Chinas Sandräuber auf Plünderzug
China stiehlt Taiwan die kostbare Ressource Sand. Dahinter stecken wirtschaftliche Gründe – aber nicht nur: Die Raubzüge sind auch eine Taktik zur psychologischen Kriegsführung der Volksrepublik.
Nachts tauchen sie auf, die schwimmenden Riesen. Ihre grellen Lichter bohren sich durch die Dunkelheit, ihr Grollen reißt die Einwohner der kleinen taiwanesischen Matsu-Inseln aus dem Schlaf. Die Schiffe vom nahen chinesischen Festland kommen, um taiwanesische Erde zu stehlen. Und zwar buchstäblich: Sie saugen in Taiwans Gewässern Tonnen von Sand aus dem Meeresboden auf.
China hat einen großen Sandhunger, und die Volksrepublik muss ihn stillen, um noch mächtiger zu werden: etwa, um künstliche Inseln in fremden Gewässern im Südchinesischen Meer aufzuschütten, die sie in militärische Bastionen verwandelt. Um neue Wolkenkratzer, Fabriken, Straßen zu bauen.
Denn aus Sand werden Beton, Zement, Glas, aber auch Mikrochips hergestellt. Sand ist die weltweit am meisten verbrauchte Ressource nach Wasser. Laut UN-Umweltbehörde Unep werden jährlich 50 Milliarden Tonnen Sand und Kies verbraucht, sechs Milliarden davon kommen aus dem Meer. Das Riesenreich China, das in vergangenen Jahrzehnten rasant expandiert ist und geboomt hat, konsumiert fast 40 Prozent aller globalen Sandprodukte, berechnet die Organisation Global Aggregates Information Network (Gain).
Riesige Staubsauger. Der Massenabbau von Sand hat gravierende ökologische Folgen. Unter anderem erodieren Küsten, was das Risiko von Überflutungen erhöht. Auch auf Matsu. „Die Einwohner sind besorgt wegen des Küstenrückgangs“, sagt Wen Lii, Chef der lokalen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Er warnt seit Jahren vor Chinas Sandraubzügen. Seine Partei hat zwar gerade Taiwans Präsidentschaftswahl gewonnen, in Matsu ist sie aber in der Opposition.
Chinas schwimmende Saugbagger zerstören auch den Lebensraum für Fische. „Diese Schiffe sind riesige Staubsauger, sie saugen mit dem Sand alles auf, auch Mikroorganismen, von denen sich Fische ernähren“, warnt Unep vor den Konsequenzen exzessiver Sandgewinnung. Die Menschen in Matsu, die von Fischerei leben, bekommen das schmerzlich zu spüren.
So auch You Tian-chen, der wie seine Vorfahren Fischer ist. Er besitzt einen Stand auf dem lebhaften Fischmarkt: „Früher habe ich selbst die Fische gefangen, die ich verkaufe“, sagt der 52-Jährige. Doch wie viele seiner Kollegen erwirbt er jetzt Fische beim Großhändler. „Es lohnt sich für mich nicht mehr, aufs Meer hinauszufahren. Es gibt zu wenig Fische.“Schuld seien Klimawandel, Chinas Saugbagger und Überfischung. Denn China raubt nicht nur Sand: Regelmäßig verdrängt Taiwans Küstenwache vor Matsu illegale chinesische Fischerboote.
Explosive Krisen mit China sind eine Konstante in der Geschichte dieser Inseln, die seit mehr als einem halben Jahrhundert Taiwans Frontlinie bilden. Im Kalten Krieg kam es auf Matsu wiederholt zu Schusswechseln zwischen Taiwan und China, bis in die frühen 1990er herrschte wegen der brisanten Sicherheitslage das Kriegsrecht, obwohl dies auf der Hauptinsel bereits Jahre zuvor abgeschafft worden war.
Aber die 200 Kilometer entfernte taiwanesische Hauptstadt Taipeh war immer schon weit weg, auch in den Köpfen der Menschen. Die Volksrepublik, deren smogverhangene Küste man von Matsu aus sieht, ist hingegen greifbar nahe. In der gegenüberliegenden Fujian-Provinz wird derselbe Dialekt gesprochen, viele haben Verwandte dort, die sie oft besuchen. „Es ist ein ambivalentes Verhältnis“, sagt Touristenführerin Pelly Lin (25). Die Menschen seien an Chinas Drohgebärden gewöhnt. Seit Generationen lebten sie mit der Kriegsgefahr, die zuletzt wieder akuter wurde.
Aber der nächtliche Spuk auf dem Meer verunsichert sogar krisenerprobte Matsu-Bewohner. Während des Höhepunkts der Krise 2020/21 näherten sich zeitweise Hunderte Schiffe auf einmal der Küste. Es ist offensichtlich, dass China damit nicht nur wirtschaftliche Ziele verfolgt. Durch das Aufsaugen der Sandmassen aus Taiwans Meeresboden demonstriert die KP-Diktatur der demokratischen Inselrepublik: Dieses Territorium gehört zu China und die KP verfügt darüber, wie sie will.
Denn für Peking ist Taiwan eine rebellische Provinz, die bald „einverleibt“werden muss. Sandraub ist Teil des psychologischen Zermürbungskriegs, ebenso wie martialische Militärübungen vor Taiwan oder die massiven Desinformationskampagnen, die Peking in der Inselrepublik verbreitet.
Die Plünderzüge der Sandräuber haben eine weitere, wohl ebenfalls beabsichtigte Folge: Beim Pumpen zerstören die Schiffe Unterwasserkabel, die die Matsu-Inseln untereinander und mit der Hauptinsel Taiwan verbinden. Durchtrennt werden vor allem Internetund Telefonkabel (nicht nur von Sandbaggern, auch von anderen chinesischen Schiffen). Im vergangenen Winter war eine Matsu-Insel deshalb tagelang isoliert. Damit zeigt China, wie fragil Taiwans Infrastruktur ist.
Sand ist die weltweit am meisten verbrauchte Ressource nach Wasser.
Strafen. Doch Taiwan wappnet sich. Um Matsu weiterhin mit Internet zu versorgen, stellte der zuständige Provider nun auch auf ein Notfallsystem mit Mikrowellenrichtfunk um.
Und mit strengen Gesetzen erhöht Taipeh den Druck auf Sanddiebe. Schon 2021 wurden Geld- und Haftstrafen massiv verschärft. Behörden durften nun Saugbagger konfiszieren, sofern diese den Tätern gehören. Die Maßnahmen zeigten Wirkung, die Zahl der Eindringlinge ging klar zurück: 2023 verscheuchte Taiwans Küstenwache „nur“224 chinesische Saugbagger, 2020 waren es 3991 gewesen.
Vor einem Monat gab Taiwans Parlament grünes Licht für noch härtere Gesetze. Jetzt darf die Küstenwache alle illegalen Sandräuberschiffe konfiszieren, egal, wer der Besitzer ist. Aber China wird neue Wege finden. Denn die mächtige und lukrative Waffe Sand will Peking bestimmt nicht aufgeben.