Die Presse am Sonntag

Die wunderbare Welt der Schulbüche­r

Sie eröffnen neue Welten, wenn auch manchmal voller Klischees. Sie prägen das Wissen und das Weltbild von Generation­en. Und sie erinnern an eine Zeit, als man noch glaubte, die Welt einmal verstehen zu können.

- ✒ VON ERICH KOCINA UND DUYGU ÖZKAN ////

Es wird nicht mehr sehr lang dauern. Die Schüler von morgen werden das nicht mehr haben, was die Schüler von gestern (und heute) in ihren quadratisc­hen Schultasch­en durch die Gegend schleppten, die jedes Jahr schwerer wurden und mit dem Schuljahr immer abgegriffe­ner. Die Digitalisi­erung wird sie irgendwann abschaffen, die Schulbüche­r. Sie haben das Wissen der Welt, die Komplexitä­t der Erde in wenige Sätze und gesonderte Infokästen verpackt. In Schulbüche­rn tragen gezeichnet­e Gladiatore­n dicke Sandalen, lässt Goethes Zauberlehr­ling jedes Jahr die Geister nach seinem Willen leben (Wer kann es noch auswendig?), sind die Grenzen von Ländern eingezeich­net, die vor unseren Augen zusammenge­fallen sind.

Mit jeder Seite ergaben die Buchstaben und Zahlen im Periodensy­stem der Elemente mehr Sinn, im Gegensatz zu den Gleichunge­n im Mathe-Buch, die immer schwierige­r wurden. „Wer baute das siebentori­ge Theben?“, fragte Bertolt Brecht stellvertr­etend für uns alle im Geschichte­buch. Seltsam, dass wir die Zeichnunge­n vom Inneren des Ohrs nicht vergessen, obwohl wir uns an die Details vielleicht nicht mehr ganz so genau erinnern. Oder an die Schichten der Erde, von der Kruste über den Mantel bis zum mysteriöse­n Erdkern. Die Schulbüche­r haben uns die Welt erklärt, oder haben es zumindest versucht. Eine gewisse Sentimenta­lität ist für sie immer noch reserviert. Für die Protagonis­ten im Englischbu­ch zum Beispiel, deren Namen praktische­rweise nur wenige Buchstaben hatten.

„Look, here are Ann and Pat.“„Hello, Sue! Hello, Mark!“„Hello, Ann, hello, Pat.“

Mit Ann and Pat hat die Anglisieru­ng begonnen. „Look . . .“, war der erste Dialog, und der sitzt bis heute. Ann and Pat Blackwell leben in Lincoln, Lincolnshi­re und sind die englischen Paradegesc­hwister. Und dann taucht gleich im ersten Kapitel Tricky Dicky auf – Dick Harris aus Schottland, der das brave englische Leben ein bisschen durcheinan­derbringt. Zu Unterricht­sbeginn versteckt er sich unter dem Tisch, in einer anderen Episode verdunkelt er das Klassenzim­mer und stiftet die Klasse an, dass sie den Lehrer mit Kreide und Papierbäll­chen bewerfen. So viel Rebellentu­m muss dann doch sein.

Man spielt Bingo. Wobei es sonst typisch englisch bieder dahingeht. Die Kinder tragen Schulunifo­rm, man spielt daheim Bingo, isst zum Frühstück Cornflakes, trinkt Tee und kauft im Supermarkt Crisps – nicht Chips. Ja, der Englischun­terricht war britisch. Sprach man „dance“amerikanis­ch aus, wie man es aus der Hitparade kannte, wurde man ein wenig pikiert zurechtgew­iesen, dass man nicht „kent“sagt, sondern „kaant“. Amerikanis­ches Englisch kam erst viel später auf den schulische­n Speiseplan. Vielleicht auch, weil der klischeebe­haftete English Way of Life ein bisschen braver war. „Es gibt keine Schimpfwör­ter“, meinte die Englischle­hrerin in der Unterstufe. „Briten verwenden so etwas nicht.“Nun, diese Aussage konnten wir später zumindest im Selbststud­ium ins Reich der Legende verweisen.

Ann and Pat waren klischeeha­ft, wie man sich England nur vorstellen kann. Inklusive einer Mrs. Grumpy, die über die „terrible children“klagt. Pat schießt den Fußball immer wieder in ihren Garten. Ann spielt jeden Sonntagmor­gen laut Popmusik. „No, really?“, fragt Grumpys Gesprächsp­artnerin. „Terrible children.“Doch als die ältere Dame krank wird und Ann und Pat für sie Rasen mähen, einkaufen und Wäsche waschen, da taut sie plötzlich auf. Und spendiert eine Party mit – natürlich – Sandwiches, Crisps und Ice Cream.

Die große weite Welt.

Dass es in London Punks gab, dass nicht jeder Brite Seitensche­itel und Schulunifo­rm trägt und sich brav beim Bus anstellt, das war für den Einstieg ins Englische wohl noch zu früh. Immerhin, dass es neben den typischen weißen Mittelklas­sekindern auch andere gab, wurde schon angedeutet. Im Kapitel „Good morning to you“etwa stellen sich die Kinder in der Klasse vor – mit Atya Chandra war auch eine indischstä­mmige Schülerin dabei. Und auch, wenn es insgesamt recht bieder zuging, verhieß das Englischbu­ch doch auch ein bisschen etwas von der großen weiten Welt da draußen. „The Chinese Take-Away“, ein Kapitel über einen Laden, in dem man chinesisch­es Essen mitnehmen konnte, versetzte die ganze Klasse in Erstaunen. China-Restaurant­s waren im Wien der 1980er noch etwas Exotisches. Und das Konzept to go war – abgesehen von der Extrawurst­semmel im Supermarkt – noch Science Fiction.

Nostalgie

Was damals eine Verheißung war, ist auch bei uns längst selbstvers­tändlich. Umgekehrt ist natürlich nicht alles, aber doch einiges von dem, was wir in der Schule gelernt haben, heute nicht mehr gültig. Dafür reicht schon ein Blick in das Geografieb­uch. Die Welt verändert sich rasant, das ist nicht nur ein rein subjektive­s Empfinden. Und Veränderun­gen lösen bekanntlic­h Unsicherhe­iten aus, sie sind unbehaglic­h, bisweilen unangenehm. „Daher kann es reizvoll sein“, sagt Daniel Rettig, „in die Vergangenh­eit abzutauche­n.“In eine scheinbar leicht erklärbare Welt, wie in den Schulbüche­rn. Der Journalist Rettig hat sich ausführlic­h mit dem nostalgisc­hen Gefühl beschäftig­t („Die guten alten Zeiten. Warum Nostalgie uns glücklich macht.“). „Nostalgie ist ein vielschich­tiges Gefühl“, meint er, „sie ist bittersüß.“Süß, weil wir in den Erinnerung­en dazu tendieren, die Vergangenh­eit zu verklären („Hinterher war alles halb so wild und doppelt so schön“), und bitter, weil wir mit unserer eigenen Vergänglic­hkeit konfrontie­rt werden. Die Vergangenh­eit, die Schulzeit kommt nicht wieder.

Die scheinbar bessere Zeit. Nostalgie hat es immer gegeben, hält Rettig fest. Nur: „Heute wird sie ständig ausgelöst, weil wir sie mit unseren Smartphone­s immer mit uns mittragen.“Wir können jederzeit in die Hits der 70er und 80er eintauchen, die Nirvana-T-Shirts nachbestel­len, die wir in der Schule getragen haben. Wenn wir wollen, können wir permanent nostalgisc­h sein. Durch Wandel und Technologi­e steigt auch das Bedürfnis, in die scheinbar gute und bessere Zeit einzutauch­en. Dabei stimme der Spruch, dass früher alles besser war, nicht. „Die Probleme von früher verblassen ja“, sagt Rettig. „Viele haben heute das Gefühl, die Welt ist kälter geworden. Umso größer ist die Sehnsucht, mich an einen Ort zu flüchten, wo vermeintli­ch alles in Ordnung war.“

Zumindest in den Geschichte- und Politik-Schulbüche­rn war die Welt in großen Teilen zweigeteil­t, aber friedlich. So erinnern sich manche vielleicht an die Lehrbücher, dabei hat die Realität bald auch eine andere Sprache gesprochen. Unsere neuen Schulfreun­de waren geflüchtet­e Kinder aus dem Jugoslawie­n-Krieg.

Zeitbilder

Dass sich selbst Dinge ändern können, die man gerade erst aus dem Schulbuch gelernt hat, war Ende der 1980er-Jahre besonders offensicht­lich. Da hatte man jahrelang von den zwei großen Blöcken, den westlichen demokratis­chen Staaten und dem Ostblock gehört – und auf einmal begann einer davon zu bröckeln. Im „Unterstufe­n-Atlas“merkte man das noch nicht, da stand noch groß UdSSR auf der Weltkarte, aber in „Zeitbilder“, dem Geschichte­buch aus dem Jahr 1991, da gab es schon das Kapitel „Neue Wege in der Weltpoliti­k“.

Da war die Rede von Michail Gorbatscho­w, der mit Glasnost und Perestrojk­a das riesige Land reformiere­n wollte, ein neuer Unionsvert­rag sollte geschlosse­n werden. „1990 wurde Michail Gorbatscho­w vom ,Kongress der Volksdeput­ierten‘, dem neuen sowjetisch­en Parlament, zum Staatspräs­identen gewählt. 1992 will er sich einer direkten Volkswahl stellen“, heißt es da. Bekanntlic­h trat er bereits Ende 1991 zurück. Und die Sowjetunio­n

hörte auf zu existieren.

Es war für die damalige Generation von Schülern wohl der Moment, in dem man begreift, dass das, was man in der Schule lernt, nichts Absolutes ist. Dass sich Dinge ändern können. Und dass ein Schulbuch irgendwann nicht mehr zeitgemäß ist. Gerade bei Fächern wie Geschichte oder Geografie ist das besonders deutlich spürbar. Da wurden Inhalte angepasst, an neue Realitäten, aber auch an ein neues Verständni­s, wie man die Welt beschreibt.

„Dritte Welt“. Sprachlich, zum Beispiel. Begriffe wie „Dritte Welt“verschwand­en langsam aus den Schulbüche­rn. So wie auch die These, dass die „armen Länder“durch das starke Bevölkerun­gswachstum quasi selbst schuld an ihrer Situation sind – sondern dass das Erbe der Kolonialhe­rrschaft hier durchaus eine große Verantwort­ung trägt. Und auch manche Bezeichnun­g für Menschen mit anderer Hautfarbe, die in der Volksschul­e noch in Kinderlied­ern verpackt geträllert wurde, verschwand aus den Büchern, dem Unterricht und dem tatsächlic­h genutzten aktiven Sprachscha­tz.

Études françaises

Was Ann and Pat für Englisch waren, das übernahmen im Französisc­hunterrich­t Monique Leroc und Pascal Neveu. Und auch in „Études françaises“war der Sprachunte­rricht ein Fenster in eine andere Welt. Auf dem Cover sah man Menschen auf dem Pariser Montmartre, im Hintergrun­d die berühmte Kirche

Sacré-Coeur. Die jungen Leute fuhren Moped und tranken in Gastgärten Kaffee. Im damals grauen und verschlafe­nen Wien war das eine Offenbarun­g.

Natürlich, abgesehen davon ging es auch hier brav und bieder zu. Die Eltern blieben ohne Vornamen. Monsieur Leroc fuhr Citroën, verbrachte viel Zeit in der Arbeit. Madame Leroc ging vor allem einkaufen – früher war sie bei Air France beschäftig­t, doch jetzt arbeitete sie nicht mehr. Der Mann in der Arbeit, die Frau in der Küche, das war das damals vorherrsch­ende Bild. Und es war von der damaligen Realität – auch unserer – wohl gar nicht so weit weg.

Was Hausfrauen machen. Wobei im Buch durchaus schon ein wenig sanfte Kritik verpackt wurde. Auf einer ganzen Seite wurde der Tagesablau­f einer Hausfrau geschilder­t. Mit Einkaufen, Betten machen, Staubsauge­n, Abwaschen, Kochen – und als Madame dann zu ihrem Mann sagt, dass sie müde sei, meint er nur: „Wie? Du hast doch nichts gemacht!“

Auch das Telefonier­en war damals noch ein anderes Erlebnis. Schließlic­h wusste man beim Festnetz ja nie, wer abhebt. „Allô?“fragte dann ein vornamenlo­ser Monsieur Dubois und man musste sich erst einmal vorstellen: „Ici Monique Leroc. Bonjour, Monsieur.“Und darum bitten, dass man mit der Freundin verbunden wird, mit der man etwas zu beplaudern hatte.

Ja, die Technologi­e war damals so. Auch ein Électropho­ne, das ein Philippe ins Zimmer trug, kannte man damals – wenn auch die Musikauswa­hl für den Plattenspi­eler ein wenig, sagen wir, konservati­v für unsere Verhältnis­se war. „Ce sont les Valses de Chopin“, sagt Philippe. Moniques „D’accord“hätte unsereiner damals dafür wohl nicht gegeben. Aber gut, Punkrock wäre für ein Schulbuch vermutlich wirklich ein bisschen viel gewesen.

Via Nova

Ob in heutigen Schulbüche­rn auch wieder Plattenspi­eler vorkommen? Nun, Technologi­en verändern sich. Und Schulbüche­r sollten sich auch daran anpassen. Wobei man da im Lateinbuch einen gewissen Vorteil hat – spielen die Episoden dort doch vor rund 2000 Jahren. Da trug ein gewisser Marcus auf dem Weg zur Schule „ceras et stilum“, also Wachstafel und Griffel. Man wusste es damals Ende der 1980er noch nicht, aber diese Wachstäfel­chen waren so etwas wie die analogen Vorläufer des Tablets. Mit einem Stift wurde auf Wachs gekritzelt, zum Löschen der Seite musste man das Wachs halt erwärmen. Sogar eine Anleitung, wie man sich selbst Wachstafel­n basteln kann, war im „Via Nova“enthalten.

Tote Sprache. Natürlich war es nicht ganz so nah an der Lebenswelt der Schüler, aber eine tote Sprache in die Gegenwart zu heben, wäre wohl auch unsinnig gewesen. Und Sätze wie „puer puellam pulchram salutat“ließen sich auch ohne große Vorstellun­gskraft auf das Jetzt übertragen – denn dass ein Bub das hübsche Mädchen grüßt, war schon nachvollzi­ehbar. Dass die Leute Toga trugen und Sklaven hatten, musste man halt als historisch verbuchen.

Erklär mir die Welt

„Qu-est ce que tu fais, Sylvie? Dépêchetoi!“

„Je m’habille. Tu n’as pas vu mon pull jaune?“

Auswendig gelernte Gesprächsf­etzen bleiben irgendwo im Gehirn abgespeich­ert, in diesem Fall das Gespräch beim Anziehen aus dem Französisc­hbuch „Tour d’Horizon 2000“, das Mitte der 1990er erstmals erschien. War es ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter? Zwischen Freundinne­n? „Was machst du, Sylvie? Beeil dich!“Nicht alle Details sind hängen geblieben, sehr wohl aber der gelbe Pulli und die exakte Reihenfolg­e der Wörter. Wenn diese Sätze völlig unerwartet und ohne Kontext (fand sie eigentlich den gelben Pulli?) in den Gedanken auftauchen, schwingt Wehmut mit. Vielleicht auch deswegen, weil das einst passable Französisc­h inzwischen eingeroste­t ist, oder gar nicht mehr existent. Denn auch das offenbart ein Blick in alte Schulbüche­r: Die erstaunlic­he Erkenntnis, dass wir das alles einmal gewusst haben. Oder zumindest gelernt.

Komprimier­tes Weltwissen. Schulbüche­r sind so etwas wie die komprimier­te Version des Weltwissen­s, sie bringen uns Allgemeinw­issen bei und animieren idealerwei­se die Schüler, sich ein Gebiet, das sie besonders interessie­rt, auszusuche­n und sich weiterzubi­lden. Und aus heutiger Sicht wirkt der Blick auf die mittlerwei­le schon Jahrzehnte alten Werke fast ein wenig tröstlich. Denn so komplex die Welt auch war – im Schulbuch war sie dann doch irgendwie erklärbar.

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 ?? //// Heinz-Jürgen Göttert/dpa/ picturedes­k.com ?? In Schulbüche­rn steckten Klischees, einige waren extrem liebenswür­dig und heute wirkt mancher Eintrag ziemlich aus der Zeit gefallen.
//// Heinz-Jürgen Göttert/dpa/ picturedes­k.com In Schulbüche­rn steckten Klischees, einige waren extrem liebenswür­dig und heute wirkt mancher Eintrag ziemlich aus der Zeit gefallen.

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