Die extra Extrameile durch den Eiskontinent
Den Südpol erreichte im Vorjahr ein Wiener Trio auf einer neuen Route. Nun feilt es an der nächsten Antarktis-Expedition. Der Geburtstag des Vorbilds, Polarfoscher Ernest Shackleton, jährte sich nun zum 150. Mal.
Früh aus dem Schlafsack klettern, etwas Morgentoilette, dann Schnee schmelzen fürs Frühstück. Die zwei großen Zelte abbauen, auf den Schlitten packen. Ski anschnallen. Nicht zu warm anziehen, weil man nicht ins Schwitzen kommen soll, wenn man einen hundert Kilo schweren Schlitten bis zum Südpol hinter sich herzieht. Ein antarktischer Expeditionstag beginnt immer gleich.
Ab dem 66. Breitengrad geht die Sonne im Sommer nicht unter. Jede der sieben Nationen, die hier territoriale Ansprüche erheben und sie gemäß des Antarktis-Vertrags von 1961 aber nicht wirklich ausüben, macht sich ihre eigene Zeit. Für das österreichisch-australische Team, bestehend aus Eric Philips, Alexandra Guryeva, Stefan Prucker und Jens Neumann, zeigt die Uhr zu Tagesanbruch 6.00. „Man startet mit der Sonne im Rücken, erst am Abend bekommt man Gegenlicht“, erklärt Neumann. Beim Gehen stellt sich ebenso Routine ein: Jeden Tag zehn Stunden in Summe unterwegs, alle eineinviertel Stunden eine kurze Pause. Am Tagesziel stets der gleiche Ablauf: „Zeltaufbau, kochen, zwischen 21 und 22 einschlafen mit Augenbinde, aber das funktioniert meistens gut“, schildert Prucker.
Oft gehen Antarktis-Abenteurer nur die letzten 111 Kilometer, also den einen letzten (89. bis 90.) Breitengrad, zum Südpol. Guryeva, Prucker und Neumann sowie Expeditionsprofi Philips nahmen sich im vorigen Winter eine ganz andere Distanz und Route vor: 880 Kilometer vom Filchner Ice Shelf über den Support Force Glacier zum Südpol. Sie hätten diese Strecke (vergleichbar Wien–Mailand) vielleicht noch schneller schaffen können als in 50 Tagen. Aber das Sportliche war nicht ihr Hauptantrieb, so Neumann: „Wir wollten vor allem die Weite, Stille und Abstraktheit erleben. Uns dem Südpol mit Bedacht und Respekt nähern, im klassischen Expeditionsstil ohne Motorkraft und Kite, sondern nur mit Ski und Schlitten.“
Mikrolandschaft. Gelungen ist ihnen eine Premiere. Das austro-australische Team hatte Neuland betreten. Entscheidend war für die drei aus Österreich, von denen zwei bereits Antarktis-Erfahrung mitbrachten, diesmal in einem Gebiet unterwegs zu sein, in das noch niemand einen Fuß gesetzt hatte. „Die Routen zum Südpol sind meistens dieselben,“erklärt Alexandra Guryeva. Weil eine neue viel Aufwand und Risiko bedeute.
Das Team minimierte das Risiko durch drei Jahre Vorbereitung und die lange Antarktis-Erfahrung von Polarveteran Philips. Dieser hat auch das Routing gemacht. Nach einem Vortrag vor einem Komitee (in der Antarktis kann niemand einfach nur so auf eigene
Faust herummarschieren, sondern braucht eine Genehmigung) bekam der Vorschlag zur Route „Peace of the Heart“die Zustimmung. Und die Gruppe den Zuschlag. Die Strecke Filchner Iceshelf–Support Force Glacier–Southpole ist laut den Regularien von Pecs (Polar Expeditions Classification Scheme), einer Organisation aus mehreren Polarexperten, die Rahmenbedingungen festlegen, eine „first“oder „new route“. So eine Route muss sich nicht nur klar von anderen unterscheiden, sondern auch eine „ästhetische Qualität“erfüllen. Mittlerweise wird an der nächsten Antarktis-Expedition gearbeitet, wieder etwas Neues, mehr kann derzeit nicht verraten werden.
Ein Flugzeug hatte sie in drei Stunden vom Union Glacier Camp, das von der Expeditionsagentur ALE (Antarctic Logistics and Expeditions) betrieben wird, zum Filchner-Ronne-Schelfeis im Weddellmeer gebracht. Komplett auf sich allein gestellt drangen sie immer weiter ins Queen Elizabeth Land vor — zum Support Force Glacier in den Pensacola Mountains. Rundherum die Berge des Transantarktischen Gebirges, das wie eine Naht durch den Kontinent verläuft. Doch nach zwei Wochen wechselte die Kulisse in ein Nichts ohne jeden Anhaltspunkt im Gelände. Von Wind und Wetter gepresstes, deformiertes Weiß. Dazu das Wissen, dass sich Ski und Schlitten über Hunderte Meter hohe Eispanzer schieben, die darunter nicht statisch, sondern in Bewegung sind. Auch die Vorstellung von einer extradicken, extrafeinen Firndecke trügt, denn die Schneefallmenge nimmt mit der Entfernung zur Küste ab. Antarktika ist eine Trockenwüste mit wenig Niederschlag.
VON MADELEINE NAPETSCHNIG
Jens Neumann, Eric Philips, Alexandra Guryeva und Stefan Prucker am Südpol im Vorjahr. Die nächste Expedition ist geplant. Rechts: Übernachten in einem Meer aus Sastrugis, Fußangeln im Schnee. Jens Neumann
Nicht jeder Tag birgt optische
Sensationen. Das Gehen wird zur Einübung in das Nichts.
Stetig steigt das Gelände Richtung Südpol an, bis der neuralgische Punkt auf 2900 Metern erreicht ist. Nicht jeder Tag bringt große optische Sensationen, aber in der Gleichförmigkeit schärft sich die Wahrnehmung für Nuancen, für eine Mikrolandschaft. Zugleich ist die Einförmigkeit, die Eiswüste, nicht immer still, „Snowquakes“erzeugen seltsame Geräusche, wenn man urplötzlich 15 Zentimeter einbricht. „Es zischt und knallt um einen herum. Man weiß nicht, was los ist, wenn man es zum ersten Mal erlebt.“
Es braucht mentale Stärke, um gegen das Unvorhergesehene durchzuhalten. Das Wetter über eine so lange Zeit ist so ein Unsicherheitsfaktor, doch die vier hatten in den 50 Tagen unterwegs einiges Glück: „nur zwei Mal Sturm, zwei Mal leichten Schneefall“. Größere Hindernisse waren allerdings
Sastrugis, Windgangeln im Schnee, längliche Erhebungen oder Rillen im Schnee, groß, hart, tückisch. „Einer der schwierigsten Momente, wenn der Schlitten in solchen Sastrugis steckenbleibt, vielleicht noch dazu bei schlechter Sicht“, schildert Prucker. „Wenn du Pech hast, geht das den ganzen Tag so und den nächsten.“Man wisse nie, wie viele Sastrugis noch auf einen zukommen. „An unserem schlimmsten Tag sind wir nur 13 Kilometer weitergekommen. Doch über weite Strecken war der Untergrund relativ glatt.“Ideal, um den Schlitten weiterzuziehen.
Ungeachtet der Hindernisse zeigt sich die Gruppe überwältigt. „Hier verschmilzt die enorme Anstrengung mit der Schönheit dieser Landschaft, die wie Wellen auf einen zuzukommen scheint.“Im Gehen ist jeder auf sich selbst zurückgeworfen. „Ich gehe, also bin ich“, fasst Neumann diesen Zustand in ein Bild. Eine Einübung auf die Stille, die Abstraktheit der eigenen Existenz in einer so großen Leere. „Jede Expedition endet immer wieder bei dir selbst.“
Ringen um den Pol. Über die Existenz einer großen Landmasse im Süden hatten sich Forscher spätestens seit dem 15. Jahrhundert Gedanken gemacht. Irgendeine Terra Australis da unten sollte die Welt im wahrsten Sinne des Wortes im Gleichgewicht halten. Allerdings vermutete man da unten kein so frostiges Paradies. Bereits um 700 dürften sich polynesische Seefah
rer angenähert haben, aber erst tausend Jahre später drangen Forschungsreisende immer weiter nach Süden vor, bis 1772 bis 1775 James Cook und seine Crew als Erste den südlichen Polarkreis durchkreuzten. Das Packeis hielt sie ab, sich Antarktika weiter zu nähern.
Anfang des 20. Jahrhunderts, im sogenannten „Goldenen Zeitalter der Polarforschung“, lieferten sich Robert Falcon Scott und Roald Amundsen einen regelrechten Wettkampf um die Entdeckung des Südpols. Tatsächlich erreichte der Norweger das Ziel am 14. Dezember 1911. Scott, der am 17. Jänner 1912 dort eintraf, sah hier bereits die Flagge wehen, ein weiterer Tiefschlag im Zuge der Tragödie, in Folge der der britische Polarforscher und seine Leute nicht mehr lebend zurückkommen sollten. Offensichtlich hatte Scott auch auf die falsche Methode gesetzt. Anders als Amundsen, der mit Schlitten und 116 Hunden unterwegs war, hatte Scott auf Ponys und Motorschlitten vertraut. Amundsen hatte für die 2600 Kilometer 99 Tage gebraucht.
880 Kilometer in 50 Tagen mit Ski und Schlitten. Keine Versorgungsdepots,
kein Support aus der Luft.
EXTREM Organisationen: ALE (Antarctic Logistics and Expeditions), Lizenz zur Durchführung von Expeditionen, managt alle Logistik vor Ort, antarctic-logistics.com; PEC-S (Polar Expeditions Classification Scheme), Klassifikation, Dokumentation von Expeditionen in Polarregionen, pec-s.com
Doch vor allem ein Polarforscher war Inspiration für die Unternehmung der drei Österreicher: Ernest Shackleton, dessen 150. Geburtstag sich diesen 15. Februar jährte, hatte zwischen 1901 und seinem Ende 1922 an vier Antarktis-Expeditionen teilgenommen, drei davon selbst angeführt und dabei außergewöhnlichen Mut und enormes Verantwortungsbewusstsein bewiesen. Auch wenn seine Expeditionsziele von widrigen Umständen durchkreuzt wurden, gelang es dem britischen Forscher scheinbar ausweglose Situationen zu meistern. Seine Rettungsaktion, nachdem die „Endurance“im Packeis gesunken war, machte ihn legendär: 1916 waren die Überlebenden auf Elephant Island gelandet. Shackleton entschied, Hilfe zu holen, segelte mit einigen Seeleuten in einem Rettungsboot 15 Tage lang nach Südgeorgien und wanderte zu einer Walfangstation. Nach vier Monaten gelang es, alle Zurückgelassenen abzuholen und zu retten. Dass Shackleton so viele Hindernisse überwand, aber bei seiner vierten Expedition an Bord an einem Herzinfarkt starb, ist eine Ironie der Geschichte.
Vor allem gilt der Führungsstil Shackletons in der modernen Arbeitswelt als Vorbild: Der Optimist verstand in der misslichsten Lage, sein Team zu motivieren und für seine Leute einzustehen. In seiner berühmten Annonce hielt er mit der Wahrheit auch nicht hinter dem Berg: „Männer für gefährliche Reise gesucht. Geringer Lohn, bittere Kälte, lange Monate in kompletter Dunkelheit, ständige Gefahr, sichere Rückkehr ungewiss. Ehre und Anerkennung im Erfolgsfall.“
Unsupported heißt autonom. Komplette Dunkelheit und ständige Gefahr erleben moderne Explorer in Antarktika freilich nicht, aufgrund der professionellen Organisation solcher Abenteuer durch spezielle Veranstalter und Agenturen. Die Historie der Polarforschung bleibt dennoch ein Bezugspunkt für viele, die das Privileg haben, hier unterwegs sein zu dürfen. Neumann, der in heimischen Breitengraden als Wirtschaftstrainer, Speaker und Consultant arbeitet, hat sich mit Shackleton und der Expeditionsgeschichte eingehend beschäftigt. Auch die anderen wollten nicht alle modernen technischen Mittel ausreizen, sondern die extreme Landschaft unter elementareren Bedingungen erleben. Sie verzichteten auf jegliche Versorgungsdepots unterwegs und auf Unterstützung aus der Luft. Eine solche Expedition ist „unsupported“laut Pecs-Definition. „Es ist wie Segeln oder Rudern“, erklärt Prucker, „wir haben uns quasi für das Rudern entschieden, durch ein Meer aus Schnee und Eis.“
Das heißt, allein auf seine Fertigkeiten und Erfahrung gestellt zu sein. Nur in einem Notfall kommt die Twin Otter und holt einen da raus. Teilnehmer brauchen ein medizinisches Attest, haben einen Trainingsplan absolviert und einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Hilfreich ist ein Spezialkurs mit Bergrettern, wo man etwa das Nähen von Wunden lernt. „Satellitentelefon, GPS, Solar Paneel, Powerbank — erst nach einem Marathon an technischen Checks im Union Glacier Camp ging es wirklich los“, schildert Neumann. Die einzige Verbindung zur restlichen Welt war die tägliche Meldung via Satellitentelefon ins Camp, und man wird getrackt.
Das Packen ist ein enormer Aufwand. Nichts aber gegen die Formalitäten von der Idee bis zum ersten Tritt auf die antarktische Eismasse. „Eine Expedition zu checken, ist aufwändiger als die Expedition selbst“, so Guryeva, obwohl ein Teil der Vorbereitung in den Händen der ALE lag. Man braucht etwa eine Expeditionsbiografie; die konnten alle vorweisen. Guryeva und Neumann hatten bereits den Mount Vinson bestiegen, mit 4897 Metern der höchste Berg der Antarktis. Hinzu kommt die Arbeit an der eigenen Fitness: „Wir sind alle alpinistisch unterwegs“, so Neumann. Es hilft natürlich, auf Siebentausendern gewesen und eine Landesskilehrerausbildung gemacht zu haben.
Expeditionstrio: Alexandra Guryeva (55), Seminarleiterin, Vortragsrednerin; Ex-Sportpsychologin, Regenerationscoach internationaler Spitzensportler; Jens Neumann (48), Wirtschaftstrainer, Vortragsredner, Unternehmensberater, Skilehrer; Stefan Prucker (52), Regionalkoordinator bei einer Landesgesundheitsagentur.
Projekte:
Auflagen in der Antarktis sind sehr streng, vor allem auf der »letzten Meile« vor dem Südpol.
Was die drei Freunde noch verbindet, ist ihr Ernährungsstil. Anfangs waren viele ihnen gegenüber skeptisch: Vegan durch die Eiswüste? Sind da nicht traditionelles Trockenfleisch und Speck geeignetere Lieferanten von rund 6000 Kilokalorien pro Tag? Doch es hat funktioniert. „Das Essen muss maximale Kalorien bei minimalem Volumen und Gewicht liefern“, erklärt Neumann. Sie hatten auch darauf geachtet, dass kein Industriezucker drinsteckt und die Verpflegung zu 98 Prozent aus biologischem Anbau stammt. „Wir haben die Versorgung aus Österreich original verpackt nach Punta Arenas in Chile mitgenommen und dann umgepackt, denn es gibt Extraauflagen für den Abfall.“
Auf den letzten hundert Kilometern vor dem Südpol sind die Auflagen noch einmal restriktiver: Dort darf kein Essensrest, keine menschliche Hinterlassenschaft liegenbleiben. „Wir haben jeden Brösel aufgehoben“, erzählt Neumann. „Allein die Vorstellung, hier etwas zu hinterlassen, mutet an, als würde man ein Kunstwerk zerstören.“Ein Stück Erhabenheit, so unwirtlich es auch sein mag.