Wenn Müttern die Energie ausgeht
Wenig Zeit, viele Aufgaben, kaum Freiräume: Wird ein Kind geboren, ändert sich das Leben der Eltern enorm. Zum Teil so stark, dass Depressionen aufkommen – die sich die wenigsten eingestehen. Mit einem »normalen« Babyblues haben sie nichts zu tun.
Die Frage nach dem Duschgel brachte Sabine Peters Zustand zum Kippen. Dabei klang sie so einfach. Womit duschen Sie am liebsten, hatte die Therapeutin gefragt. Statt eine Antwort zu geben, begann die Wienerin zu weinen. Sie wusste weder, was ihr gefiel, noch was im Badezimmer stand. „Ich traf damals keine bewussten Entscheidungen mehr, ich funktionierte nur noch“, erinnert sich die Mutter von vier Kindern.
Damals, das war vor acht Jahren. Peter war eben 40 geworden, ihre Töchter zwölf und neun, die Söhne sieben und zwei Jahre alt. Dazu ein Haus, ein Garten, ein Job, in den sie bald zurückkehren konnte. Alles lief nach Plan. Und doch war sie nicht glücklich. „Ich habe nach der Geburt jedes Kindes den Babyblues gespürt“, erzählt die Controllerin. „Das ist normal, wenn die Hormone nachlassen und sich die neue Realität Bahn bricht.“
Tatsächlich erleben bis zu 80 Prozent aller Mütter ein Stimmungstief kurz nach der Entbindung. Ursache dafür dürfte der Abfall der Hormone sein sowie die Gewissheit, dass fortan alles anders ist. „Es heißt, eine Geburt ist erst vorbei, wenn die Mutter geweint hat“, sagt Helen Heinemann. Allerdings, so die Gründerin des Instituts für Burnout-Prävention in Hamburg: „Diese Phase sollte nicht länger als ein paar Tage, maximal zwei Wochen dauern.“Tut sie es doch, sollte an eine postpartale Depression gedacht werden.
8800 Fälle pro Jahr.
„Das trifft zehn bis 15 Prozent der Frauen“, sagt Heinemann, „sie kann noch im Spital beginnen, weshalb man sie auch Wochenbettdepression nennt, aber auch erst nach ein paar Monaten.“Ihr Spektrum ist breit gefächert: Traurige Verstimmtheit und Antriebslosigkeit, Schlaf-, Konzentrationsstörungen sowie Suizidgedanken zählen zu den Symptomen. „Es handelt sich um eine ernstzunehmende Erkrankung“, betont die Autorin von „Zu erschöpft, um wütend zu sein“– und doch wird sie nur selten erkannt. Einer Studie der Universität von Toronto zufolge sucht nur ein Drittel aller Betroffenen professionelle Hilfe. Der Grund: Scham und Schuldgefühle.
„Mein jüngster Sohn hat die Muttermilch nicht vertragen“, erzählt Sabine Peter. Über drei Monate hinweg nahm das Baby kaum zu. „Es war schrecklich, ich hatte das Gefühl, auf voller Länge zu versagen.“Sie war niedergeschlagen, traurig, gereizt. Immer wieder überkamen sie Angstattacken, dem Kind gehe es schlecht. An Schlaf war nicht zu denken. Die Freude über die erfolgreiche Geburt wich einem Daueralarmzustand. „Klar wurde mir das erst viel später“, sagt die 48-Jährige heute. „Ich sagte mir: Das ist ganz normal.“
Wie vielen Frauen es ähnlich geht, wird nicht offiziell erhoben. Schätzungen aber gibt es: „Nach den gut 18.000 Geburten, die wir jährlich in Wien haben, leiden etwa 2000 Mütter an einer postpartalen Depression – in ganz Österreich sind das an die 8800 Fälle pro Jahr“, sagt Claudia Reiner-Lawugger, Oberärztin und Leiterin der Spezialambulanz für peripartale Psychiatrie in der Klinik Ottakring. Tendenz steigend.
Die Auslöser sind vielfältig: „Die Mütter sind ermattet durch das Stillen, werden ständig aus dem Schlaf gerissen und haben keine Routine, da sich der Rhythmus des Kindes permanent ändert“, sagt die Medizinerin. Hinzu kämen hohe Ansprüche an sich selbst und der Umstand, dass die Familien heute kleinteiliger seien. „Früher gab es Großfamilien, in denen permanent ein Baby da war“, sagt Reiner-Lawugger. „Heute bestehen die Kernfamilien oft nur noch aus drei Menschen – und das erste Baby, mit dem die Eltern zu tun haben, ist ihr eigenes.“
Zwischen Pille und Tagesklinik. Kaum verwunderlich also, dass die Überforderung wachse: „Der Mensch ist ein Rudeltier, das in der Gemeinschaft Erfahrungen sammelt – aktuell ist das vielen nicht mehr möglich“, sagt die Ärztin. „Diese Entsozialisierung ist die gefährlichste Krankheit unserer Zeit : An die Stelle von Großeltern, Cousins und Geschwistern treten überzeichnete TikTok-Videos, die Illusionen zeigen.“
Tatsächlich wertvoll seien die „Frühen Hilfen“, die derzeit bundesweit ausgebaut werden. Hierbei handelt es sich um ein Netzwerk, in dem Eltern Rat und Förderung bekommen können. Zudem stehen sie in Kontakt mit Fachärzten, sodass Depressionen frühzeitig erkannt und gegengesteuert werden könne. „In der Regel handelt es sich bei der Behandlung um eine Kombination aus Medikamenten, die auch während des Stillens eingenommen werden können, und einer Psychotherapie“, sagt ReinerLawugger.
Beides kennt Julia Knörnschild. Als ihr Sohn drei, ihre Tochter wenige Monate alt war, wurde sie immer unruhiger. Wenn etwas nicht nach Plan lief, wollte sie aufschreien und tat es oft tatsächlich. Immer öfter überrollten sie Panikattacken. Um dem ein Ende zu setzen, ließ sie sich für mehrere Wochen in eine Tagesklinik einweisen. „Dort lernte ich, rechtzeitig zu sagen, wenn ich eine Pause brauche, und mir Strukturen zu schaffen“, erzählt sie. Mittlerweile verfasst sie jeden Sonntag einen Wochenplan, montags besucht sie einen Selbsthilfechor, dienstags ihre Therapeutin. „Ich habe gelernt, dass ich eine bessere Mutter bin, wenn ich für mich einstehe“, so Knörnschild, die ihre Erfahrungen eben in dem Buch „Mama kann nicht mehr“gebündelt hat.
Bleiben Depression und Überforderung dagegen unbehandelt, kann das die Mutter-Kind-Beziehung nachhaltig belasten. „Es ist wichtig, keine Zeit zu verlieren“, betont Medizinerin ReinerLawugger. „Wer sein Baby ständig angsterfüllt ansieht, oder anbrüllt, riskiert genauso eine Bindungsstörung mit langfristigen Auswirkungen wie jemand, der seinem Kind immer mit versteinerter Mimik begegnet.“
Wo sind die Väter? Und das gilt nicht nur für Mütter. Ein Team um den Mediziner James Paulson von der Eastern Virginia Medical School in Norfolk fand 2010 heraus, dass bis zu zehn Prozent der Väter im ersten Jahr mit Kind von einer Depression betroffen sind. Als Ursache wird angenommen, dass bei Männern, die bei der Geburt anwesend sind, anschließend das Testosteronlevel abfällt. Fühlen sie sich zudem unsicher in ihrer Rolle als Vater und realisieren, dass sie ihre Partnerin fortan teilen müssen, könne sich das in einer Verstimmung, Magen- oder Rückenschmerzen sowie Schlafstörungen äußern.
Ob die Beschwerden aufgrund von „Papamonat“und Väterkarenz zunehmen werden, lässt sich noch nicht abschätzen. Eine Erhebung der Arbeiterkammer zeigt aber, dass diese Angebote zunehmend beansprucht werden: Aktuell gehen rund 20 Prozent der Väter nach der Geburt ihres Kindes in Karenz. Drei Prozent von ihnen bleiben länger als drei Monate, ein Prozent länger als ein halbes Jahr.
„Obwohl sich Väter heute mehr einbringen, bleibt die organisatorische Arbeit in der Regel an den Frauen hängen“, sagt Doris Linzner, selbst dreifache Mutter. „Da sind die Frauen aber oft mitverantwortlich, weil sie das Baby nicht gern abgeben“, meint die Sozialarbeiterin, die an der FH für Gesundheitsberufe in Linz lehrt. „Es wäre wichtig, den Papa auch mal Papa sein zu lassen, sodass Vater und Kind Zeit haben, sich aneinander zu gewöhnen – das entlastet auch die Frauen.“
Pause als Fremdwort.
Was aber tun, wenn kein Partner greifbar ist? „Die ersten eineinhalb Jahre mit meiner Tochter waren sehr dunkel für mich“, sagt Marianne
Knoll. „Als ich schwanger war, wurde mir klar, dass ich ohne diesen Mann stärker bin, also habe ich die Idee einer Familie losgelassen“, erzählt die 39-Jährige.
Anstatt Dreisamkeit prägten fortan Ängste ihre Tage. „Ich habe mich lange bemitleidet, bevor ich aus der Ohnmacht fand“, erinnert sie sich. „Meine Schwester, die bei der Geburt dabei sein sollte, schaffte es nicht“, sagt die Versicherungsangestellte. Überhaupt fehlt ihr bis heute ein soziales Netz: „Termine kann ich oft nur wegen der Flexibilität meines Arbeitgebers wahrnehmen – das Wort Pause ist aber ein Fremdwort für mich.“
»Heute ist das erste Baby, mit dem die Menschen zu tun haben, meistens auch das eigene.« »Ich war mental und körperlich ausgemergelt, wollte es aber lang nicht wahrhaben.«
Nicht nur einmal hatte Knoll deshalb das Gefühl, etwas in ihr sterbe. „In mir war eine Aggression, von der ich nicht wusste, wie und ob ich sie loswerden kann und darf“, sagt sie. Es sei frustrierend gewesen: „Mein Tag bestand aus Versuchen, mein Kind schlafen zu legen, Milchflaschen auszuspülen und dabei den Verstand nicht zu verlieren.“
„Ich“muss nach vorne. Ähnliches kennt Simone Peter: „Als unser jüngster Sohn ein Jahr alt wurde, begann mein Mann eine Affäre, zwölf Monate später trennten wir uns“, erzählt sie. „Ich stand da, mit vier Kindern, Schulden und war bald ausgebrannt.“Irgendwann wog die Wienerin bei einer Größe von 1,70 Meter nur noch 45 Kilogramm. „Ich war mental und körperlich ausgemergelt“, sagt Peter, „aber ich wollte es lange nicht wahrhaben“.
Könnte sie die Zeit zurückdrehen, hätte sie sich früher Hilfe geholt – von Familienmitgliedern, Freunden oder Erziehungsberatungsstellen. Sie hätte die eigenen Kinder stärker in ihre Lage eingebunden und sich früher Pausen gegönnt: „Ich weiß, dass mir das zusteht“, sagt Peter heute. „Und ich kenne mein Lieblingsduschgel.“