Trotzdem Freunde
Die Israelin Inbal Volpo und der Palästinenser Osama Zatar sind Freunde – und wollen gemeinsam der Opfer des gedenken. Erinnerungen an das Land ihrer Kindheit.
Sie sind dann Freunde geworden. Bevor sie sich aber so nennen konnten, Freunde nämlich, haben Inbal Volpo und Osama Zatar einander „getestet“, so sagt es Volpo vorsichtig, denn vielleicht bringt es dieses Wort auch nicht richtig auf den Punkt. Sie haben sich bei Gesprächen an ihre Ansichten herangetastet. Für eine Freundschaft wie diese, so scheint es, reichen gemeinsame Interessen nicht aus, Erinnerungen an die Schulzeit oder das stimmige Zusammenspiel zweier Charaktere. Bevor sie sich Freunde nannten, mussten sie sich durch die große und lange Wand kämpfen, die sie als Kinder und Jugendliche getrennt hat. Diese Wand kommt zwischen Volpo und Zatar immer wieder zu Wort, eigentlich dauernd.
Zatar: „Für mich war das so unglaublich. Ich habe ich mich immer gefragt: Wie können die unser Leid nicht sehen?“
Volpo: „Wir sehen es nicht. Buchstäblich. Da ist die Wand.“
Die Israelin Volpo und der Palästinenser Zatar haben sich vor einigen Jahren in Wien kennengelernt. Volpo war erst nach Österreich gezogen und Zatar schon lang Teil und Gründungsmitglied der Wiener One State Embassy, eines palästinensisch-israelisches Projekts, das Frieden und Koexistenz über die Kunst vermittelt – und dessen Aktivitäten etwas eingeschlafen waren. Für die Revitalisierung mussten Volpo und Zatar erst zueinanderfinden. Heute sitzen beide in Inbal Volpos Wohnzimmer und träumen von einer Botschaft, einem richtigen Gebäude mit einer echten Adresse. Es soll ein Ort für Ausstellungen und Veranstaltungen sein. Ein Ort des Dialogs, des kritischen Denkens, ein Raum für Aufarbeitung, aber vor allem eine Adresse, die für Israelis und Palästinenser, für alle Menschen aus Konfliktzonen gleichermaßen zur Residenz wird.
Volpo: „Wir sind beide mit so viel Gewalt aufgewachsen. Er hatte Angst vor dem israelischen Militär, ich vor Terroranschlägen.“
Zatar: „Wir Palästinenser sind verloren, weil uns dieser Konflikt zermürbt. Sie sind verloren wegen ihrer Geschichte, wegen des Holocaust. Wir leben in Angst, sie leben in Angst.“
Die Suche nach einer Botschaft
Die Suche nach einer Botschaft gestaltet sich schwierig, es finden sich wenige Sponsoren. Doch für die Veranstaltungen der One State Embassy interessiert sich ein immer größer werdendes Publikum. Erst vor wenigen Tagen haben die Künstler in der ehemaligen Wiener Semmelweis-Klinik das Symposium „Hier & Jetzt“veranstaltet, mit Workshops, Diskussionsrunden und Kunstprojekten rund um den Konflikt im Nahen Osten. Sosehr das Interesse auch steigt, stoßen beide noch immer an dicke Mauern. „Wir werden nicht gemocht“, sagt Volpo dazu, „weder von der jüdischen Seite noch von der palästinensischen. Weil wir über Koexistenz sprechen. Über Dialog.“
Erst kürzlich hätten ihr propalästinensische Gruppen erklärt, dass sie nicht an Veranstaltungen mit Zionisten teilnehmen würden, „weil für sie Zionismus
wie Nazismus sei“, berichtet Volpo. Und am nächsten Tag werde ihr von jüdischer Seite Antisemitismus vorgeworfen, weil sie Israel und die israelische Besatzungspolitik kritisiere. „Warum ist das so? Warum sagen und finden sie das? Setzen wir uns hin. Reden wir darüber. Wir kommen sonst nicht weiter.“
Auf der anderen Seite. Osama Zatar ist in einer kleinen Ortschaft nahe Ramallah aufgewachsen. Was in seiner Kindheit überall war: Militär und Verbote. Einmal kämpfte sich ein Bagger durch sein Dorf, Zatar erinnert sich an die bubenhafte Aufregung, die er beim Anblick der Maschine verspürte. Und dann rammte der Bagger das Nachbarhaus – und hörte nicht mehr auf. Als Achtjähriger habe er nicht verstanden, wie so eine tolle Maschine seine Straße kaputtmachen könne, sagt Zatar.
Es blieb der Schutt, und zwar auch als Sinnbild für die andere Seite. „Israel, das war wie eine Fantasiewelt für uns“, sagt der Künstler und Bildhauer mit den zusammengebundenen Haaren und den Farbspuren an seinen Fingern. „Wir haben uns eine Welt voller Soldaten und Siedler vorgestellt. Andere haben wir ja nicht gesehen.“Zatar war 15, als er das erste Mal nach Israel, also 20 Kilometer weiter, fuhr. Ein Schock sei das gewesen, ein Kulturschock. Warum? Weil da „normale Menschen“ihrem Alltag nachgingen.
Zatar: „Ich habe beschlossen, ihre Sprache zu lernen, um mit ihnen kommunizieren zu können.“
Volpo: „Das hast du schön gesagt. Bei uns hieß es immer: Wir müssen Arabisch lernen, um verstehen zu können, was die anderen über uns reden.“
Vieles blieb in Zatars Familie unausgesprochen, vielleicht auch, weil niemand Worte fand. Die Freizeit der Kinder auf der Straße, die war alles, nur nicht unbeschwert. „Wir liefen immer Gefahr, verhaftet zu werden“, sagt Zatar, „da reichte es, über Palästina zu sprechen.“ Allein die Farben Rot, Grün und Schwarz zu besitzen, sei es nur als Farbstifte, war suspekt, und gar verboten. Das Rot, mit dem Zatar malte, war nicht wirklich rot, eher orange, und Grün war auch nicht grün. Die Farben der palästinensischen Flagge durften nicht existieren, jemand könnte damit Graffiti an die Wand schmieren.
Allein die Farben Rot, Grün und Schwarz zu besitzen,
gestaltet sich schwierig, es finden sich kaum Sponsoren. war suspekt, gar verboten.
Zatar: „Die Palästinenser haben Rechte. Der Kampf gegen die Okkupation muss meiner Ansicht nach geführt werden. Aber nicht so, wie dieser Kampf gegen mich geführt wurde. Nämlich gewaltsam.“
Volpo: „Ich glaube an die Kraft der Zivilgesellschaft. Wir müssen beginnen, die Menschen auf der jeweils anderen Seite als Menschen wahrzunehmen. Ihre Geschichte zu verstehen. Religion und Nationalismus beiseitezuschieben.“
Als junger Mann hat Osama Zatar beschlossen, Kunst zu studieren. Er lebte und arbeitete in Jerusalem, zog später, mit Ende 20, mit seiner israelischen Frau zunächst nach Deutschland, dann nach Österreich. Was er immer mitnahm, war die Idee für einen gemeinsamen Raum; die Welt, in der er aufwuchs, war zerstückelt genug. In Klosterneuburg konnte er 2008 mit anderen Künstlern wie Tal Adler ein Projekt realisieren, das in der Folge zu One State Embassy wurde. Zatar blieb in Österreich, setzte sein Studium an der Akademie der bildenden Künste fort. Er sei, so sagt er, ein Bürger mit einem palästinensischen Pass.
Räumung der Siedlungen. Inbal Volpo ist in der Siedlung Oranit im Westjordanland aufgewachsen, einer Siedlung, die auf Kosten des palästi
»Die meisten israelischen Medien blenden die Realität im Westjordanland und in Gaza aus.« INBAL VOLPO Israelische Künstlerin
nensischen Landes entstanden ist, wie sie erst viel später erfahren und anerkennen sollte. Die Siedlung befindet sich entlang der Grünen Linie, einer Waffenstillstandslinie, innerhalb der Grenze nach dem Sechstagekrieg 1967. Anfang der 1980er-Jahre begannen erste Siedler, mit Unterstützung von Privatunternehmen hier ihre ersten Häuser zu bauen. „Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass wir das, was wir haben, schützen müssen“, erinnert sich Volpo zurück an ihre Kindheit in der umstrittenen Ortschaft, die zeitweise von Räumung bedroht war.
Als Heranwachsende sah sie Bilder der Räumung von jüdischen Siedlungen in Gaza, die Kämpfe zwischen Siedlern und Militär, „und wir waren bereit, das Gleiche zu tun. Das war so normal für uns. Das ist der Grund, warum alles so gefährlich ist. Wir glauben, das ist normal.“Während der Zweiten Intifada war auch Oranit Ziel von Anschlägen, und was immer blieb, war die Angst um das eigene Leben.
Volpo wuchs in einem nationalistischen Umfeld auf, bis sie an der KunstUniversität inskribierte, war sie selbst rechts und nationalistisch eingestellt, wie sie erzählt. „Wir haben nur die Narrative gekannt, die uns erzählt wurden. Uns, mir und Osama, wurde nicht beigebracht, kritisch zu denken.“Diese Narrative brauche man, um künftige Soldaten zu erziehen. Ja, das mag unglaublich klingen, sagt die Künstlerin; aber was hinter der Wand, hinter Oranit passierte, auf der palästinensischen Seite, habe sie einfach nicht gewusst. Es sei schlicht und ergreifend nicht thematisiert worden.
Volpo: „Die Menschen glauben mir nicht, wenn ich das sage. Aber die meisten israelischen Medien blenden die Realität im Westjordanland und in Gaza aus. Wenn du dich über die israelische Besetzung informieren willst, musst du gezielt danach suchen.“
Zatar: „Ich habe als Jugendlicher gedacht: Sie kennen uns einfach nicht. Sie wissen nicht, wie wir denken. Mir war die politische Dimension damals nicht bewusst.“
Beginnend mit den Studienjahren hat sich Inbal Volpo immer mehr von ihrer Umgebung in der Siedlung entfremdet. Es sei mit jedem Tag schwieriger geworden, sich mit ihren Freunden zu unterhalten. Sie habe die Ignoranz nicht mehr ertragen, und am allerwenigsten an jenem Tag, an dem die Knesset das neue Nationalstaatsgesetz verabschiedet und Israel als Staat des jüdischen Volks definiert hat. Damit, so Volpo, wurden alle anderen, vor allem die arabische Bevölkerung, zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. „Kaum jemand in meiner Umgebung hat darauf reagiert. Nur Stille. Ich dachte, das war’s. Ich muss weg, einen normalen Ort finden.“
»Als dritte Generation nach dem Holocaust kann ich mich glücklich schätzen, dass ich existiere.«
Die Gewaltspirale. Die Auseinandersetzung mit Grenzen ist ein wesentlicher Bestandteil in Volpos künstlerischem Schaffen. In ihrem Wohnzimmer hängen Zeichnungen und Grafiken an der Wand, unter anderem ein Bild von den Grenzen, die die Israelis und Palästinenser trennen. Bald wird Volpo zum ersten Mal Mutter; sie hält ihren Bauch fest, und auch sonst ist sie fest entschlossen.
Volpo: „Wir müssen die Generation sein, die den Frieden schafft. In allen Generationen vorher wurden die Toten zu Märtyrern gemacht. Sie seien für die gute Sache gestorben. Ich weigere mich, meinem Kind diese Diktion weiterzugeben.“
Zatar: „Denn wenn wir das machen, wird sich die Gewaltspirale weiterdrehen.“
Dass die Familie Volpo in Wien gelandet ist, sei purer Zufall gewesen, erzählt sie: Ihr Mann habe hier eine Stelle bekommen. Erst nachdem sie sich in Wien eingerichtet hatten, suchte Volpo das jüdische Archiv auf und erfuhr, dass ihre eigene Großmutter in Wien auf die Welt gekommen war, ein paar Straßenzüge weiter von ihrer jetzigen Adresse. Ja, ein seltsames Gefühl, diese plötzliche Verbindung zu Österreich zu haben. „Diese Generation hat nicht gesprochen“, sagt Volpo, „über die Zeit, bevor sie nach Palästina kam.“Große Teile der Familie ihrer Großmutter wurden von den Nationalsozialisten ermordet, so auch die Familie mütterlicherseits, die aus Galizien stammte. „Nach dem Holocaust waren sie komplett allein auf der Welt.“
Wenn sie von ihrem Wiener Wohnzimmer aus an ihr Land denke, erkenne sie vielleicht viel deutlicher, dass sie eine Gesellschaft gefangen im Trauma sind. Und es erfasse sie diese unbändige Trauer, „weil wir so rassistisch und nationalistisch geworden sind, weil wir die Palästinenser nicht als Menschen sehen. Wir haben nichts gelernt. Es ist traurig für mich, die Nation so zu sehen. Denn ich habe keine andere Nationalität, keine andere Kultur, keine andere Geschichte.“
Gemeinsames Gedenken. Und dann kam der 7. Oktober. Die radikalislamische Hamas massakrierte in zahlreichen Kibbuzim und Siedlungen Hunderte Zivilisten und Kinder, sie nahmen Geiseln fest und zogen eine Blutspur durch ein Psytrance-Festival in Re‘im. Rund 1200 Menschen wurden getötet, zahlreiche weitere verletzt und vergewaltigt.
Volpo: „Das war das Schlimmste, was wir je gesehen haben.“
Zatar: „Es war ein Schock.“
Es gebe so viele Palästinenser, die nichts mit der Hamas zu tun haben, sagt Zatar, zu tun haben wollen. Und so viele von ihnen würden jeden Tag sterben, seitdem Israel die Offensive gestartet hat. Den Palästinensern sei gar nicht die Zeit geblieben, die Ausmaße des 7. Oktober zu verarbeiten, zu realisieren, was die Hamas an diesem Tag angerichtet hat. Denn nach dem 7. Oktober überrollt auch sie eine neue Gewaltserie.
Schon seit einigen Jahren gärt in der One State Embassy eine Idee, die zunächst nicht umgesetzt wurde. Während des letzten Gaza-Kriegs vor mehr als zwei Jahren hisste das Bundeskanzleramt in Wien die israelische Flagge, die Solidaritätsbekundung wurde nicht überall mit Wohlwollen aufgenommen. „Es gibt Pro-Israel, es gibt Pro-Palästina, aber wer steht dazwischen?“, fragt Volpo und meint den Raum, der für die Opfer beider Seiten zur Verfügung gestellt werden sollte.
Damals entstand die Idee, diesen Raum zu schaffen, als einen Ort, der Hoffnung gibt. Nach dem 7. Oktober schließlich rief die One State Embassy das Projekt „Standing Together Vienna“ins Leben. Rund zwei Wochen nach dem Massaker und nach Kriegsbeginn luden die Initiatoren zu einem gemeinsamen Gedenken auf dem Platz der Menschenrechte in Wien ein.
Es gab Regeln. Keine Fahnen. Keine Slogans. Keine politischen Parolen. Keine Nationalismen. Im Mittelpunkt stand die gemeinsame Trauer, für die Opfer des Massakers und für die Kriegstoten. Im Mittelpunkt stand die Solidarität mit den jüdischen Gemeinden, die sich gegen antisemitische Angriffe wehren müssen, und die Solidarität mit der arabischstämmigen Community, die sich pauschal als Terroristen dargestellt sieht. „Wir stehen zusammen für die Menschen hinter den Zahlen“, sagt Volpo dazu. Die Aktion fiel auf im deutschsprachigen Raum. Die anderen sind lauter, das sagen auch die beiden Künstler Zatar und Volpo.
Zatar: „Wir haben trotzdem gehofft, dass ein paar Leute kommen. Wir waren uns nicht sicher.“
Volpo: „Es kamen mehr als 1000. Wir konnten es nicht glauben.“
Es geht Volpo und Zatar darum,
auf Menschenrechte zu pochen, auf die Gleichberechtigung.
Das Gedenken fand Nachahmer im gesamten deutschsprachigen Raum. Seither wird die jüdisch-arabische Mahnwache regelmäßig abgehalten – jeden Mittwoch, 15 Minuten, auf dem Platz der Menschenrechte. Sosehr sich Zatar und Volpo über jeden Besucher freuen, mit der Zeit werden es immer weniger, sagen sie. Je länger der Krieg andauere, desto härter werden die Fronten, desto unwahrscheinlicher ein rascher Frieden und somit eine mögliche Versöhnung.
Volpo: „Dieser Krieg ist etwas komplett Neues. Wir sehen, wie weit die Politiker bereit sind zu gehen. Es geht nicht um Schutz. Es geht nicht darum, die Geiseln zurückzubringen. Es geht um Rache.“
Zatar: „Die militärische Dimension dieses Kriegs ist nicht das, was wir gewohnt sind.“
Für Volpo, die Israel mit dem Gedanken verlassen hat, dass es nicht schlimmer werden könne, ist die aktuelle israelische Politik kaum zu verdauen, wie sie erzählt. Keine Sekunde traue sie den Vertretern der extremen Rechten in der Regierung, zumal radikale Minister wie Itamar Ben-Gvir wegen rassistischer Hetze bereits verurteilt wurden. „Es fühlt sich an“, sagt Volpo, „als wollten sie diesen Krieg nicht nur nicht beenden, sondern erweitern.“Die Hamas, sagt Zatar, werde parallel dazu immer radikaler, immer extremer.
Kein zweiter Boden. Wenn man Volpo und Zatar zuhört, wie sie über die Erde sprechen, auf der sie ihre Kindheit verbracht haben, bleibt trotz aller brutalen Erinnerungen eine zärtliche Note zurück. Sie drückt sich in dem Wunsch aus, einander zu sehen, buchstäblich. Sich zu verstehen. Es ist wohl das, was man Hoffnung nennt.
Zatar: „Meine Eltern denken nicht so wie ich. Sie können sich keinen Frieden vorstellen, weil sie nie Frieden hatten.“
Volpo: „Als dritte Generation nach dem Holocaust kann ich mich glücklich schätzen, dass ich existiere.“
Als Künstler seien beide nicht in der Lage zu sagen: Das und das ist die Lösung. Vielmehr gehe es ihnen darum, auf Menschenrechte zu pochen, auf Bürgerrechte und auf Gleichberechtigung. Die „Botschafter“der One State Embassy würden dafür einstehen, mit den Mahnwachen, aber auch mit den Veranstaltungen, die sie im Lauf des Jahres noch realisieren wollen.
Volpo: „Dialog kann Menschen ändern.“
Zatar: „Die militärische Lösung ist keine Lösung.“