Saudische Visionen
Reformprogramm.
Die Stimme aus dem Lautsprecher übertönt mühelos den Straßenlärm. Eindringlich ruft sie die Gläubigen zum Mittagsgebet. Vor einigen Jahren hätten jetzt die Geschäfte und Lokale hier rasch schließen müssen. Alles Weltliche hätte Pause gehabt – so lang, bis die religiösen Pflichten erfüllt und die Gebete verrichtet worden sind. Doch das ist jetzt anders. Die Cafés in der TahliaStraße bleiben geöffnet. Junge Männer und Frauen nippen weiter an ihrem Latte macchiato, während die Stimme im Lautsprecher Gott preist. Früher wären sie von der Religionspolizei mit Schlägen vertrieben worden. Im neuen Saudiarabien, das dem einflussreichen Kronprinzen, Mohammed bin Salman, vorschwebt, soll das aber nicht mehr vorkommen.
MbS, wie er genannt wird, will das Land als starke Regionalmacht positionieren – in einer unruhigen Gegend, in der der Gaza-Krieg alles überschattet und Player wie der Iran aktiv sind. Saudiarabien ist interessant für Investoren. Delegationen aus aller Welt sind hier zu Gast, zuletzt auch Österreichs Ministerin für Europa und Verfassung, Karoline Edtstadler. Der Kronprinz will die
Saudiarabiens Kronprinz, Mohammed bin Salman, plant ehrgeizige Megaprojekte und verordnet dem islamisch-konservativen Golfstaat ein Die absolute Macht gibt er aber nicht ab. Der Gaza-Krieg und die Krise im Roten Meer trüben die Aussichten auf Frieden in der Region. Ein Lokalaugenschein.
Wirtschaft des erdölreichen Landes breiter aufstellen. Und er verspricht, den islamisch-konservativen Golfstaat von Grund auf zu modernisieren. Wer sich ihm und dem Königshaus in den Weg stellt, muss aber weiterhin mit staatlicher Gewalt rechnen.
Die Tahlia-Straße in Saudiarabiens Hauptstadt Riad bietet vieles für den Zeitvertreib: Cafés, Restaurants und Modegeschäfte sind zu beiden Seiten der Straße aufgefädelt. Auf dem breiten Gehweg daneben steht eine Reihe von E-Scootern. „Go smart, go green“, verspricht die Aufschrift auf den Elektrorollern; eine erstaunliche Botschaft in einem Land, das durch gewaltige Ölvorkommen reich geworden ist. Etwas abseits parken massive SUVs. Treibstoff ist hier nach wie vor sehr billig.
An den Laternenmasten, die die Fahrbahn säumen, hängen saudische Nationalflaggen – die grünen Banner mit dem Schwert und der Shahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis: „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter.“Die Saud-Familie hatte schon im 18. Jahrhundert ein Bündnis mit den radikalen Wahhabiten geschlossen, um Teile der arabischen Halbinsel unter ihre Kontrolle zu bringen. In Saudiarabien liegen die im Islam heiligen Städte
Kinos durften aufsperren. Große Shoppingmalls schießen überall
Mekka und Medina. 1979 besetzten bewaffnete Extremisten die große Moschee in Mekka. Das Königshaus schlug den Aufstand nieder. Doch als Folge verschärfte es die rigide islamische Gesetzgebung, um so die radikalen Kräfte im Land zu besänftigen. Jihadisten-Organisationen wie al-Qaida oder der sogenannte Islamische Staat (IS) beschimpfen die saudischen Herrscher trotzdem als „Ungläubige“.
Der Kronprinz versucht nun, den Einfluss der religiös-konservativen Kräfte zurückzudrängen. Er dekretierte, dass Frauen Autofahren dürfen, ihre Beschäftigungsquote wurde laut saudischem Wirtschaftsministerium in den vergangenen fünf Jahren von 17 auf 36 Prozent erhöht. Auch die Bekleidungsvorschriften wurden gelockert. Viele
Frauen in Riad tragen nach wie vor einen schwarzen Niqab, die Vollverschleierung – manche aber nicht einmal ein Kopftuch.
Musik und „Ladies Fitness“. Auch Kinos durften aufsperren. Museen wurden eröffnet. Die Biennale in Riad zeigt derzeit in sechs großen Hallen die Werke von 100 internationalen Künstlern.
Große Shoppingmalls schießen überall aus dem Boden. Sie sind ein wichtiger Teil der Freizeitgestaltung. Im „U Walk Shopping Centre“am Rande des gewaltigen König-Saud-Universitätscampus in Riad reiht sich ein Modegeschäft an das nächste. Ein Plakat wirbt für ein „Ladies Fitness“-Center. Aus einem Fenster tönt laute Musik.
Klar ist aber: Die Reformen werden von oben verordnet und gewährt. Politische Initiativen von unten tolerieren die Machthaber nicht. Das bekamen mehrere Frauenrechtlerinnen zu spüren, die 2018 ins Gefängnis geworfen und misshandelt wurden. Die Prominenteste von ihnen, Loujain alHathloul, kam erst 2021 frei. Internationale Organisationen kritisieren die Lage der Menschenrechte. Enthauptungen und andere Körperstrafen sind weiter Teil des saudischen Justizsystems. Für internationale Empörung sorgte der Mord an Jamal Khashoggi. Der Kritiker des Kronprinzen wurde 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul umgebracht und seine Leiche offenbar zerstückelt.
Bei seinen Verbündeten im Westen litt das Image Mohammed bin Salmans lang unter der schaurigen Tat. Mittlerweile scheint er aber wieder rehabilitiert. Sein ehrgeiziges Wirtschaftsprogramm zieht internationale Firmen an. 2030 findet in Riad die Weltausstellung Expo statt. Bis dahin will er zahlreiche Megaprojekte umsetzen. Plakate auf einer langen Wand in der Hauptstadt zeigen ein Meer aus grünen Bäumen. Hinter der Absperrung wird eifrig gearbeitet. Hier soll – im Herzen des Wüstenstaats – der König-Salman-Park entstehen, eine der größten Grünanlagen der Welt.
Eine neue Millionenstadt. Eines der gewaltigsten Vorhaben im Rahmen von Mohammed bin Salmans „Vision 2030“ist das Siedlungsprojekt Neom im Nordwesten des Landes. Auf 26.500 Quadratkilometern werden Industriezentren,
Ferienresorts und die neue Stadt The Line aus dem Boden gestampft. Sie soll einmal neun Millionen Menschen beherbergen und zu hundert Prozent mit erneuerbarer Energie versorgt werden. Am Roten Meer ist auf 28.000 Quadratkilometern ein gigantisches Tourismusprojekt mit Dutzenden Hotels geplant.
Internationale Urlauber werden nur kommen, wenn sie sich sicher fühlen. Doch derzeit treiben im Roten Meer Jemens Houthi-Milizen ihr Unwesen und greifen Schiffe an. „Die Houthis sagen, dass sie mit den Attacken aufhören, sobald der Gaza-Krieg vorüber ist. Doch das werden sie nicht tun“, fürchtet der einflussreiche saudische Analyst Abdulaziz O. Sager. Die saudischen Streitkräfte kämpften jahrelang gegen die Houthi-Miliz im Jemen. Derzeit herrscht eine Waffenruhe. „Die saudischen Truppen im Jemen sind in einer Stand-by-Position“, erklärt Sager. Zugleich bekräftigt der Leiter des Gulf Research Centers, dass Saudiarabien kein Interesse an einer neuen Eskalation habe. Um die Houthis im Roten Meer zu stoppen, müsste sich der Westen mit ihren Hintermännern beschäftigten. „Wer versorgt sie mit Informationen über die Routen der Schiffe? Der Iran.“
Der Iran ist Saudiarabiens Erzrivale in der Region. Doch zuletzt setzten beide Länder auf Entspannung. In Riad ist man aber weiterhin über Irans „expansive Politik“besorgt : Teheran unterstützt bewaffnete Milizen – vom Jemen über den Irak bis zum Libanon.
»Wir waren schon sehr nah an einem Abkommen mit Israel. Doch dann kam der 7. Oktober.«
So wie die Israelis sehen auch die Saudis in Irans Atomprogramm eine Bedrohung. Die Golfmonarchie hatte zuletzt mit Israel über eine offizielle Normalisierung der Beziehungen verhandelt. „Wir waren schon sehr nah an einem Abkommen“, berichtet der Analyst Sager. Doch damit ist es nun vorbei. Grund dafür ist der Gaza-Krieg. Die Saudis verurteilten den Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober. Zugleich kritisieren sie aber Israels Vorgehen im Gazastreifen. Auch Sager stellt klar: Ohne eine dauerhafte Friedenslösung, die die Schaffung eines Palästinenserstaates vorsieht, werde es keine Normalisierung mit Israel geben.
Solang die Lage der Menschen in Gaza so verheerend ist, wird sich die saudische Führung hüten, auf Israel zuzugehen. Der Kronprinz vollführt einen außen- und innenpolitischen Balanceakt: für seine Vision eines modernen Saudiarabien – in dem die Monarchie die ganze Macht behält.