Ehe? Kinder? Die Rebellion der chinesischen Frauen
Immer mehr Chinesinnen lehnen sich gegen traditionelle Vorstellungen von Familie und Diskriminierung auf. Die autoritäre Führung erachtet feministische Organisationen als Gefahr und unterdrückt sie. Ihre Botschaft: Frauen sollten an die Nation denken und
Er symbolisiert Macht, Stärke Erfolg und stand früher für den Kaiser. Der chinesische Drache gilt glücksverheißend für alle, die unter seinem Sternzeichen geboren wurden. So gelten diese Jahrgänge (der letzte 2012) als besonders geburtenstark. Auch heuer hofft Chinas Führung wieder auf besonders viele „Drachenbabys“. Ein Anstieg der Geburten würde die Serie an Negativrekorden durchbrechen: Die Geburtenrate sinkt seit Jahren, 2023 gar auf ein historisches Tief.
Doch Chinesinnen treten diesen Vorgaben der autoritären Führung entgegen. Sie stellen die Ehe, traditionelle Familienformen und Schönheitsnormen infrage. In sozialen Medien präsentieren ungeschminkte Frauen ihren neuen Kurzhaarschnitt. Sie protestieren in Anlehnung an den Militärdienst gegen den „Schönheitsdienst“, der sie zu stundenlanger, teurer Schönheitspflege verpflichte. In Shanghai feiern Chinesinnen mit Eskortmännern in Clubs ihr Single-Dasein. Der Hashtag „Kein Kind, kein Ring, heiter leben“ist populär.
Chinesinnen fordern Respekt. „Sie rebellieren. Sie heiraten später, bekommen später Kinder“, sagt Qin Liwen. Die ExJournalistin betrieb einen bei Chinesinnen populären Podcast und lebt derzeit in Berlin. Obwohl der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung kaum so hoch sei wie anderswo, stehe China im Gender-Gap-Bericht des Weltwirtschaftsforums nur an Stelle 107. „Frauen, viele die erste und letzte Generation an einzigen Töchtern, verlangen Respekt und sind nicht glücklich darüber, wie die Gesellschaft sie behandelt.“
Unterbezahlung, diskriminierende Einstellungspraktiken, Doppelbelastung durch Job und Familie und die allgegenwärtige sexuelle Belästigung – all das kritisieren Chinesinnen immer lauter. Nach offiziellen Angaben ist jede dritte Frau Opfer häuslicher Gewalt geworden. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich weitaus größer.
Vor allem in ländlichen Regionen gelten Söhne und Männer als mehr wert. Jahrzehntelang wurden weibliche Föten aufgrund der Ein-Kind-Politik abgetrieben. Noch immer kommen auf dem Land mehr Söhne zur Welt. In China leben etwa 35 Millionen mehr Männer
»Das Streben, einen Sohn zu gebären, ist in der Landbevölkerung eine Art spirituelles Verlangen.«
als Frauen. „Das Streben, einen Sohn zu gebären, ist in der Landbevölkerung eine Art spirituelles Verlangen“, sagt Yin (Namen geändert) aus Peking überspitzt. Nach traditionellen Wertvorstellungen sei eine verheiratete Frau für ihre Eltern wie „verspritztes Wasser“und müsse nicht mehr beachtet werden, erklärt sie.
Nach Gründung der Volksrepublik China 1949 wurde die Gleichberechtigung der Frau in der Verfassung verankert. Staatsgründer Mao Zedong setzte auf Bürgerinnen beim Aufbau der Nation und unterstrich ihre Leistungen in der Staatspropaganda: „Frauen können die Hälfte des Himmels tragen.“In der Politik aber haben Frauen bis heute kaum Einfluss. Die stärkste Interessenvertretung, die All China Women’s Federation, ist zerrieben zwischen den Bedürfnissen ihrer Klientel und den Anforderungen des Parteistaats.
Dieser machte zuletzt klar, welche Rolle Frauen in Chinas Gesellschaft einzunehmen haben: „Frauen sollten an Familie und Nation denken und eine korrekte Sicht auf Heirat, Kinderkriegen und Familie bilden“, sagte Vizepremier Ding Xuexiang beim Nationalen Frauenkongress. Sie müssten mit ihren Stärken zur chinesischen Modernisierung beitragen. Trotz Aufgabe der Ein-KindPolitik 2016 drohen dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land die jungen Menschen auszugehen, die Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum stützen.
„Babyherstellungsmaschinen“. „Der chinesische Staat versucht, alle zu seinen Zwecken einzusetzen“, sagt
Rebecca E. Karl, Sinologin an der New York University. Frauen seien demnach „Babyherstellungsmaschinen“, die Bürger für Chinas Entwicklungsziele bereitstellen sollten.
Chinesinnen, die gegen die patriarchalen Strukturen eintreten, erachtet die autoritäre Führung als Gefahr. „Es existiert eine richtige Feindseligkeit des Staats gegenüber feministischer Organisation“, so Karl. Die Repressionswelle begann 2015, als die Polizei fünf Aktivistinnen in Gewahrsam steckte, weil sie gegen sexuelle Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln aufmerksam machten. Auch die #MeToo-Bewegung unterdrückten Chinas Behörden. Eine führende Figur, die Journalistin Huang Xueqin, steht wegen Subversion vor Gericht. Feministischer Aktivismus sei durch ideologische Infiltration des Auslands getrieben, so Peking.
Chinas Frauen setzen daher auf soziale Medien, in denen Inhalte weniger stark zensiert werden können. Vor allem bei privaten Angelegenheiten tun sich die Zensoren schwer, erklärt Qin Liwen. Nachdem Behörden Wortführerinnen mundtot gemacht haben, sei es zu einer Dezentralisierung feministischer Aufklärung im Internet gekommen: „Es sind Frauen, die ehrlich auf ihr Leben blicken und die Wahrheit sagen.“
Mit ihrem relativ radikalen Podcast Seahorse Planet – Seepferdchen sind die einzige Tierart, bei denen Männchen die Nachkommen austragen – testete sie selbst die Grenzen des feministischen Diskurses in China aus. Zunächst waren es nicht die Behörden, bei denen sie aneckte. Sie verärgerte männliche User, denen ihre Gedanken über die Ersetzbarkeit heterosexueller Beziehungen nicht gefielen.
Nach einer Episode über kindliche Pietät, einem Kernwert des Konfuzianismus, blockierten die Zensoren ihre Seite gänzlich. „Xis Regierung hält traditionelle familiäre Werte hoch, da sie die Grundlage für eine Diktatur sind. Die soziale Ordnung in China basiert auf Gehorsamstraining“, sagt Qin. „Eltern in China üben viel Kontrolle über Kinder aus, selbst im Erwachsenenalter. Die junge Generation hat genug davon.“
Verunsicherte Generation. Immer mehr Chinesen versuchen, sozialen Zwängen zu entkommen – in einer ohnehin von Unsicherheit bestimmten Zeit. Die vergangenen drei Jahre stellten eine Zäsur für die junge Generation dar: drakonische Einschränkungen des öffentlichen Lebens während der Corona-Pandemie sowie ein schwaches Wirtschaftswachstum begleitet von steigenden Lebenserhaltungskosten und sinkenden Löhnen.
Auch diese Faktoren sind ein Grund dafür, warum sich viele Paare gegen Nachwuchs entscheiden. Sie fürchten, ihr Kind nicht ausreichend für einen Erfolg im hochkompetitiven Bildungssystem unterstützen zu können. China sei auf die Wirtschaftsleistung pro Kopf gerechnet nach Korea das zweitteuerste Land, um ein Kind großzuziehen, sagen chinesische Demografen.
Das Nein zur Ehe ist bei vielen Chinesinnen jedoch nur vorübergehend. Zwar steigt gerade unter gut gebildeten, finanziell immer unabhängigeren Städterinnen
der Trend zur späten Heirat. Selbst die Landbevölkerung schließt Ehen später. Dass Männer erst mit Auto und Wohnung als heiratsfähig gelten, verstärkt die Tendenz.
Aber aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen, des familiären Drucks und gesellschaftlicher Vorurteile heiratet ein Großteil der Chinesinnen früher oder später. Jene, die bis 30 nicht verheiratet sind, gelten als „übrig gebliebene Frauen“. Auch Yin ist über 30 und ledig: „Findet eine Frau keinen guten Mann, wird sie kritisiert, selbst wenn sie talentiert ist. Die Eltern zeigen auch kein Mitgefühl.“Dass die Anzahl der Eheschließungen seit 2013 neun Jahre in Folge auf ein Rekordtief gesunken ist, liegt auch an dem hohen Geschlechterungleichgewicht der Bevölkerung.
»Die Regierung Xis hält traditionelle familiäre Werte hoch. Sie sind Grundlage für eine Diktatur.« »Wir wären unzufrieden, würden nicht beide Partner gleiche Vorteile aus der Ehe ziehen.«
Der Spruch „Eine Heirat, als ob der Ehemann tot wäre“trifft den Zeitgeist vieler Frauen, die sich in der Ehe zu wenig unterstützt fühlen. „Die direkte Übersetzung ist ziemlich unhöflich“, sagt Emma aus Shanghai. Traditionell kümmerten sich Frauen in China um die Kinder, Männer fokussierten auf ihre Karriere. Doch heute forderten Frauen, dass sich Männer an der Kinderbetreuung und im Haushalt beteiligen.
Die 30-Jährige hat einen kleinen Sohn und arbeitet mehr als 40 Stunden pro Woche. Untertags kümmert sich ein Kindermädchen um ihn. Institutionelle Kinderbetreuung fängt in China ab zwei Jahren an, die Öffnungszeiten der Kindergärten sind kurz. Wem, wie Emma, die Arbeit wichtig ist, der ist auf Großeltern oder Nannys angewiesen. „Wegen der Ein-Kind-Politik ist unsere Generation ziemlich egoistisch und verwöhnt. Sie wäre unzufrieden, würden nicht beide Partner die gleichen Vorteile aus der Ehe ziehen“, erklärt sie. Im Jahr des Drachen, dem Symbol für Männlichkeit, sind Chinas Frauen selbstbestimmter denn je.