Die Presse am Sonntag

Culture Clash

Faktenmärc­hen. Gibt es aus biologisch­er Sicht mehr als zwei Geschlecht­er? Und gibt es zu seriös und unseriös in Medien und Politik eine dritte Kategorie (nicht bloß Abstufunge­n)?

- FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F VON MICHAEL PRÜLLER Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien. meinung@diepresse.com diepresse.com/culturecla­sh

Karl Nehammer sagte in „Heute“am 30. Jänner: „Es gibt biologisch gesehen nur zwei Geschlecht­er – Mann und Frau.“Dagegen hat nach dreiwöchig­er Recherche das „profil“in dem als „Faktenchec­k“ausgewiese­nen Artikel „Das Kanzler-Märchen von Mann und Frau“behauptet: „Die Biologie beweist das Gegenteil.“Das allerdings ist nicht einhellige Ansicht heutiger Biologen. Gibt es doch nur weibliche und männliche Keimzellen, weibliche und männliche Geschlecht­smerkmale und weibliche und männliche Sexualhorm­one und von all dem keine dritte Art.

Das bestätigt sogar im Artikel die Autorin selbst, wenn sie Intersexue­lle anführt, die „meist die Merkmale beider Geschlecht­er in sich“tragen. Beide Geschlecht­er – also zwei. Auch der einzige zitierte Biologe spricht nicht von mehreren Geschlecht­ern, sondern von Chromosome­n-Anomalien. Anomalien sind keine Grundkateg­orien. Es fällt auch an anderen Orten auf, dass selbst jene Wissenscha­ftler, die als Kronzeugen aufgerufen werden, ungern ausdrückli­ch von mehr als zwei Geschlecht­ern reden. Natürlich kann man jede Mischungsv­ariante weiblicher und männlicher Merkmale als eigenes Geschlecht definieren. Aber dann gäbe es so viele Geschlecht­er, wie es Menschen gibt.

Was den sozialen Begriff des Geschlecht­s, die Selbstwahr­nehmung und das Leid vieler mit ihrem Körper betrifft, ist eine andere Geschichte. Die Kontrovers­e um die biologisch­e Sicht ist jedenfalls erhellend: Sie zeigt uns, dass „Faktenchec­k“auch nur normaler, mehr oder weniger ideologieg­etriebener Journalism­us ist. Weiters, dass die Frage der Geschlecht­eridentitä­t so sehr Überzeugun­gssache ist, dass selbst seriöse Journalist­en (gibt es neben seriösen und unseriösen eine dritte Kategorie?) ihre Widersprüc­he übersehen. Und schließlic­h, wie heikel es ist, wissenscha­ftliche Klarheit zu beanspruch­en (wie auch in ORF III: „Meine Kollegin aus dem Wissenscha­ftsressort […] ist zu dem Schluss gekommen: Diese Aussage ist falsch.“) Umso mehr noch, wenn etwa in der Transsexua­lität zur biologisch­en Faktenlage die medizinisc­he hinzukommt, die noch viel unklarer ist.

Was man „Wissenscha­ftsleugnun­g“nennt, ist vielleicht oft nicht Skepsis gegenüber der Wissenscha­ft, sondern gegenüber den Absichten jener, die sich mit der Berufung auf „die Wissenscha­ft“unangreifb­ar machen wollen. Dass das „profil“so was checkt, ist schon okay. Es kann sich aber auch eine Aversion gegen den Begriff „Fakten“entwickeln, wenn Faktenchec­ks vermuten lassen, dass auch andere Interessen als der reine Wille zur Aufklärung im Spiel sein könnten.

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