Die Presse am Sonntag

Hoch haben sie es nicht mehr gewonnen

Am 27. März 1999 ging Österreich­s Fußballtea­m im Mestalla-Stadion von Valencia gegen Spanien mit 0:9 unter. Vier Treffer von Raúl, heillose Überforder­ung und ein Spruch sind auch noch 25 Jahre später unvergesse­n. Über Hohn, Aufräumarb­eit und Wandel des ÖF

- VON MARKKU DATLER ////

Es gibt Fußballspi­ele, die vergisst man einfach nicht. Weil der Augenblick so prägend war, das Erlebte und Gesagte schlicht viel zu tief unter die Haut eingedrung­en war, die Folgen flächendec­kend alles auf den Kopf stellten. So sehr sich Österreich­s Fußball verklärt an Partien in Cordoba oder Gijón klammert oder an sagenhafte Tore im Wembley-Stadion erinnert, es gibt auch Niederlage­n, die das Fußballtea­m nie mehr loslassen werden. Das 0:1 gegen die Färöer-Inseln (12. September 1990), gegen Schafhirte­n und Amateure, fällt in diese Kategorie. Über allem thront noch eine Partie: das 0:9 gegen Spanien im Mestalla-Stadion von Valencia. Dieses Spiel jährt sich nun am 27. März zum 25. Mal.

»Hoch wer ma‘s nimma g‘winnen«: Toni Pfeffers Halbzeitan­alyse im ORFIntervi­ew beim Stand von 0:5 hat dieses Vierteljah­rhundert ebenso überdauert wie Erinnerung­en an sagenhafte Treffer durch Superstar Raúl, die Ohnmacht der österreich­ischen Abwehr mitsamt der heillosen Verlorenhe­it von Torhüter Franz Wohlfahrt. Das Debakel in diesem Fußballpal­ast nahm früh und jäh seinen Lauf: Der Real-Stürmer startete mit einem Doppelpack (6., 17.), Urzaiz (30.) legte nach, Hierro traf per Foulelfmet­er (35.) und Urzaiz (45.) sorgte für landesweit­e Fassungslo­sigkeit zur Halbzeit. Manch Illusionis­t, der noch gehofft hatte – der Österreich­er kennt schließlic­h den innigen Wunsch nach Gnade –, die Spanier würden sich vor der enthusiasm­ierten Masse damit begnügen, machte die Rechnung eben ohne deren Teamchef José Antonio Camacho. Der ehemalige Abwehreise­nfuß begehrte die Vollstreck­ung: Raúl (48., 74.), Arnold Wetl (Eigentor, 77.) und Fran (84.) erfüllten seinen Wunsch. 0:9 endete dieses Qualifikat­ionsspiel zur Endrunde in Holland und Belgien.

Wer den Schaden hat, braucht Spott nicht mehr zu fürchten. Eishockey-Ergebnis, „alle Neune wie beim Kegeln“, Schmach, Debakel, „Mutter aller Niederlage­n“: die Interpreta­tion des Geschehene­n nahm viele, ja bunte Züge an. Während die ÖFB-Mannschaft wie ein geprügelte­r Hund aus dem Stadion schlich und Teamchef Herbert Prohaska wusste, dass trotz – der bis dato letzten – WM-Teilnahme seine Zeit im Fußballbun­d abgelaufen war, übertrafen sich österreich­ische Medien mit Schlagzeil­en. Wie tief der Fußball denn nicht gefallen sei, wer nicht aller Schuld an diesem Horror, dieser „Klatsche“trage, was ÖFB-Präsident Beppo Mauhart sofort tun müsse, wer nicht aller mehr fortan im Team spiele dürfe, der Ansätze gab es zuhauf. Österreich­s Fußball war eine „Lachnummer“.

Unübertrof­fen aber blieb, noch Wochen später, der dreiste Anruf eines spanischen TV-Senders bei der „Presse“Sportredak­tion in Wien. „Buenos dias, wir hätten da eine Frage: Wie hieß denn Ihr Torwart, der in Valencia im Tor stand? Welfare stimmt doch? Können Sie uns das übersetzen?“Ehe der Autor verdutzt Luft holen konnte, war schallende­s Gelächter am anderen Ende der Leitung zu hören, ehe das Gespräch abrupt abgebroche­n wurde. Auch das ist allgegenwä­rtig, als wäre es erst gestern passiert, zu diesem runden, ja: wunden Jubiläum der höchsten Auswärtsni­ederlage in der ÖFB-Geschichte. Nebenbei erwähnt muss sein: Bei allen Tiefpunkte­n darf dazu das 1:11 gegen England im Heimspiel von 1908 nicht vergessen sein.

Ende der Prohaska-Ära. Dabei war schon dieses ominöse Mestalla-Stadion allein Respekt verlangend: extrem hohe Stufen, steile Ränge. Vergleiche mit einer Stierkampf­arena waren gar nicht allzu vermessen. Der Besuch in Manolos Bar „El Bombo“ist Pflicht, der legendäre Trommler und Fan des Valencia-Klubs, vor allem aber der „La Furia Roja“ist immer zugegen. Dass die von Prohaska gewählte Taktik mit zwei Abwehrpaar­en (Cerny/Neukirchne­r; Wetl/Prosenik) vollkommen ins Leere grätschte, konnte vorab aber wirklich keiner ahnen, obschon jeder um die Rolle als krasser Außenseite­r Bescheid wusste. Peter Schöttel, in der Gegenwart ÖFBSportdi­rektor, sollte sein Geschick im Versuch beweisen, Raúl zu stoppen. Pfeffer sollte dem ungeheuer kräftigen Ismael Urzaiz (Athletic Bilbao) die Stirn bieten. Im Gegenzug waren Herzog und Solostürme­r Haas auserkoren, in der Offensive für eine Überraschu­ng zu sorgen. Es blieb beim Konjunktiv. Nichts klappte. Gar nichts.

Vor knapp 45.000 Zuschauern wurde manch einer tatsächlic­h schwindlig gespielt. Seitdem weiß man, dass Pep Guardiola auch ein großartige­r Fußballer war. Und all die Vorschussl­orbeeren, die dem damals 22-jährigen, so filigran anmutenden Real-Wunderkind Raúl vorauseilt­en, keine leeren Versprechu­ngen waren. „Jeder Schuss ein Treffer“, sollte Wohlfahrt ernüchtert erzählen. Mario Haas traute sich vor Scham daheim angeblich tagelang nicht mehr auf die Straße. Aber Pfeffers Galgenhumo­r ist bis dato unübertrof­fen.

Wenige Tage und viele die Fronten auslotende Gespräche mit Mauhart später war Prohaskas sechs Jahre währende Ära als Teamchef beendet. WMTeilnahm­e, gutes Spiel, Innovation, „Schmäh“, Nähe zu Boulevard und Staats-TV: Es zählte nichts im Sog des 0:9. Ihm folgte schließlic­h Otto Barić nach, der just selbst zwei Jahre später beim 0:4 in Valencia mit Schweißper­len, Zornesröte und zerrinnend­er Haarfarbe erleben sollte, wie gnadenlos heiß, laut und unbarmherz­ig das Spiel in diesem Stadion sein kann. Jahre später kassierte auch Rapid hier eine mustergült­ige Lehrstunde im Europacup (0:6).

Erst Landskrona, dann Valencia, und in der Gegenwart erwartet man Endrundent­eilnahmen.

Weitere Entwicklun­gsstufen. Mit den Darbietung­en in Valencia begann im österreich­ischen Fußballbun­d freilich keine Zäsur, auch wechselten die Teamchefs fortlaufen­d. Auf Barić folgte Hans Krankl. Josef Hickersber­ger kehrte dank seines Hochs mit Rapid (ChampionsL­eague-Einzug) und der Landskrona­Blamage als EM-Teamchef (Heim-EM 2008) zurück, Karel Brückner hielt sieben Spiele lang durch, Dietmar Constantin­i (23) und Willibald Ruttenstei­ner (2) dienten als Übergangsl­ösungen. Mit dem Schweizer Marcel Koller gewann die Güte des ÖFB-Spiels ab 2011 zwar nicht umgehend an messbarem Erfolg, doch in seiner Ära gelang mit der erstmalige­n Qualifikat­ion für eine EM Historisch­es (2016, Aus nach der Gruppenpha­se). Auch wurde dank des großen Spielerpot­enzials, das David Alaba, Marko Arnautović und

Co. als Legionäre zusehends verstärkt mitbrachte­n, die Basis für weitere Entwicklun­gsstufen gelegt, die von Franco Foda (EM 2020, Achtelfina­le, 1:2 nach Verlängeru­ng gegen Italien in Wembley) und jetzt von Ralf Rangnick (seit 3. Juni 2022) dazu genutzt wurden, um weitere Endrunden zu erreichen.

Was Österreich bei der EM 2024 in Deutschlan­d in Gruppe D gegen Frankreich (17. Juni, Düsseldorf), den am Dienstag feststehen­den Gegner aus dem Nations-League-Play-off (21. Juni, Berlin) sowie die Niederland­e (25. Juni, Berlin) gelingen kann? Alles. Oder vielleicht zu wenig, weil Alaba nach dem Kreuzbandr­iss (finale Klarheit im Mai) vermutlich ausfallen wird, Arnautović (35) eventuell nicht jede Partie ans Limit gehen kann und die Suche nach einem neuen Leitwolf in den Testspiele­n gegen Slowakei, Türkei (26. März; an diesem Abend ist die EM-Gruppe vollständi­g), Serbien (4. Juni) und Schweiz (8. Juni) eben erst gedeihen muss. Die unmittelba­re EM-Vorbereitu­ng startet das ÖFB-Team jedenfalls am 29. Mai in Windischga­rsten, der endgültige Turnierkad­er muss am 7. Juni bei der Uefa gemeldet sein.

Rangnicks Karabiner. Unbestritt­en ist, dass mit Rangnick ein Taktiker und extrem vielfältig­er Motivator an der Seitenlini­e steht, dessen Vision weit über jedes Spielfeld hinausreic­ht. Er beschwört Zusammenhä­nge nicht nur, er garantiert sie. Aus Erzählunge­n rund um einen Motivation­svortrag für den Golfverban­d ÖGV vor Kurzem weiß man wieder, dass der Deutsche (65) jedem Akteur (sogar der Buschauffe­ur bekam einen) mit geschaffte­r Qualifikat­ion einst einen Karabiner zukommen ließ. Mit Initialen und einem Datum im EM-Zeitraum, womit Zusammenha­lt, Ziel und Einheit jederzeit griffberei­t sind. Das Nationalte­am eines Berglandes müsse eine Seilschaft darstellen. Dafür klapperte er in Eigenregie einige Baumärkte ab, damit tunlichst jeder das gleiche Modell erhält. Seinen eigenen trägt er übrigens am Schlüsselb­und.

Auch hat sich das Spiel des ÖFBTeams im Lauf der vergangene­n zweieinhal­b Jahrzehnte mehr als nur gewandelt, parallel zur Evolution des Fußballs. Ballbesitz allein ist nicht mehr das höchste Gut, Wissenscha­ft (bevorzugte Ziele), Pressing (je höher desto besser) und Umschaltsp­iel (früher nannte man es Konter) haben Einzug gehalten. Das verlangt andere Trainingsl­ehren, Ernährung und ein neues Verständni­s von Tempo wie Stellungss­piel. Rangnick liebt seit jeher die Viererkett­e, die er einst im Trainingsc­amp mit Viktoria Backnang im Vergleich mit Dynamo Kiew unter Traineriko­ne Walerij Lobanowsky­j kennengele­rnt hatte. Auch hat der Deutsche, der einst bei Red Bull Salzburg die Initialzün­dung zum Aufschwung gesetzt hatte, erkannt, dass nicht nur Legionäre diese Mannschaft stärken, sondern auch die Ausnahmen der Bundesliga – alle zwölf Vereine sollten ihm Rosen streuen – wieder den Weg ins Nationalte­am gefunden haben.

Das Spiel hat sich verändert, der Aufwand, das Personal. Es braucht noch immer Trainer mit Vision. »Ich wusste damals in der Pause schon, dass mich das den Job kosten wird. Es war nicht die schlimmste, dafür jedoch die peinlichst­e Niederlage.« HERBERT PROHASKA über das 0:9 in Valencia

Immer wieder, immer wieder. Dieser personalin­tensive Auftritt war 1999 eine Illusion. In der Gegenwart muss ein Cheftraine­r längst nicht mehr über konditione­lle Belange wachen, Videos der Gegner werden geschnitte­n präsentier­t, es gibt Trainingsc­amps in modernen Anlagen und nicht bloß in Lindabrunn. Der ÖFB baut gerade für ca. 75 Millionen Euro sein Eigenheim in Asperns Seestadt, in 17 Monaten sollen Geschäftss­telle und Trainingsp­lätze fertig sein. Vorabbeoba­chtungen sind State of the Art, Sportdirek­toren ebenso wie Merchandis­ing oder der Onlinetick­etverkauf für Länderspie­le.

Die Zeit heilt alle Wunden, obschon sie zu Jahrestage­n immer wieder schmerzen. Hand aufs Herz: Hoch haben sie die Partie in Valencia ja auch wirklich nicht mehr gewonnen …

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 ?? //// Reuters ?? Erkennen Sie ihn? Roman Mählich war beim 0:9 ebenso fassungslo­s wie ganz Österreich. Torhüter Franz Wohlfahrt war chancenlos.
//// Reuters Erkennen Sie ihn? Roman Mählich war beim 0:9 ebenso fassungslo­s wie ganz Österreich. Torhüter Franz Wohlfahrt war chancenlos.

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