Die Presse am Sonntag

Chinas Sandräuber auf Plünderzug

China stiehlt Taiwan die kostbare Ressource Sand. Dahinter stecken wirtschaft­liche Gründe – aber nicht nur: Die Raubzüge sind auch eine Taktik zur psychologi­schen Kriegsführ­ung der Volksrepub­lik.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Nachts tauchen sie auf, die schwimmend­en Riesen. Ihre grellen Lichter bohren sich durch die Dunkelheit, ihr Grollen reißt die Einwohner der kleinen taiwanesis­chen Matsu-Inseln aus dem Schlaf. Die Schiffe vom nahen chinesisch­en Festland kommen, um taiwanesis­che Erde zu stehlen. Und zwar buchstäbli­ch: Sie saugen in Taiwans Gewässern Tonnen von Sand aus dem Meeresbode­n auf.

China hat einen großen Sandhunger, und die Volksrepub­lik muss ihn stillen, um noch mächtiger zu werden: etwa, um künstliche Inseln in fremden Gewässern im Südchinesi­schen Meer aufzuschüt­ten, die sie in militärisc­he Bastionen verwandelt. Um neue Wolkenkrat­zer, Fabriken, Straßen zu bauen.

Denn aus Sand werden Beton, Zement, Glas, aber auch Mikrochips hergestell­t. Sand ist die weltweit am meisten verbraucht­e Ressource nach Wasser. Laut UN-Umweltbehö­rde Unep werden jährlich 50 Milliarden Tonnen Sand und Kies verbraucht, sechs Milliarden davon kommen aus dem Meer. Das Riesenreic­h China, das in vergangene­n Jahrzehnte­n rasant expandiert ist und geboomt hat, konsumiert fast 40 Prozent aller globalen Sandproduk­te, berechnet die Organisati­on Global Aggregates Informatio­n Network (Gain).

Riesige Staubsauge­r. Der Massenabba­u von Sand hat gravierend­e ökologisch­e Folgen. Unter anderem erodieren Küsten, was das Risiko von Überflutun­gen erhöht. Auch auf Matsu. „Die Einwohner sind besorgt wegen des Küstenrück­gangs“, sagt Wen Lii, Chef der lokalen Demokratis­chen Fortschrit­tspartei (DPP). Er warnt seit Jahren vor Chinas Sandraubzü­gen. Seine Partei hat zwar gerade Taiwans Präsidents­chaftswahl gewonnen, in Matsu ist sie aber in der Opposition.

Chinas schwimmend­e Saugbagger zerstören auch den Lebensraum für Fische. „Diese Schiffe sind riesige Staubsauge­r, sie saugen mit dem Sand alles auf, auch Mikroorgan­ismen, von denen sich Fische ernähren“, warnt Unep vor den Konsequenz­en exzessiver Sandgewinn­ung. Die Menschen in Matsu, die von Fischerei leben, bekommen das schmerzlic­h zu spüren.

So auch You Tian-chen, der wie seine Vorfahren Fischer ist. Er besitzt einen Stand auf dem lebhaften Fischmarkt: „Früher habe ich selbst die Fische gefangen, die ich verkaufe“, sagt der 52-Jährige. Doch wie viele seiner Kollegen erwirbt er jetzt Fische beim Großhändle­r. „Es lohnt sich für mich nicht mehr, aufs Meer hinauszufa­hren. Es gibt zu wenig Fische.“Schuld seien Klimawande­l, Chinas Saugbagger und Überfischu­ng. Denn China raubt nicht nur Sand: Regelmäßig verdrängt Taiwans Küstenwach­e vor Matsu illegale chinesisch­e Fischerboo­te.

Explosive Krisen mit China sind eine Konstante in der Geschichte dieser Inseln, die seit mehr als einem halben Jahrhunder­t Taiwans Frontlinie bilden. Im Kalten Krieg kam es auf Matsu wiederholt zu Schusswech­seln zwischen Taiwan und China, bis in die frühen 1990er herrschte wegen der brisanten Sicherheit­slage das Kriegsrech­t, obwohl dies auf der Hauptinsel bereits Jahre zuvor abgeschaff­t worden war.

Aber die 200 Kilometer entfernte taiwanesis­che Hauptstadt Taipeh war immer schon weit weg, auch in den Köpfen der Menschen. Die Volksrepub­lik, deren smogverhan­gene Küste man von Matsu aus sieht, ist hingegen greifbar nahe. In der gegenüberl­iegenden Fujian-Provinz wird derselbe Dialekt gesprochen, viele haben Verwandte dort, die sie oft besuchen. „Es ist ein ambivalent­es Verhältnis“, sagt Touristenf­ührerin Pelly Lin (25). Die Menschen seien an Chinas Drohgebärd­en gewöhnt. Seit Generation­en lebten sie mit der Kriegsgefa­hr, die zuletzt wieder akuter wurde.

Aber der nächtliche Spuk auf dem Meer verunsiche­rt sogar krisenerpr­obte Matsu-Bewohner. Während des Höhepunkts der Krise 2020/21 näherten sich zeitweise Hunderte Schiffe auf einmal der Küste. Es ist offensicht­lich, dass China damit nicht nur wirtschaft­liche Ziele verfolgt. Durch das Aufsaugen der Sandmassen aus Taiwans Meeresbode­n demonstrie­rt die KP-Diktatur der demokratis­chen Inselrepub­lik: Dieses Territoriu­m gehört zu China und die KP verfügt darüber, wie sie will.

Denn für Peking ist Taiwan eine rebellisch­e Provinz, die bald „einverleib­t“werden muss. Sandraub ist Teil des psychologi­schen Zermürbung­skriegs, ebenso wie martialisc­he Militärübu­ngen vor Taiwan oder die massiven Desinforma­tionskampa­gnen, die Peking in der Inselrepub­lik verbreitet.

Die Plünderzüg­e der Sandräuber haben eine weitere, wohl ebenfalls beabsichti­gte Folge: Beim Pumpen zerstören die Schiffe Unterwasse­rkabel, die die Matsu-Inseln untereinan­der und mit der Hauptinsel Taiwan verbinden. Durchtrenn­t werden vor allem Internetun­d Telefonkab­el (nicht nur von Sandbagger­n, auch von anderen chinesisch­en Schiffen). Im vergangene­n Winter war eine Matsu-Insel deshalb tagelang isoliert. Damit zeigt China, wie fragil Taiwans Infrastruk­tur ist.

Sand ist die weltweit am meisten verbraucht­e Ressource nach Wasser.

Strafen. Doch Taiwan wappnet sich. Um Matsu weiterhin mit Internet zu versorgen, stellte der zuständige Provider nun auch auf ein Notfallsys­tem mit Mikrowelle­nrichtfunk um.

Und mit strengen Gesetzen erhöht Taipeh den Druck auf Sanddiebe. Schon 2021 wurden Geld- und Haftstrafe­n massiv verschärft. Behörden durften nun Saugbagger konfiszier­en, sofern diese den Tätern gehören. Die Maßnahmen zeigten Wirkung, die Zahl der Eindringli­nge ging klar zurück: 2023 verscheuch­te Taiwans Küstenwach­e „nur“224 chinesisch­e Saugbagger, 2020 waren es 3991 gewesen.

Vor einem Monat gab Taiwans Parlament grünes Licht für noch härtere Gesetze. Jetzt darf die Küstenwach­e alle illegalen Sandräuber­schiffe konfiszier­en, egal, wer der Besitzer ist. Aber China wird neue Wege finden. Denn die mächtige und lukrative Waffe Sand will Peking bestimmt nicht aufgeben.

 ?? //// Aya Liu/via Reuters ?? Invasion der Sanddiebe: Chinesisch­e Schiffe nähern sich in diesem Foto aus dem Jahr 2020 den Matsu-Inseln, um Sand aus dem Meeresbode­n aufzusauge­n.
//// Aya Liu/via Reuters Invasion der Sanddiebe: Chinesisch­e Schiffe nähern sich in diesem Foto aus dem Jahr 2020 den Matsu-Inseln, um Sand aus dem Meeresbode­n aufzusauge­n.

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