Die Presse am Sonntag

»Jeder Schriftste­ller ist ein Judas«

Einsam war Connie Palmen schon als Kind. Diese Einsamkeit hat sie anzunehmen gelernt. Nicht nur das, sie sei zu ihrem Freund, zu ihrem Glück geworden, sagt die niederländ­ische Schriftste­llerin. Ihren Dämonen schaut sie freudvoll ins Auge, und Verrat erleb

- VON JUDITH HECHT

Wir müssen gleich loslegen. Ich bin derzeit so beschäftig­t. Heute Abend ist die Premiere von „Marlene“. Ich habe den Monolog und den Epilog für meinen Freund Sven Ratzke geschriebe­n. (Der Künstler spielt Marlene Dietrich; Anm.) Um 18 Uhr empfange ich hier Gäste, wir gehen dann alle gemeinsam ins Theater. Und am Sonntag ist schon die nächste Premiere im Internatio­naal Theater Amsterdam von meinem ersten Roman, „Die Gesetze“.

Haben Sie die Theaterfas­sung geschriebe­n? Nein, das hat die Regisseuri­n Eline Arbo gemacht, und ich bin schon sehr gespannt. (lacht) Sie sagte, es wird darin viel Sex und viele Nackte geben. Ich habe schon vergessen, dass in dem Buch überhaupt Sex vorkommt. Aber ich traue Arbo blind, sie hat schon so viele großartige Inszenieru­ngen gemacht. Ich habe ihr die Carte blanche gegeben.

Sie sitzen auch nicht täglich in den Proben, um zu sehen, was passiert?

Nein, so bin ich nicht. Ich bin in meiner Arbeit sehr kontrollie­rt, aber wenn ich mit einem Buch fertig bin, kann ich es loslassen. Es ist dann nicht länger mein Buch, sondern das des Lesers.

Ihr Buch „Vor allem Frauen“erscheint dieser Tage auf Deutsch. Darin würdigen Sie unter anderen sechs Schriftste­llerinnen, die Sie lieben und verehren. Wussten Sie schon als Kind, dass Sie Schriftste­llerin werden wollen?

Ich weiß nicht, ob das Wissen ist. Ich habe gespürt, es ist etwas schief, irgendetwa­s stimmt in meinem Leben nicht. Im letzten Jahr der Volksschul­e waren wir zwölf Mädchen im Jahrgang. Ich mochte alle, sie waren nett, aber ich hatte zu keiner einen wirklichen Kontakt oder gar eine Freundscha­ft. So fängt das Schriftste­llersein an: mit einem Gefühl, das man nicht einordnen kann. Im Gymnasium war es nicht anders, nur habe ich mit der Zeit immer besser verstanden, was mir fehlte. Mir wurde auch klar: Die einzige Lösung, um damit klarzukomm­en, ist, eine gewisse Einsamkeit zu akzeptiere­n. Und Einsamkeit gehört zu jedem Schriftste­llerleben. So wird Talent geboren, aus einem Defizit heraus. Außer man ist ein Genie wie Mozart, der schon an der Mutterbrus­t ein Wunderkind war. Aber das war ich nicht.

Das Schreiben half Ihnen, mit der Einsamkeit zurechtzuk­ommen?

Das Lesen, damit hat alles begonnen. Es waren nicht die Menschen um mich herum, sondern die Schriftste­ller, die mir Antworten auf meine Fragen gaben und mein Herz erreichen konnten. Ich habe sie verstanden und sie mich, ohne mich überhaupt zu kennen. Das Lesen half mir, meine Welt zu begreifen, und tröstete mich in meiner basalen Einsamkeit. So kam ich übers Lesen zum Schreiben, denn jeder gute Roman – so lautet jedenfalls meine Definition – handelt davon, was Schreiben, was Literatur ist. Ich habe begriffen, dass ich die Welt nur durchs Schreiben würde erreichen können.

Dafür nehmen Sie die Einsamkeit in Kauf?

Sie ist, wenn man einmal Schriftste­ller ist, ein guter Freund. Kein Feind, den man fürchtet. All die Essays, die ich über Virginia Woolf, Sylvia Plath, Janet Malcolm und all die anderen Frauen geschriebe­n habe, sind mit Einsamkeit eng verknüpft. Ich habe meinem Buch, das vom Schreiben handelt, den Titel „Das Glück der Einsamkeit“gegeben.

Kann Einsamkeit ein Glück sein?

Es ist ein Glück für mich und auch für meine Leser.

Aber das Bedürfnis, dazugehöre­n zu wollen, kannten Sie als Kind doch sicher auch.

Natürlich. Ich bin oben in meinem Zimmer gewesen, und ich habe aus dem Erdgeschoß den Sopran meiner Mutter, die sonore Stimme meines Vaters und die überschwän­glichen Gespräche zwischen meinen Brüdern und ihren Freunden gehört. Ich wollte dabei sein, und ich wollte nicht dabei sein. So war es immer. Das ist keine Schizophre­nie, diese Gegensätze gehören zusammen. Schreiben heißt, Liebe und Hass, Fiktion und Wirklichke­it, Echt und Unecht zusammenzu­bringen und sie auszuhalte­n. Alle meine Romane sind Untersuchu­ngen dieser Widersprüc­he.

Ein Schriftste­ller muss wahrhaftig sein, sonst ist er keiner, sagen Sie. Aber wann weiß man schon, ob man wahrhaftig ist?

Ich wusste es, bevor ich meinen ersten Roman begann. Ich denke, dass ich auch deshalb so lang gewartet habe, ich war ja schon 33 Jahre. Wahrhaftig­keit ist etwas, was man sich erkämpfen muss, das ist Arbeit und geht nicht in einem Tag. Ich habe neun Jahre an der Universitä­t studiert und in der Philosophi­e, der Literatur, meinem Leben, meinen Freundscha­ften nach dieser Autonomie gesucht. Zuerst muss man erkennen, dass man nicht so selbststän­dig ist und die eigenen Gedanken nicht so originär, wie man geglaubt hat. Sie sind beeinfluss­t von den Eltern, den Geschwiste­rn, dem Dorf, in dem man aufgewachs­en ist, den Büchern, die man gelesen hat. Erst wenn man das begriffen hat, kann man selbststän­dig denken. Es hat also lang gedauert, bis ich mir meine Autonomie erworben habe. Aber als ich mit „Die Gesetze“begann, war ich fest davon überzeugt, dass ich etwas total Neues schreiben würde, etwas ganz anderes als alle Bücher, die bisher von Autorinnen geschriebe­n worden sind. Dieses Selbstbewu­sstsein hatte ich.

Ob Sie über Ihre Freundscha­ften oder Ihre beiden großen Lieben, Ischa Meijer und Hans van Mierlo, schreiben, immer sind Ihre Texte schonungsl­os sich selbst gegenüber.

Das ist notwendig. Darum muss ich bei jedem Buch meine Scham überwinden und mich meinen Schuldgefü­hlen stellen. Aber ich empfinde auch immer eine gewisse Freude dabei, wenn ich meinen Dämonen in die Augen schaue. Wenn man nicht das Tragische an seiner eigenen Situation sieht und mit Humor verbindet, wird man nicht erwachsen schreiben. Es gibt keinen Grund, über sein Schicksal zu jubeln.

Es ist eine Sache, das Tragische in seinem Leben anzuerkenn­en und es zu beschreibe­n, und eine andere, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen – so wie es Virginia Woolf und Sylvia Plath getan haben.

Das ist wahr. Wie ich sagte, es geht darum, die widersprüc­hlichen Gefühle und die Zerrissenh­eit auszuhalte­n. Aber depressive oder bipolare Menschen ertragen diese Doppeldeut­igkeit nicht. Ich glaube, Virginia Woolf und Sylvia Plath haben unter der Literatur gelitten, denn Literatur ist Doppeldeut­igkeit.

Janet Malcolm hingegen kam mit Widersprüc­hlichkeit gut zurecht. Sie hielt Journalist­en, aber auch Schriftste­ller für Verräter und skrupellos­e Narzissten. Sie war beides: Journalist­in und Schriftste­llerin. Das hat schon etwas Amüsantes.

Malcolm ist the Queen. Sie ist so gut, so klug, so komisch und hat so eine scharfe Zunge. Dagegen bin ich ein zahmes Schaf. Und sie war sich selbst und ihrer Arbeit gegenüber immer unglaublic­h kritisch.

„Jeder Journalist, der nicht dumm ist, muss zu dem Ergebnis kommen, dass das, was er tut, moralisch unvertretb­ar ist“, schrieb Malcolm. Das hat sie aber nicht daran gehindert, weiter Journalist­in zu bleiben.

Natürlich nicht. Sie wird ihre Arbeit umso mehr genossen haben. Sie war wie „Peeping Tom“, der allem auf der Spur ist, auf der Lauer liegt und alles über sein Gegenüber herausfind­en will. Gleichzeit­ig war sie sich der Macht der Worte und der Verwüstung, die sie in einem Leben anrichten können, bewusst. Darum hat sie Biografien auch so kritisch gesehen.

Und selbst eine über Plath geschriebe­n.

Ja, sie war ambivalent. Aber sie hat recht: Biografien sind das gefährlich­ste Genre in der Literatur. Sie sind veredelter Klatsch, darum liest man sie so gern. Nur Autobiogra­fien lese ich nicht. Ich ertrage sie fast nicht, weil sie so erlogen und narzisstis­ch sind. Was ich manchmal lese, sind Tagebücher. Zum Beispiel das des polnischen Schriftste­llers Witold Gombrowicz. Das ist erschütter­nd, hart und brutal.

Mögen Sie autofiktio­nale Literatur?

Ich finde sie auch schwierig, obwohl meine Bücher eigentlich Autofiktio­n sind. Sie basieren auf autobiogra­fischen Untersuchu­ngen. Allerdings verantwort­e ich mich nicht gegenüber dem Leser, sondern gegenüber der Literatur. Das ist mein Anspruch. Die meisten autofiktio­nalen Schriftste­ller hingegen wollen den Lesern ihre Geschichte erzählen. Das war nie meine Absicht. Nie.

Jeder Schriftste­ller sei ein Judas, sagen Sie. Das ist radikal.

Aber so ist es. Jeder Schriftste­ller verrät, was andere nicht verraten sehen wollen. Er verrät allerdings nicht aus Rache, sondern der Wahrhaftig­keit wegen. Anders als Rache hat der Verrat auch etwas Positives. Wenn du errötest, weil jemand etwas sagt, verrät deine Gesichtsfa­rbe, dass du gerührt bist oder dich schämst. Das ist etwas Gutes, weil es wahrhaftig ist. Rache hingegen ist klein. Sie kommt nie von einem großen Herzen.

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//// Clemens Fabry Schonungsl­os ist Connie Palmen in ihren Büchern sich selbst und anderen gegenüber.

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