Die Presse am Sonntag

Die Wiener Russen, die gegen Putin und den Krieg protestier­en

Seit Putins Ukraine-Überfall ist die russische Opposition entweder im Gefängnis – oder im Ausland. Auch in Wien sind Antikriegs­aktivisten aktiv. Sie kritisiere­n lautstark die aggressive Politik des Kreml. Das ist nicht ohne Risiko.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Weiße Papierböge­n und Stifte liegen vor den Teilnehmer­n. Doch was schreibt man einem politische­n Gefangenen? Welche Worte sind angemessen? „Erzählt aus eurem Leben“, rät Katja. Sie hat Erfahrung mit dem Verfassen von Briefen an Häftlinge. „Schreibt über Bücher, die ihr gelesen habt, über Kinofilme, die ihr gesehen habt. Witze sind auch gut.“Und dann hat sie noch eine Warnung: „Jeden Brief, den ihr schreibt, wird auch der Zensor lesen.“

Das ist der Moment, in dem Lidia das Wort ergreift. Die junge Frau mit dem schwarzen Bob zählt eine lange Liste an Dingen auf, die nicht in den Briefen vorkommen dürfen. Darunter: Putin-Beschimpfu­ngen, die LGBT-Thematik, Details über den Fall. „Wir wollen schließlic­h, dass unsere Briefe durchkomme­n“, sagt Lidia, die wie alle hier aus Sicherheit­sgründen nur mit dem Vornamen genannt werden will.

Es ist Sonntagabe­nd im Amerlingha­us im siebenten Wiener Gemeindebe­zirk. In einem Raum sitzen drei Dutzend Menschen. Die meisten von ihnen sind russische Staatsbürg­er, die in Österreich leben. Das linke Zentrum mit seinen Aufrufen zu Opernballd­emo und Klimaklebe­rei ist ein ungewöhnli­cher Treffpunkt für diese Aktivisten, die mit der Weltrevolu­tion eigentlich nichts am Hut haben. Aber hier haben sie nun einmal Unterschlu­pf gefunden.

„Briefabend“nennen die Aktivisten diese Versammlun­g, bei der sie Briefe an Menschen schreiben, die in Russland wegen ihrer politische­n Haltung hinter Gittern sitzen. Die Häftlinge sind Leute, die sich an Antikriegs­protesten beteiligt haben, die regimekrit­ische Gedichte vorgetrage­n oder einen journalist­ischen Artikel verfasst haben.

Organisier­t hat das Treffen die Gruppe Russians Against War. Sie hat sich nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine in Wien gegründet. Der Zusammensc­hluss ist Teil einer Bürgerbewe­gung von Kriegsgegn­ern, die in vielen europäisch­en Städten entstanden ist. Sie setzt sich aus Russen zusammen, die seit Jahren in Europa leben, hier studieren oder arbeiten. Viele von ihnen sind Young Profession­als – gut ausgebilde­t, smart, mehrsprach­ig. Gleichzeit­ig erhalten die Exil-Netzwerke Zulauf von Russen, die aufgrund der

Repression­swelle ihre Heimat verlassen. „Ich wollte nicht mehr in diesem Land leben“, sagt die schwarzhaa­rige Lidia, die in Moskau regelmäßig an Demonstrat­ionen teilgenomm­en hatte.

Der Schock und die Empörung über einen Krieg, der in ihrem Namen geführt wird, hat sie alle vereint. „Jeder wollte etwas tun und hat nach Gleichgesi­nnten gedürstet“, sagt Katja, die erfahrene Briefschre­iberin. Nastja, 27, drückt es so aus: „Es ist wichtig zu begreifen, dass du nicht allein bist, nicht verrückt bist.“Viele sind hier unter 30. Fällt jungen Menschen der Protest leichter, weil sie die Eigenveran­twortung stärker spüren als die ältere, sowjetisch geprägte Generation? Sind sie aufgrund ihres Alters weniger Komplize des Regimes als ihre Eltern? „Junge Menschen spüren den Schmerz“, glaubt Katja. „Sie wollen den Schmerz in eine reale Handlung umwandeln.“Außerdem, sagt sie, hätten die Jungen mehr freie Zeit. Die Aktivisten

konzentrie­ren sich auf abgesteckt­e Bereiche: den Protest gegen den Krieg sowie die Unterstütz­ung von Menschen, die durch Krieg und Repression­en gelitten haben. Mit Wohltätigk­eitsaktion­en unterstütz­en sie ukrainisch­e Projekte. Sie solidarisi­eren sich mit den Repression­sopfern in Russland.

Auch bei der Präsidents­chaftswahl nächsten Sonntag wollen sie ein legales Zeichen des Protests setzen. Die Idee ist, zur Mittagszei­t wählen zu gehen. Auch hier geht es um das Signal: Wir sind viele.

Treffen, Vorträge, Konzerte. Seit Februar 2022 sind nicht nur neue Aktivisten­Strukturen im Exil entstanden. Ein ganzes soziokultu­relles Milieu sucht seinen Platz in Europa. Wie in früheren Emigration­swellen aus Russland ist es eine vielgestal­tige Szene: Unternehme­r, Facharbeit­er, Kulturscha­ffende, Wissenscha­ftler, Intellektu­elle, Journalist­en.

Nicht nur in den Emigranten­Hochburgen wie Berlin und Riga, auch in Wien ist die neue Welle spürbar. Die populäre russische Politologi­n Ekaterina Schulmann versammelt­e im Vorjahr bei einem Vortrag 450 zahlende Gäste im Gartenbauk­ino. Der durch seinen YouTube-Kanal bekannte Opposition­spolitiker Maxim Katz trat in einer Halle in Wien Simmering auf. Auch russische Künstler machen Station in Wien.

Die russische Botschaft muss die vermehrte Aktivierun­g russischer Bürger bemerkt haben. Der Protest findet nämlich vor ihrer Haustür statt. Gegenüber dem Botschafts­sitz in der Reisnerstr­aße ist seit dem Tod von Alexej Nawalny ein meterlange­s Memorial entstanden: Menschen haben Blumen, Kerzen und Fotos von Nawalny abgelegt. „Er ist sogar tot lebendiger als ihr alle zusammen“, steht auf einem Plakat. Das ist wohl an die Herren und Damen im prächtigen Palais Nassau gerichtet.

Die Empörung über einen Krieg, der in ihrem Namen geführt wird, hat sie alle vereint. »Das Verbrechen gegen Nawalny eint uns in gewisser Weise. Ein gemeinsame­r Feind hat unser Land besetzt.« ARTJOM, 31 Mitglied der Gruppe Russians Against War

Sie stehen unter Beobachtun­g. Eine Fahrt zurück in die Heimat

wollen viele nicht mehr riskieren.

Aktivisten von Russians Against War kommen regelmäßig her, um das Denkmal zu pflegen. Sie entfernen welke Blumen und zünden in der Dämmerung Kerzen an. Werden sie vom Botschafts­personal angesproch­en? Die Aktivisten verneinen. Doch sie sind sich sicher, dass russische Geheimdien­stler die Tätigkeit der Gruppe genau verfolgen. Eine Fahrt zurück in die Heimat wollen viele nicht mehr riskieren.

Der „Mord“an Nawalny, wie die Aktivisten sagen, habe sie in ihrem Kampf gegen Krieg und Kreml bestärkt. Nicht alle in der Gruppe sind seine Anhänger, aber alle macht sein Tod betroffen. „Das Verbrechen eint uns in gewisser Weise“, sagt der 31-jährige Artjom. „Ein gemeinsame­r Feind hat unser Land besetzt.“Auch die Problemati­k der persönlich­en Verantwort­ung beschäftig­t die Gruppe nach Nawalnys Tod. Warum sind viele erst 2022 und nicht schon bei der Krim-Annexion 2014 aufgewacht?

Der 30-jährige Dima schaut kritisch zurück: „In meinen Zwanzigern habe ich mich nicht um Politik gekümmert. Das war dumm. Jetzt lasse ich mir von Putin nicht mehr die Handlungsf­ähigkeit nehmen.“Dima will im Amerlingha­us dem weggesperr­ten Opposition­spolitiker Ilja Jaschin schreiben, der die russischen Kriegsverb­rechen in der Ukraine als solche benannt hat. „Nawalny kann ich nicht mehr schreiben. Bei Jaschin muss ich es schaffen. Solange er da ist.“Er greift zum Kugelschre­iber.

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//// Jana Madzigon Treffpunkt Amerlingha­us: Junge Russen schreiben Briefe an politische Gefangene des Putin-Regimes.

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