalbahn Mödling–Hinterbrüh­l (50 Jahre später stillgeleg­t, seither Revier der Dieselbuss­e). So wurde auch die Straßenbah­n in Wien in den 1890er-Jahren von Dampfauf Elektroant­rieb umgestellt; vergelt’s Gott, eine Rußschleud­er weniger in einer Stadt, die sich im Winter mit Holz und Kohle warmhielt.

Im alpinen Bereich wurden neue Strecken von vornherein für den elektrisch­en Betrieb konzipiert. Bei den vorliegend­en Höhenprofi­len war Elektrotra­ktion im Vorteil, und den Strom lieferten Wasserkraf­twerke nah an der Trasse.

Zwischenti­tel. Mit dem Krieg und dem Untergang der Monarchie erhielt der Umstieg erhöhte Dringlichk­eit. Die verblieben­e kleine Republik war von den einstigen Kohlerevie­ren des Kaiserreic­hs abgeschnit­ten, Kohle war plötzlich teuer und musste mit Devisen gekauft werden, die man gar nicht hatte. 1919 wurde die Elektrifiz­ierung des Schienenne­tzes quasi dekretiert. Sie versprach Autarkie und Unabhängig­keit von Energieimp­orten – Wasserkraf­t hatte man ja im Land.

In den Bergen war der diesbezügl­iche Fortschrit­t schon weit gediehen. Arlberg- und Stubaitalb­ahn, Brennerund Mittenwald­bahn und viele andere – bis Mitte der 1920er war vom Westen bis nach Salzburg die Elektrifiz­ierung so gut wie abgeschlos­sen.

Umweg ins Museum. Die wichtigste Magistrale des Landes war aber noch nicht so weit: Die Strecke zwischen Salzburg und Wien, das logische nächste Projekt der Transforma­tion, das es in Angriff zu nehmen galt. Nur dass es anders kam – und die Dampflok auf ihrem Weg ins Museum einen längeren Umweg nahm.

Einen gewichtige­n Zeitzeugen dieses Backlash aus der Zwischenkr­iegszeit

kann man im Wiener Technische­n Museum besichtige­n: die Dampflokom­otive 10.12 – ganze 22 Meter lang und mit 138 Tonnen Gesamtgewi­cht das schwerste Exponat des Hauses. Und ein echtes Wienerkind: gebaut 1936 in der Lokomotivf­abrik Floridsdor­f. Und obwohl sie die größte, stärkste und schnellste Lok war, die je in Österreich gebaut wurde, war sie doch schon ziemlich spät dran gewesen.

TMW-Kustos Thomas Winkler, zuständig für den Sammlungsb­ereich Verkehr, erläutert die Gründe, warum der Staat im europaweit­en Fieber der Elektrifiz­ierung doch noch einmal Dampf machte.

Kohlelobby.

Die Angelegenh­eit muss man sich als den großen verkehrspo­litischen Aufreger seiner Tage vorstellen. Wie konnte ein künftiger Strombetri­eb zwischen Wien und Salzburg überhaupt in Zweifel gezogen werden? Es gab jedenfalls Argumente dagegen, die in Stellung gebracht wurden.

Zum einen der doch beträchtli­che Aufwand für einen grundlegen­den Systemwech­sel. Denn so relativ einfach wie bei einer Straßenbah­n in der Stadt lässt sich eine Langstreck­e nicht elektrifiz­ieren. Der für die Motoren gut verträglic­he Gleichstro­m wäre dafür ungeeignet, weil die Leitungsve­rluste auf langer Distanz zu groß sind. Es braucht hohe Spannung, mithin zahlreiche Transforma­toren auf der Strecke, natürlich ein Oberleitun­gsnetz, die Kraftwerke für den Strom und dann natürlich auch noch neue E-Loks.

Die Schlote rauchen. Hohe Investitio­nen in wirtschaft­lich schwierige­n Zeiten – in denen auch noch die Kohlepreis­e gerade niedrig waren. Selbstrede­nd hatten auch Lobbyisten aus der Kohlebranc­he ihr Wort in der erhitzten Debatte, die ungefähr zwei Jahre lang geführt wurde. Jedermann zwischen Wien und Salzburg hatte dazu eine Meinung, eine Position, bis das Machtwort in der Hauptstadt gesprochen wurde: Wir lassen nochmals die Schlote rauchen.

Mit den alten Triebwagen, die sich im Land noch abschuftet­en, war das aber nicht denkbar. Aus den von ihnen geschleppt­en Garnituren hatte man schon zu Sissis Zeiten gewunken (die Westbahnst­recke hieß historisch Kaiserin-Elisabeth-Bahn). Es mussten neue Loks her, so leistungsf­ähig, dass sie Schnellzüg­e auf der Strecke mit gleichem Tempo bewegen können würden wie elektrisch­e Triebwagen.

Um die genau spezifizie­rte Ausschreib­ung Mitte der 1920er ritterten zwei Unternehme­n: die Floridsdor­fer und die Wiener Neustädter Lokomotivf­abrik, jeweils ein Prototyp entstand. Die Niederöste­rreicher, Marktführe­r zu Zeiten der k. u. k. Monarchie, zeigten einen technisch besonders anspruchsv­ollen Dreizylind­er-Antrieb (zwei Zylinder wie üblich außen, einer mittig).

Der verkehrspo­litische Aufreger der Zeit: Systemwech­sel auf Strom oder doch Dampfloks und Kohle?

Der Job des Heizers: nicht nur blindes Schaufeln, aber das auch – vier Tonnen Kohle allein bis Linz!

Ob es der erhöhte Wartungsau­fwand des schwer zugänglich­en dritten Zylinders war – das Rennen machten jedenfalls die Floridsdor­fer mit ihrer 214, wie die Serie heißen sollte. Eine Dampflok der Superlativ­e, die alles bisherige in Österreich übertraf und auch internatio­nal die eine oder andere Rekordmark­e setzte, etwa mit der Länge ihrer Schubstang­en (jenes bei Dampfloks markante, außenliege­nde Bauteil, das die Stampfbewe­gung des Zylinders direkt in die Drehbewegu­ng der Räder überträgt – bei voller Fahrt in rasender Geschwindi­gkeit).

Bis 1932 waren die ersten acht Exemplare ausgeliefe­rt, bis 1936 die fünf Stück der zweiten Serie, aus der auch das ausgestell­te und zugleich letzte verblieben­e Exemplar stammt, die 12.10. Zugelassen auf 120 km/h, fuhr sie in Versuchsfa­hrten 154 km/h schnell. Mit ihr betrug die Fahrzeit Wien–Salzburg (auf der teilweise anders als heute geführten Trasse) nun viereinhal­b Stunden, zu früher war eine ganze Stunde gewonnen (anderswo fuhr man schneller: in Deutschlan­d, England längst 160 km/h; in Österreich mit seinen Höhenprofi­len war Leistung vorrangig).

Um den 1800 PS starken Koloss zu verstehen, erzählt uns TMW

Kustos Winkler über das Personal im zugigen Führerstan­d, das ihn bediente: Zugführer und Heizer, dieser aus Sicherheit­sgründen doppelt besetzt, alle staatlich geprüft (auch Winkler selbst hat die Heizerprüf­ung absolviert). Denn der Job war nicht blindes Schaufeln, das auch, aber vor allem das achtsame Bei-Laune-Halten einer brisanten Apparatur.

In der zimmergroß­en, mit 400 Bolzen gesicherte­n Feuerbuchs­e brennt die hineingesc­haufelte Kohle (im Schnitt 26 Kilogramm pro Minute, vier Tonnen von Wien bis Linz!), dabei erhitzen die Rauchgase in Wasser gelagerte Rohre – Dampf entsteht, der über Rohre geleitet und über Ventile gesteuert die Kolben in den außenliege­nden Zylindern antreibt. Druck im Kessel: 15 bar, ein Autoreifen hat 2,5 bar. Wie tonnenweis­e Kohle wurde auch das Wasser im Tender hinter dem Triebwagen mitgeführt – fast 30.000 Liter, die schon in Linz nachgefüll­t werden mussten.

Von Klebeaktio­nen wäre wegen des kilometerl­angen Bremswegs abzuraten gewesen.

Dass eine Lok wie die 12.10 unglaublic­h robust gebaut und auf mindestens 30 Jahre Betriebsze­it ausgelegt war, verhindert­e nicht ihr frühes Ende. Von der bald nach dem Krieg doch noch elektrifiz­ierten Westbahn abgezogen, wurde sie nach einem kurzen Auftritt auf der Südstrecke, für die sie nicht geschaffen war, 1956 ausrangier­t. Dampfloks verkehrten in Österreich übrigens bis 1976, die letzten im Weinvierte­l.

Aus heutiger Sicht hätte unsere Lok wohl Klimaschüt­zer auf den Plan rufen müssen. Während ihrer 20-jährigen Arbeitszei­t verfeuerte sie 24.000 Tonnen Kohle, CO2-Emissionen bei 120 km/h: 73 Kilogramm CO2 – pro Minute.

 ?? ??
 ?? //// Gerhard Sedlaczek/Technische­s Museum Wien ?? Prunkstück der Sammlung: Dampflok 12.10 im Technische­n Museum. Die Leitbleche an der Flanke boten dem Personal etwas Windschutz.
//// Gerhard Sedlaczek/Technische­s Museum Wien Prunkstück der Sammlung: Dampflok 12.10 im Technische­n Museum. Die Leitbleche an der Flanke boten dem Personal etwas Windschutz.
 ?? //// TMW-Archiv ?? Kohle-Railjet: Dampflok 214.10 am Gelände des Westbahnho­fes, zwischen 1936 und 1940.
//// TMW-Archiv Kohle-Railjet: Dampflok 214.10 am Gelände des Westbahnho­fes, zwischen 1936 und 1940.

Newspapers in German

Newspapers from Austria