Nachgeben ist nicht immer die klügere Antwort
Wie schaut ein gesellschaftlicher Diskurs aus, wenn Mindeststandards ignoriert, konträre Positionen nicht mehr bedacht werden und das Laute alles andere übertönt? Genau so.
Wenn man das Private dort lässt, wo es hingehört, bleiben allgemeine Überlegungen. Zum Streiten gehören immer zwei, hat es da etwa einmal geheißen. Doch scheint der eine, der so richtig Lust dazu hat, inzwischen völlig auszureichen. Eine Attacke ohne jeden Filter im Netz platziert, dort mit den richtigen Followern multipliziert, von da aus schrankenlos weiterverbreitet – und schon rollt die Schlammlawine.
Ob der Vorwurf berechtigt, die Quelle legal erlangt, das Anliegen dahinter statthaft ist, bleibt nebensächlich. Die Person, Institution oder Sache, die Ziel der Attacke ist, kann sich dem so gut wie unmöglich entziehen. Wer reagiert, hat schon verloren. Wer nicht reagiert, ebenso. Was liegt, das pickt, gilt nicht nur beim Kartenspiel.
Als Kind hieß der Ratschlag nach einer blöden Streiterei: Der Klügere gibt nach, der Esel fällt in den Bach. Nur bleiben die Esel dieser Tage in den sozialen Netzwerken, in denen altvaterische Sprichwörter keine Geltung
haben, nicht nur staubtrocken, sondern sie iaaen sich scheinbar unwidersprochen quer durch alle Plattformen. Klassische Medien versuchen es da besonnener, sollten dies zumindest tun. Behäbiger, meinen auch viele und informieren sich lieber dort, wo es Schlag auf Schlag geht, nicht immer ganz richtig, aber stets spannend.
Zuspitzung und Frequenz gewinnt. Doch wie soll man wirksam dagegenhalten, wenn die richtige Antwort zum Beispiel auch einmal ein Schweigen wäre. Ein Nichtweiterdrehen der Spirale, ein ins Leere-gehen-Lassen haltloser Tiefschläge? Denn diese Zurückhaltung erreicht wieder nur jene, die ohnehin genauer hinhören wollen. Wer sich offensiv dagegenstellt, kann dies nur zu den Bedingungen und zum Preis der Eskalierer tun. Argumente und Zwischentöne unerwünscht, Frequenz und Zuspitzung gewinnt die Aufmerksamkeit. Existenz und Seelenheil stehen im Extremfall mit auf dem Spiel.
Die jüngsten Attacken haben auch den professionellen Journalismus zum Ziel gehabt. Klassische Medien, die in Redaktionen nach nachvollziehbaren Regeln arbeiten, werden als Teil eines Systems (der Demokratie?) denunziert. Die Kritik an klassischen Medien ist nicht nur ausdrücklich zulässig und notwendig, sondern manchmal auch berechtigt. Vertrauen in die Berichterstattung muss täglich neu erarbeitet werden. Doch gibt es immerhin klare Absender, im Impressum und bei den Artikeln ausgewiesen, die für die Inhalte und Fehler geradestehen. Im Gegensatz zu all zu vielen News, die nur anonyme Absender tragen, sich aber als gleichrangige Quellen verkaufen.
Ausgerechnet am Beginn eines Wahljahres auf Einsicht und Besonnenheit zu hoffen wäre blauäugig. Doch statt sich zu ergeben, kann jede und jeder eigene Standards setzen. Ein paar Stunden (vielleicht sogar eine ganze Nacht) warten, bevor man antwortet, überlegen, wie man selbst wollte, dass mit einem umgegangen wird und das Gegenüber auch in einem harten Disput als Menschen wahrnehmen. Bei einigem guten Willen wäre das gar nicht so schwierig.
» Was liegt, das pickt, gilt nicht nur beim Kartenspiel. Wer reagiert, hat schon verloren. «
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