Die wunderbare Welt der Schulbücher
Sie eröffnen neue Welten, wenn auch manchmal voller Klischees. Sie prägen das Wissen und das Weltbild von Generationen. Und sie erinnern an eine Zeit, als man noch glaubte, die Welt einmal verstehen zu können.
Es wird nicht mehr sehr lang dauern. Die Schüler von morgen werden das nicht mehr haben, was die Schüler von gestern (und heute) in ihren quadratischen Schultaschen durch die Gegend schleppten, die jedes Jahr schwerer wurden und mit dem Schuljahr immer abgegriffener. Die Digitalisierung wird sie irgendwann abschaffen, die Schulbücher. Sie haben das Wissen der Welt, die Komplexität der Erde in wenige Sätze und gesonderte Infokästen verpackt. In Schulbüchern tragen gezeichnete Gladiatoren dicke Sandalen, lässt Goethes Zauberlehrling jedes Jahr die Geister nach seinem Willen leben (Wer kann es noch auswendig?), sind die Grenzen von Ländern eingezeichnet, die vor unseren Augen zusammengefallen sind.
Mit jeder Seite ergaben die Buchstaben und Zahlen im Periodensystem der Elemente mehr Sinn, im Gegensatz zu den Gleichungen im Mathe-Buch, die immer schwieriger wurden. „Wer baute das siebentorige Theben?“, fragte Bertolt Brecht stellvertretend für uns alle im Geschichtebuch. Seltsam, dass wir die Zeichnungen vom Inneren des Ohrs nicht vergessen, obwohl wir uns an die Details vielleicht nicht mehr ganz so genau erinnern. Oder an die Schichten der Erde, von der Kruste über den Mantel bis zum mysteriösen Erdkern. Die Schulbücher haben uns die Welt erklärt, oder haben es zumindest versucht. Eine gewisse Sentimentalität ist für sie immer noch reserviert. Für die Protagonisten im Englischbuch zum Beispiel, deren Namen praktischerweise nur wenige Buchstaben hatten.
„Look, here are Ann and Pat.“„Hello, Sue! Hello, Mark!“„Hello, Ann, hello, Pat.“
Mit Ann and Pat hat die Anglisierung begonnen. „Look . . .“, war der erste Dialog, und der sitzt bis heute. Ann and Pat Blackwell leben in Lincoln, Lincolnshire und sind die englischen Paradegeschwister. Und dann taucht gleich im ersten Kapitel Tricky Dicky auf – Dick Harris aus Schottland, der das brave englische Leben ein bisschen durcheinanderbringt. Zu Unterrichtsbeginn versteckt er sich unter dem Tisch, in einer anderen Episode verdunkelt er das Klassenzimmer und stiftet die Klasse an, dass sie den Lehrer mit Kreide und Papierbällchen bewerfen. So viel Rebellentum muss dann doch sein.
Man spielt Bingo. Wobei es sonst typisch englisch bieder dahingeht. Die Kinder tragen Schuluniform, man spielt daheim Bingo, isst zum Frühstück Cornflakes, trinkt Tee und kauft im Supermarkt Crisps – nicht Chips. Ja, der Englischunterricht war britisch. Sprach man „dance“amerikanisch aus, wie man es aus der Hitparade kannte, wurde man ein wenig pikiert zurechtgewiesen, dass man nicht „kent“sagt, sondern „kaant“. Amerikanisches Englisch kam erst viel später auf den schulischen Speiseplan. Vielleicht auch, weil der klischeebehaftete English Way of Life ein bisschen braver war. „Es gibt keine Schimpfwörter“, meinte die Englischlehrerin in der Unterstufe. „Briten verwenden so etwas nicht.“Nun, diese Aussage konnten wir später zumindest im Selbststudium ins Reich der Legende verweisen.
Ann and Pat waren klischeehaft, wie man sich England nur vorstellen kann. Inklusive einer Mrs. Grumpy, die über die „terrible children“klagt. Pat schießt den Fußball immer wieder in ihren Garten. Ann spielt jeden Sonntagmorgen laut Popmusik. „No, really?“, fragt Grumpys Gesprächspartnerin. „Terrible children.“Doch als die ältere Dame krank wird und Ann und Pat für sie Rasen mähen, einkaufen und Wäsche waschen, da taut sie plötzlich auf. Und spendiert eine Party mit – natürlich – Sandwiches, Crisps und Ice Cream.
Die große weite Welt.
Dass es in London Punks gab, dass nicht jeder Brite Seitenscheitel und Schuluniform trägt und sich brav beim Bus anstellt, das war für den Einstieg ins Englische wohl noch zu früh. Immerhin, dass es neben den typischen weißen Mittelklassekindern auch andere gab, wurde schon angedeutet. Im Kapitel „Good morning to you“etwa stellen sich die Kinder in der Klasse vor – mit Atya Chandra war auch eine indischstämmige Schülerin dabei. Und auch, wenn es insgesamt recht bieder zuging, verhieß das Englischbuch doch auch ein bisschen etwas von der großen weiten Welt da draußen. „The Chinese Take-Away“, ein Kapitel über einen Laden, in dem man chinesisches Essen mitnehmen konnte, versetzte die ganze Klasse in Erstaunen. China-Restaurants waren im Wien der 1980er noch etwas Exotisches. Und das Konzept to go war – abgesehen von der Extrawurstsemmel im Supermarkt – noch Science Fiction.
Nostalgie
Was damals eine Verheißung war, ist auch bei uns längst selbstverständlich. Umgekehrt ist natürlich nicht alles, aber doch einiges von dem, was wir in der Schule gelernt haben, heute nicht mehr gültig. Dafür reicht schon ein Blick in das Geografiebuch. Die Welt verändert sich rasant, das ist nicht nur ein rein subjektives Empfinden. Und Veränderungen lösen bekanntlich Unsicherheiten aus, sie sind unbehaglich, bisweilen unangenehm. „Daher kann es reizvoll sein“, sagt Daniel Rettig, „in die Vergangenheit abzutauchen.“In eine scheinbar leicht erklärbare Welt, wie in den Schulbüchern. Der Journalist Rettig hat sich ausführlich mit dem nostalgischen Gefühl beschäftigt („Die guten alten Zeiten. Warum Nostalgie uns glücklich macht.“). „Nostalgie ist ein vielschichtiges Gefühl“, meint er, „sie ist bittersüß.“Süß, weil wir in den Erinnerungen dazu tendieren, die Vergangenheit zu verklären („Hinterher war alles halb so wild und doppelt so schön“), und bitter, weil wir mit unserer eigenen Vergänglichkeit konfrontiert werden. Die Vergangenheit, die Schulzeit kommt nicht wieder.
Die scheinbar bessere Zeit. Nostalgie hat es immer gegeben, hält Rettig fest. Nur: „Heute wird sie ständig ausgelöst, weil wir sie mit unseren Smartphones immer mit uns mittragen.“Wir können jederzeit in die Hits der 70er und 80er eintauchen, die Nirvana-T-Shirts nachbestellen, die wir in der Schule getragen haben. Wenn wir wollen, können wir permanent nostalgisch sein. Durch Wandel und Technologie steigt auch das Bedürfnis, in die scheinbar gute und bessere Zeit einzutauchen. Dabei stimme der Spruch, dass früher alles besser war, nicht. „Die Probleme von früher verblassen ja“, sagt Rettig. „Viele haben heute das Gefühl, die Welt ist kälter geworden. Umso größer ist die Sehnsucht, mich an einen Ort zu flüchten, wo vermeintlich alles in Ordnung war.“
Zumindest in den Geschichte- und Politik-Schulbüchern war die Welt in großen Teilen zweigeteilt, aber friedlich. So erinnern sich manche vielleicht an die Lehrbücher, dabei hat die Realität bald auch eine andere Sprache gesprochen. Unsere neuen Schulfreunde waren geflüchtete Kinder aus dem Jugoslawien-Krieg.
Zeitbilder
Dass sich selbst Dinge ändern können, die man gerade erst aus dem Schulbuch gelernt hat, war Ende der 1980er-Jahre besonders offensichtlich. Da hatte man jahrelang von den zwei großen Blöcken, den westlichen demokratischen Staaten und dem Ostblock gehört – und auf einmal begann einer davon zu bröckeln. Im „Unterstufen-Atlas“merkte man das noch nicht, da stand noch groß UdSSR auf der Weltkarte, aber in „Zeitbilder“, dem Geschichtebuch aus dem Jahr 1991, da gab es schon das Kapitel „Neue Wege in der Weltpolitik“.
Da war die Rede von Michail Gorbatschow, der mit Glasnost und Perestrojka das riesige Land reformieren wollte, ein neuer Unionsvertrag sollte geschlossen werden. „1990 wurde Michail Gorbatschow vom ,Kongress der Volksdeputierten‘, dem neuen sowjetischen Parlament, zum Staatspräsidenten gewählt. 1992 will er sich einer direkten Volkswahl stellen“, heißt es da. Bekanntlich trat er bereits Ende 1991 zurück. Und die Sowjetunion
hörte auf zu existieren.
Es war für die damalige Generation von Schülern wohl der Moment, in dem man begreift, dass das, was man in der Schule lernt, nichts Absolutes ist. Dass sich Dinge ändern können. Und dass ein Schulbuch irgendwann nicht mehr zeitgemäß ist. Gerade bei Fächern wie Geschichte oder Geografie ist das besonders deutlich spürbar. Da wurden Inhalte angepasst, an neue Realitäten, aber auch an ein neues Verständnis, wie man die Welt beschreibt.
„Dritte Welt“. Sprachlich, zum Beispiel. Begriffe wie „Dritte Welt“verschwanden langsam aus den Schulbüchern. So wie auch die These, dass die „armen Länder“durch das starke Bevölkerungswachstum quasi selbst schuld an ihrer Situation sind – sondern dass das Erbe der Kolonialherrschaft hier durchaus eine große Verantwortung trägt. Und auch manche Bezeichnung für Menschen mit anderer Hautfarbe, die in der Volksschule noch in Kinderliedern verpackt geträllert wurde, verschwand aus den Büchern, dem Unterricht und dem tatsächlich genutzten aktiven Sprachschatz.
Études françaises
Was Ann and Pat für Englisch waren, das übernahmen im Französischunterricht Monique Leroc und Pascal Neveu. Und auch in „Études françaises“war der Sprachunterricht ein Fenster in eine andere Welt. Auf dem Cover sah man Menschen auf dem Pariser Montmartre, im Hintergrund die berühmte Kirche
Sacré-Coeur. Die jungen Leute fuhren Moped und tranken in Gastgärten Kaffee. Im damals grauen und verschlafenen Wien war das eine Offenbarung.
Natürlich, abgesehen davon ging es auch hier brav und bieder zu. Die Eltern blieben ohne Vornamen. Monsieur Leroc fuhr Citroën, verbrachte viel Zeit in der Arbeit. Madame Leroc ging vor allem einkaufen – früher war sie bei Air France beschäftigt, doch jetzt arbeitete sie nicht mehr. Der Mann in der Arbeit, die Frau in der Küche, das war das damals vorherrschende Bild. Und es war von der damaligen Realität – auch unserer – wohl gar nicht so weit weg.
Was Hausfrauen machen. Wobei im Buch durchaus schon ein wenig sanfte Kritik verpackt wurde. Auf einer ganzen Seite wurde der Tagesablauf einer Hausfrau geschildert. Mit Einkaufen, Betten machen, Staubsaugen, Abwaschen, Kochen – und als Madame dann zu ihrem Mann sagt, dass sie müde sei, meint er nur: „Wie? Du hast doch nichts gemacht!“
Auch das Telefonieren war damals noch ein anderes Erlebnis. Schließlich wusste man beim Festnetz ja nie, wer abhebt. „Allô?“fragte dann ein vornamenloser Monsieur Dubois und man musste sich erst einmal vorstellen: „Ici Monique Leroc. Bonjour, Monsieur.“Und darum bitten, dass man mit der Freundin verbunden wird, mit der man etwas zu beplaudern hatte.
Ja, die Technologie war damals so. Auch ein Électrophone, das ein Philippe ins Zimmer trug, kannte man damals – wenn auch die Musikauswahl für den Plattenspieler ein wenig, sagen wir, konservativ für unsere Verhältnisse war. „Ce sont les Valses de Chopin“, sagt Philippe. Moniques „D’accord“hätte unsereiner damals dafür wohl nicht gegeben. Aber gut, Punkrock wäre für ein Schulbuch vermutlich wirklich ein bisschen viel gewesen.
Via Nova
Ob in heutigen Schulbüchern auch wieder Plattenspieler vorkommen? Nun, Technologien verändern sich. Und Schulbücher sollten sich auch daran anpassen. Wobei man da im Lateinbuch einen gewissen Vorteil hat – spielen die Episoden dort doch vor rund 2000 Jahren. Da trug ein gewisser Marcus auf dem Weg zur Schule „ceras et stilum“, also Wachstafel und Griffel. Man wusste es damals Ende der 1980er noch nicht, aber diese Wachstäfelchen waren so etwas wie die analogen Vorläufer des Tablets. Mit einem Stift wurde auf Wachs gekritzelt, zum Löschen der Seite musste man das Wachs halt erwärmen. Sogar eine Anleitung, wie man sich selbst Wachstafeln basteln kann, war im „Via Nova“enthalten.
Tote Sprache. Natürlich war es nicht ganz so nah an der Lebenswelt der Schüler, aber eine tote Sprache in die Gegenwart zu heben, wäre wohl auch unsinnig gewesen. Und Sätze wie „puer puellam pulchram salutat“ließen sich auch ohne große Vorstellungskraft auf das Jetzt übertragen – denn dass ein Bub das hübsche Mädchen grüßt, war schon nachvollziehbar. Dass die Leute Toga trugen und Sklaven hatten, musste man halt als historisch verbuchen.
Erklär mir die Welt
„Qu-est ce que tu fais, Sylvie? Dépêchetoi!“
„Je m’habille. Tu n’as pas vu mon pull jaune?“
Auswendig gelernte Gesprächsfetzen bleiben irgendwo im Gehirn abgespeichert, in diesem Fall das Gespräch beim Anziehen aus dem Französischbuch „Tour d’Horizon 2000“, das Mitte der 1990er erstmals erschien. War es ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter? Zwischen Freundinnen? „Was machst du, Sylvie? Beeil dich!“Nicht alle Details sind hängen geblieben, sehr wohl aber der gelbe Pulli und die exakte Reihenfolge der Wörter. Wenn diese Sätze völlig unerwartet und ohne Kontext (fand sie eigentlich den gelben Pulli?) in den Gedanken auftauchen, schwingt Wehmut mit. Vielleicht auch deswegen, weil das einst passable Französisch inzwischen eingerostet ist, oder gar nicht mehr existent. Denn auch das offenbart ein Blick in alte Schulbücher: Die erstaunliche Erkenntnis, dass wir das alles einmal gewusst haben. Oder zumindest gelernt.
Komprimiertes Weltwissen. Schulbücher sind so etwas wie die komprimierte Version des Weltwissens, sie bringen uns Allgemeinwissen bei und animieren idealerweise die Schüler, sich ein Gebiet, das sie besonders interessiert, auszusuchen und sich weiterzubilden. Und aus heutiger Sicht wirkt der Blick auf die mittlerweile schon Jahrzehnte alten Werke fast ein wenig tröstlich. Denn so komplex die Welt auch war – im Schulbuch war sie dann doch irgendwie erklärbar.